Every time I hear sounds, I see pictures. Then, I start getting ideas. It just drives me crazy. (David Lynch)
Einige Überlegungen und Gedanken zu Storytelling, Erzählwelten und Geräuschen. Mit Beispielen aus Musik, Film und Klangkunst.

Wer hört das Bild?
*schepper*
Ein Erikativ. Ein besonders schöner, wie ich finde. Aus dem Blog des geschätzten Herrn Buddenbohm gezupft, in dem er über den Erikativ und sein Liebesleben schrieb. Ich fand den Beitrag, als ich nach einem schönen Erklär-Link für den Erikativ suchte. Als Erikativ werden auf den Wortstamm verkürzte Verben bezeichnet, benannt nach Erika Fuchs (1906-2005), unvergessene Übersetzerin der Disney-Comics. Für Geräusche oder auch Lautloses, das im Bild schwer fassbar war, benutzte sie stöhn, seufz, grübel oder klimper. Mit Erikativen können wir Texte und Bilder zum Klingen bringen. Und was wäre Twitter ohne Erikativ? #aufjaul
*brumm*
Wie bei allem entscheidet die Dosis. Kaum etwas enerviert mich mehr als die mit Sound und Musik zugematschten Dokumentationen oder Filme. Unentwegte Überbetonung lässt abstumpfen – oder die Flucht ergreifen. Geräusche (wie auch Gerüche) nehmen wir oft erst dann wahr, wenn sie störend sind. Oder in Momenten, in denen wir unsere Umgebung bewusst wahrnehmen.
Doch über Geräusche verorten wir uns, emotional und ganz praktisch. Den Heimweg vom Büro vermag ich beinahe mit geschlossenen Augen zu finden, am Geräusch meiner Schritte auf unterschiedlichem Untergrund, da vorn, spielende Kinder, links hinten sagt die Glocke von St. Agnes die Tageszeit an, hier die stilleren Wohnstraßen, dort vorn die große Straße, die je nach Tag und Zeit auch immer anders klingt … Sobald ein Sinn geschwächt wird, werden andere Sinne schärfer.
Wie klingt der Sommer?
Wie klingt Deine Stadt, Dein Dorf?
Welche Geräusche macht Dein Lieblingsort, der Ort, an dem Du Dich sicher und geborgen fühlst?
Schließe Deine Augen und hör’ hin …
Stille.
Stille ist Stille ist Stille? Das Fehlen von allen Geräuschen kann sehr bedrückend sein. Und es bleiben die Geräusche, die man selber macht, beim Atmen, beim Bewegen, beim Sein. Stille im Sinne von Ruhe oder Frieden ist vielleicht eher die Abwesenheit von störenden Geräuschen.
Für mich ist Stille kein Vakuum ohne jegliche Geräusche. Vogelgezwitscher, ein sanftes Summen von Hummeln und Bienen, ein leises Rascheln von Blättern, das Glucksen eines Bachlaufs – das sind Geräusche, die Stille für mich friedlich und beruhigend macht. Auch Regen erzeugt Stille, weil alle anderen Geräusche gedämpft werden.
Die Stille ist ein Geräusch? An dieser Stelle darf natürlich John Cage nicht fehlen. Vier Minuten und dreiunddreißig Sekunden Stille. (Zum Video)
*tropf*
Wenn Eis schmilzt, macht es ein Geräusch. Es tropft. Das Geräusch kann man sehr leicht selbst erzeugen. (Ach, da fällt mir ein, dass ich den Kühlschrank wieder mal abtauen wollte …) Nun gibt es Tropfen – und Tropfen. Beim stARTcamp München lernte ich Kalle Laar kennen, ein Klangkünstler, der uns mit ein paar einfachen Übungen hinhören machte. Er erzählte uns von seinen Projekten und Klanginstallationen. Eins seiner Projekte ist Calling the Glacier: “Rufen Sie an und hören Sie in Echtzeit den Klang des schmelzenden Gletschers.”
Ein einfaches Geräusch, nämlich das Tropfen von schmelzendem Eis, erhält durch die Geschichte und die Installation seine Bedeutung. Geräusche eröffnen uns Räume – und Erzählwelten.
*zisch*
Mit Geräuschen können wir nicht nur einen Raum oder eine Welt eröffnen, sondern auch eine zeitliche Einordnung geben. Es gibt typische Western-Geräusche, das Klappern einer Schlange, die knisternde Hitze, das Zirpen von Grillen, das Trappeln von Hufen. (Apropos: sobald man im Film ein Pferd sieht, wiehert es …) Kaum ein Film über Flüge ins All kommt ohne sausende Geräusche der Raumschiffe aus – obwohl inzwischen alle wissen, dass es im Weltraum keinen Schall gibt.
Kein Hörspiel ohne Geräusche: Live-Hörspiele der Lauscherlounge
Wenn man also fürs Storytelling eine Erzählwelt, eine Storyworld, entwickeln will, spielen auch die Geräusche eine nicht unerhebliche Rolle. Insbesondere dann, wenn die Erzählwelt einen realen Bezug hat, wie beispielsweise die einer Bibliothek, die im digitalen Raum wiedererkennbar sein möchte.
Dabei ist es (beinahe) unerheblich, ob man Bild oder Text mit Erikativen anreichert, um über alle Sinne einen räumlichen Bezug herzustellen, oder ob man Bewegtbild oder Audio mit typischen Geräuschen anreichert. Beinahe, weil das gelesene Geräusch von uns interpretiert wird – und als solches vermutlich von jedem anders. Es sei denn, es ist ein Geräusch, über das sich eine Gruppe von Menschen verorten können. Die Erinnerung an die Geräusche am gemeinsam erlebten Raum vermag zu verbinden.
Geräusche erzählen Geschichten: “[…] ganz viele Menschen, die solche Geräusche hören, haben da immer eine ganz individuelle Erinnerung daran, und werden dann auch noch mal an Geschichten erinnert,” sagt Jan Derksen, einer der Initiatoren des Museums für Geräusche im Interview bei SWR2.
Storytelling heißt, die Welt mit neuen oder anderen Augen sehen. Hinhören und aufmerksam werden kann inspirierend sein und den Raum für Geschichten öffnen. So kann allein die Erwähnung des typischen Modem-Geräuschs einen Abend mit Geschichten aus der Frühzeit des Internets füllen.
tl, dr: Hört hin. Und denkt bei allem Storytelling mit Text, Bild und Video auch an unsere Ohren.
When you listen carefully to the soundscape it becomes quite miraculous. (R. Murray Schafer)
Projekte zur Inspiration:
Soundmap of Cologne, zum Beispiel die sprechende Haltestelle in der Berliner Straße
Städte mit ihren Geräuschen erlebbar machen: Soundcities
Groma – Expedition Tiefgarage: Eine Soundinstallation im Kölner Rheinauhafen
Eine Art Instagram für Geräusche: Soundcaching
Wie klingt das Südpolarmeer? Palaoa – PerenniAL Acoustic Observatory in the Antarctic Ocean
Museum für Geräusche: Conserve the Sound
Ganz ähnlich das Museum für gefährdete Töne: Museum of Endangered Sounds
Warum empfindet man die eigentlich ähnlichen Geräusche eines Wasserfalls und einer Autobahn so unterschiedlich? Die Kleine Anfrage im WDR5
The Films of David Lynch: 50 Percent Sound
Marketing für das neue Album der Band Dry The River: Listening Posters (An electronic string art project)
Amüsantes Fundstück am Rande: Wie klingen die unterschiedlichen Social Networks? (Video)
UPDATE: Die famosen Musicless Musicvideos von Mario Wienerroither dürfen natürlich nicht fehlen (Dank an Ute Vogel!)
Martin Scorsese – The Art of Silence (Dank an Klaudia Pirc!)
Der Klang des Regens (Dank an Sven Jakubowski)
Wer hören will, muss fühlen – manchmal: Feel The Music (Dank an Andreas Bindzus)
Geräusche als Nerventonikum. Eine kleine Sammlung von Vines.
Zur Unterhaltung: (*glucks*)
Max Raabe & Palast Orchester –Mein Bruder macht im Tonfilm die Geräusche
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*Den Titel habe ich mir von Juli Zeh und dem Verlag Schöffling & Co. gemopst. So heißt ein Buch über eine Fahrt nach Bosnien: Die Stille ist ein Geräusch. Allein wegen des Titels und der Gestaltung kam ich an dem Buch nicht vorbei. Nur gelesen habe ich es immer noch nicht. Es ist eines dieser Bücher im Regal, die mir noch in die Hände wachsen müssen. Ich weiß, eines nicht allzu fernen Tages werden wir uns finden.