“Ein Experimentierkasten (oder Experimentalbaukasten) ist eine Sammlung von Lehrmaterial zum Selbststudium, beschränkt auf ein Themengebiet, typischerweise gepackt in einen Kasten oder Pappkarton.“
Das spuckt Wikipedia aus, wenn man nach Experimentierkasten googelt. Mir kommen diese lustigen Baukästen immer in den Sinn, wenn ich über Barcamps* nachdenke. Was ich in den letzten Wochen wieder öfter tat, nachdem mich Stefan Evertz aka Hirnrinde anpiekste, ob ich nicht etwas für seine Blogparade „Mein erstes Barcamp” schreiben möchte.
Wann ich zuerst von Barcamps hörte, weiß ich nicht mehr. Vielleicht schon, als ich noch für den O’Reilly Verlag arbeitete, auf dessen FooCamps die Idee der Barcamps zurückgeht. 2009 entstand in Gesprächen zwischen Ehrhardt Heinold, Armin Wirth und Eckart Horn die Idee eines „Barcamp Lesen”. In einem Treffen auf dem mediacampus frankfurt, einem möglichen Veranstaltungsort, stellte sich dann heraus, dass das Team des Forum Zukunft (Börsenverein des deutschen Buchhandels) ebenfalls ein Barcamp für die Buchbranche plante. Prima, dachte wir uns. Im Mai 2010 fand dann das erste Buchcamp statt – mein erstes Barcamp.
Vom Barcamp zum Netzwerk und wieder zurück
Komischerweise ist die Erinnerung daran eher lückenhaft. Woran ich mich jedoch deutlich erinnere, sind die Menschen. Die meisten habe ich zum ersten Mal jenseits von Digitalien kennengelernt. Auf viele bin ich kurz vorher, im Februar 2010, durch eine Veranstaltung von lovelybooks aufmerksam geworden, als ich mich einen ganzen Tag lang nicht von Livestream und Twitterwall losreißen konnte.
Das Buchcamp 2010 war für viele das erste Barcamp, das die sich durch die basisdemokratische, offene und hierarchienübergreifende Atmosphäre wohltuend von anderen Veranstaltungen der Buchbranche abhob. Hier bildete sich der Kern einer Community in der Buchbranche, die sich fortan über Social Media und Veranstaltungen immer stärker vernetzte, gemeinsame Projekte anschob – und munter wuchert wächst. Nächste Woche werden sich wieder viele dieser Menschen auf der Buchmesse in die Arme schließen und das Team der Frankfurter Buchmesse ist mittendrin.
Sessions als Raum für Experimente
Ein Jahr später schon konnte ich mir kein Barcamp mehr vorstellen, ohne selbst eine Session anzubieten. An das Buchcamp 2011 erinnere ich mich vor allem an die Session mit Wenke Bönisch: „Prinzip Buch: WTF?!” Es gab nur eine etwas diffuse Idee, einen Raum für eine Diskussion zu schaffen, die meiner Meinung nach zu selten stattfindet: „Im Zusammenhang mit Medienwandel und Digitalisierung wird gern das Prinzip Buch herangezogen. Doch was um Himmels willen ist damit nur gemeint?”
Über 60 Leute saßen in der Session und reagierten erst etwas verdutzt, als klar wurde, dass wir lediglich die Diskussion anmoderieren. Es war ein Experiment. Es glückte. Aus der konzentrierten und fruchtbaren Diskussion entstand eine Facebook-Gruppe, in der es noch Monate nach der Session hoch her ging (und Impulse für die erste Zukunftskonferenz im Herbst 2011 gab) und die es immer noch gibt.
Die Frage nach dem Wesen des Buchs fasziniert mich immer noch und bei meinem Vortrag auf der re:publica 2013, „Decoding a book. Was ist Buch?”, platzte der Saal schier aus den Nähten. Wo so ein Experiment hinführen kann …
Mein erstes eigenes Barcamp
Im September 2011 veranstaltete ich zusammen mit Anke von Heyl und Ute Vogel mein erstes eigenes Barcamp, das stARTcamp Köln, ein Barcamp für Kreativität und Kultur im Social Web. Und das hat mich endgültig „verdorben”. Eine eigene Veranstaltung zu gestalten und nach Monaten der Vorbereitung und einem irrwitzigen Tag die Teilnehmerinnen und Teilnehmer platt, aber beseelt nach Hause gehen zu sehen, ist unvergleichlich.
Ich habe sehr viel über Barcamps gelernt bei meinem ersten eigenen Barcamp, etwa den Wert einer Vorstellungsrunde, die das Eis bricht, wenn alle den Mund aufmachen und ihren Namen, ihren Ort und ihre drei Tags in ein Mikro sagen müssen. Ich habe gelernt, dass es einfach nur einen Rahmen braucht, in dem sich Menschen wohl und frei fühlen, damit Gedanken und Gespräche fließen können.
Vor wenigen Wochen beim nunmehr dritte stARTcamp Köln und kurz danach beim Camp für freie Bildungsmaterialien, dem OER Köln, wo ich moderierte, sah ich all das wiederum bestätigt. #hach
Mehr Barcamp wagen
Wie sagte Ehrhardt Heinold so schön zu den handelsüblichen Konferenzen: „Wir vermitteln das Wissen des 21. Jahrhunderts mit den Methoden des 19. Jahrhunderts.” Es mag nach wie vor Gründe für klassische Konferenzen geben, wenngleich ihnen „mehr Barcamp” meiner Meinung nach gut täten.
- Offenheit für andere Formate als Vorträge oder in der Regel recht unergiebige Podiumsdiskussionen
- Mut zum Experiment: Beim stARTcamp Köln 2012 waren die Sessions ein Knaller, in denen mit Schere und Papier gebastelt oder Websites in einer Scharade nachgespielt wurden. Beim stARTcamp Köln 2013 gab es allein drei (!) Bastelsessions …
- Wandel von der Teilnahme zur Teilgabe, wozu André Spang kürzlich beim OER Köln aufrief. Sich mit verschränkten Armen zurücklehnen und andere machen lassen, gilt nicht. Ob ein Barcamp für einen persönlich gut wird, hat man in der Hand, vor Ort. Durch Fragen, eigene Sessions und Mithilfe. (Gut, soweit der Rahmen stimmt.)

Wir machten das mit den Fähnchen. Beim Abschluß des stARTcamp Köln 2013. (Foto: Oliver Schwarz)
Mehr Barcamps zu Themen
Ich persönlich habe eine Vorliebe für Barcamps, in denen man über ein oder zwei Tage ein Thema von möglichst vielen Seiten und aus möglichst unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und bearbeitet wird. Vor mir liegen allein drei Ideen für Themencamps, aber auch für andere Veranstaltungsformate, die durch Barcamps inspiriert wurden und auf ihre Realisierung warten …
Mehr Barcamps für Unternehmen
Wenn ich miterlebe, welche Kraft und welche Kreativität 130 Menschen wie beim stARTcamp Köln binnen kurzem entwickeln können, frage ich mich, wie eine solche Veranstaltung wohl ein Unternehmen verändern könnte.
Wir reden immer wieder von Medien- und Kommunikatonswandel. Wir reden von dringend nötigen Change-Prozessen. Wir wissen von Unternehmen, die aufwändige Management-Seminare bei Beratern und Business-Unis buchen, um im Arbeitsalltag damit prompt zu scheitern. Was ließe sich allein mit einem Unternehmens-Barcamp bewirken?
Also, liebe Unternehmen, traut Euch! (Und wenn Ihr jemanden braucht, der Euch dabei unterstützt, sprecht mich und Die Herbergsmütter gern an.)
Aber, Achtung! Die Risiken und Nebenwirkungen eines Barcamps sind nicht zu unterschätzen. Wer einmal miterlebt hat, wie man eine solche Veranstaltung mitgestalten kann, wer einmal erlebt hat, was eine eigene Session auslösen kann, wer einmal in den Barcamp-Flow mit unternehmungslustigen, neugierigen und aufgeschlossenen Barcampern geriet, ist möglicherweise verdorben für Veranstaltungen, in denen nur zählt, wer einen wichtigen Titel oder den korrektesten Krawattenknoten trägt. Es kann sein, dass man bei abgelesenen, uninspirierten Vorträgen mit den Füßen abstimmen will oder mit dem Vorschlag, das Firmenmeeting doch mal ganz anders zu machen, die Kollegen verdattert. Schlimmstenfalls schnappt man sich den Experimentierkasten und fängt an, eigene Barcamps zu planen ;-).
Falls Ihr nach mehr Gründen sucht, warum Ihr ein Barcamp besuchen oder selbst eins veranstalten solltet, findet Ihr in den knapp vierzig Beiträgen zur Blogparade genügend Futter und könnt lesen, was diese Barcamps mit Menschen angestellt haben.
*Für alle, die beim Begriff “Barcamp” hilflos die Schulter zucken: “Ein BarCamp ist eine grundsätzlich für alle offene Art von Konferenz, bei der die Teilnehmer gleichzeitig Akteure sind. Erst am Veranstaltungstag werden vor Ort Sessions angeboten und über einen gemeinsam erstellten Zeitplan organisiert. Jeder bringt etwas mit, ein Thema, Diskussionsbeiträge, Fragen – und kann viel mitnehmen.
Persönlicher fachlicher Austausch und Diskussionen bieten die Grundlage, um Wissen zu vertiefen, neue Ideen zu entwickeln oder eigene Projekte vorzustellen. Das erste BarCamp fand 2005 in Kalifornien statt. Inzwischen gibt es auch hierzulande BarCamps zu den verschiedensten Themen wie Mode, Politik und Kunst.” (Erklärungstext zum stARTcamp Köln, ein Barcamp für Kreativität und Kultur im Social Web, das ich zusammen mit Anke von Heyl und Ute Vogel veranstalte, besser bekannt sind wir im Dreierpack als Die Herbergsmütter.)
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