„Spätestens 2015 wird das Selfie das Arschgeweih des Internets sein!“ Zu dieser kühnen Behauptung ließ ich mich im vergangenen Jahr hinreissen – und siehe da: Ich hatte Unrecht. Und Recht. Am hellichten Tag sind alle Thesen grau und verlangen nach näherer Betrachtung. So wird das Selfie nach wie vor in manchen Kreisen als narzisstische Selbstdarstellung verachtet, in anderen Kreisen als künstlerische Ausdrucksform geadelt.
Letzteres ist war recht schön in den Beiträgen zur Blogparade #selfierade nachzulesen, die von der Kunsthalle Karlsruhe zur Ausstellung #ichbinhier initiiert wurde. Und für die auch dieser Beitrag entstand. Übrigens findet zugleich die Ausstellung „Ego Update“ im NRW-Forum in Düsseldorf statt, die sich der Selbstdarstellung aus philosophischer und gesellschaftlicher Sicht annimmt.
Ein guter Anlass also, laut über Selfies nachzudenken. Seitdem es dank Frontkamera einfacher geworden ist, Selfies zu machen, gelten sie als unfein. Das tut der Begeisterung keinen Abbruch, wenn man sich in Social Media umsieht. Es ist wie immer: Etwas wird möglich, und Menschen tun oder nutzen es.
Ein Exkurs: Ich ist eine andere*
*Eine kleine Anleihe bei Rimbaud.
Betrachte ich meine eigene Geschichte als fotografierter Mensch, gibt es eigentlich nur zwei Varianten: das freiwillige und das unfreiwillige Foto. Selbst das freiwillige Foto entstand selten ohne Zwang, denn es entstand anlaßbezogen: Einschulung, Kommunion, Familienereignisse, Weihnachten. Was man als Kind noch anstandslos hinnahm oder gar freudig mitmachte, verlor sich zumindest für mich mit Beginn der Pubertät. Auf eine unbeschwert dokumentierte Kindheit folgten Jahre der Unsichtbarkeit. Bis auf einige Fotos zu familiären Anlässen konnte ich mich offenbar dem Fotoapparat erfolgreich entziehen.
Für dieses Leben unter der Tarnkappe gab es einen guten Grund: Ich habe mich selbst auf diesen Fotos nicht erkennen können. Die Pubertät ist eine Zeit der radikalen Veränderung des Äußeren, mit der das Innere nicht immer Schritt zu halten vermag. Das führt zu einem eigentümlichen Ungleichgewicht in der Selbstwahrnehmung, die das von fremder Hand abgelichtete Selbst zur Qual machte.
Lange Jahre blieb die Kamera in der Hand anderer also der Feind. Das verstärkte sich noch durch die spätere Unabwendbarkeit von Bewerbungsfotos. Auch hier fühlte ich mich einer unbeeinflussbaren Fremdwahrnehmung und einem Zwang zu einem bestimmten Ausdruck ausgesetzt. Sobald sich die schwarze Linse auf mich richtete, erstarrte ich wie das Kaninchen vor der Schlange. Es gibt nur wenige Fotos dieser Jahre, auf denen ich mich selbst erkenne.
Mit der Zeit trat zwar in dieser Hinsicht mehr Gelassenheit ein, aber erst mit dem Smartphone gab es eine verblüffende Veränderung: Zum einen hatte ich plötzlich immer eine Kamera dabei, mit der ich unaufwändig den Augenblick dokumentieren und unmittelbar veröffentlichen konnte. Zum anderen gewann ich mit der Smartphone-Kamera die Macht über das Bild von mir selbst zurück. Nicht andere manifestierten mein Bild im öffentlichen Raum, sondern ich selbst konnte mich in aller Ruhe und mit aller Freude am Spiel inszenieren.
Das leitete einen Prozess der Auseinandersetzung mit mir selbst ein, der übrigens parallel zu meinem Weg in die Selbstständigkeit verlief und sich gegenseitig sehr befruchtete. Auch die Positionierung als selbstständige Unternehmerin ist eine Art von Inszenierung der eigenen Persönlichkeit. Fast alle Fotos, mit denen ich im öffentlichen Raum hantiere, sind Selfies und damit unmittelbar ich. Dass ich Inszenierung nicht als Verlust von Authentizität verstehe, kann man übrigens auch in dem Interview mit Christa Goede nachlesen.
Ein Lesetipp zum Thema: Die Rückeroberung des Ich von Roman Bucheli in der NZZ
Selfies sind die Ermächtigung des Menschen, das eigene Bild im öffentlichen Raum mitzubestimmen und aktiv zu gestalten.
Wie sie dies letztlich tun, vermag uns zu belustigen, zu begeistern, zu langweilen oder gar zu verstören. Aber es ist die naheliegendste und niederschwelligste Form des Ausdrucks. Empfindungen mit Wörtern treffend zu beschreiben, fällt nicht jedem Mensch leicht. Aber Empfindungen zu zeigen schon eher. Selbst wenn diese dann oftmals ins Groteske überzeichnet werden, sind sie sprachraumübergreifend verständlich. Mithilfe von Fotos, Videos, Emojis und Sprachnachrichten zu kommunizieren wird dank Snapchat und Whatsapp selbstverständlicher.
Das Deppenzepter als Attribut des Narziss
Irgendwie gehört er zum Selfie dazu, denn selten bleibt er in Diskussionen über Selfies unerwähnt: Der Selfie-Stick. Er gilt als quasi untragbar und als Erkennungsmerkmal narzisstisch gestörter Menschen in Ausübung ihrer Ich-Sucht. Gibt es ihn doch inzwischen sogar als gerüschte Version für die Braut, die die Dokumentation ihren Trauungsevents nicht mehr anderen überlassen will. In der einen Hand der willfährige Bräutigam, in der anderen der Selfie-Stick. Und ein Aufsatz für Selfies mit Hunden – Moment mal, das kann nur ein Fake sein, oder?
Klar ist es befremdlich, wenn man Menschen mit dieser Knipsstange hantieren sieht. Andererseits frage ich mich bei der Häme über den Selfie-Stick immer wieder, warum ein Stativ hingegen als professionell und achtbar gilt. Letztlich macht man mit dem Selfie-Stick kaum etwas anderes als mit einem Stativ: Es ist ein Instrument, um die anatomischen Möglichkeiten über die eigenen Extremitäten hinaus zu erweitern.
Ob man nun ein Stativ auf den Boden stellt oder ob man den Selfie-Stick ausfährt: Ich erkenne keinen Unterschied. Man kann auch mit einem Stativ schlechte und überflüssige Fotos machen. Fotos, bei denen Menschen sich zu einem steifen Gruppenbild aufbauen müssen, um dann zusammen fotografiert zu werden, finde ich im übrigen seltsamer als ein Grüppchen, die albern quietschend ein Gruppenselfie macht.Vorausgesetzt, ich bin diesem Grüppchengequietsche nicht allzulange ausgesetzt ;-).
Dass Selfie-Sticks inzwischen in vielen Museen oder Freizeitparks verboten sind, hat höchst pragmatische Gründe: Wer mit Knipsen beschäftigt ist, hat kein Auge fürs Umfeld und kann sich selbst oder andere schädigen. Andere Museen spielen mit der Selfie-Kultur und nutzen sie für Kunstvermittlung. Anke von Heyl liefert gute Gründe für ein Museumselfie. Und das bekommt man ja durchaus auch ohne Selfie-Stick hin. Ich selbst besitze im übrigen keinen.
Wie war das noch gleich mit dem Arschgeweih?
Wessen Lippen sich hier indigniert kräuseln: Der Vulgarismus Arschgeweih hat sogar einen Eintrag bei Wikipedia und ist mit Steißbeintattoo nur unzulänglich beschrieben.
Ist also alles schön und gut? Ist das Selfie die Befreiung des Selbstbilds vom Fremdbild? Ihr ahnt es: Auf solche Fragen gibt es in der Mitte eines Beitrags nie ein einfaches Ja. Natürlich nicht. Selfies können unendlich nerven. Das kann ein Zuviel, Zuoft sein. Mich macht es stets fassungslos, wenn sich Frauen ironiefrei mit Entenschnute oder Fischmaul als Plastikpornopüppchen nach imaginierter DIN-Norm inszenieren. Sich selbst für ein vermeintlich aufregendes Selfie in Lebensgefahr zu bringen, öm, ja.
Und so eigentümlich ich die Jagd nach Autogrammen stets fand: Die Instrumentalisierung von prominenten Menschen für Selfies zur Profilierung wirkt nicht minder befremdlich. Dennoch ist es sehr faszinierend, wenn Politiker, Künstler oder Sportler Selfies mit ihren Fans oder Anhängern machen und den gemeinsamen Moment nutzen, um Nähe herzustellen.
Selfies are intimate, honest and yes, a little bit stupid, and they’re one of the easiest ways athletes and other celebrities can connect with their fans.
Meine These, das Selfie sei das Arschgeweih des Internets und somit eine Modeerscheinung, die im Nachhinein eher peinlich wirkt, möchte ich hiermit widerrufen. Ich bin mittlerweise eher der Überzeugung, dass mit dem Selfie eine Form des Ausdrucks etabliert ist, die der Kommunikation jenseits aller Bildschirme in komprimierter Form sehr nahe kommt. Die Formen der Kommunikation sind im digitalen Raum längst ebenso vielfältig wie im analogen. Und mancherorts zahlt man künftig vielleicht nicht mehr mit Geld oder seinem guten Namen, sondern mit einem Selfie.
Wenn das Selfie also in einer Tradition stehen sollte, dann in der des Kommunizierens. Selfies sind Teil einer Erzählkultur, einer neuen Mündlichkeit, die durch Echtzeitkommunikation entsteht.
Annekathrin Kohout in ihrem Beitrag zur #selfierade
Mit Selfies Geschichten erzählen
Ich selbst nutze das Selfie genau aus diesem Grund gern: Um Geschichten zu erzählen oder zu illustrieren. Das Selfie als ein mögliches Ausdrucksmittel von vielen kann letztlich alles sein: ein Mittel zur Kommunikation, ein Statement, ein Bruch von Stille, ein Mittel des künstlerischen Ausdrucks. Nicht jeder Tweet von Neil Gaiman ist Literatur, nicht jedes Selfie von Ai Weiwei Kunst. Die Bedeutung vieler menschlichen Äußerungen und Schöpfungen wird sich erst im Nachhinein zeigen. Das Selfie als Ausdrucksform zu überhöhen und per se in eine Reihe mit den Selbstporträts aus der Kunstgeschichte zu stellen halte ich für ebensowenig zielführend wie eine Banalisierung oder Verächtlichmachung. Was es ist: Es ist. Und Selfies bekunden mitunter auch nur dies: Ich bin. Hier. Seht Ihr mich?
Interessante Reflektion.
ich gehöre zu den Menschen, die die Handy-Knipserei eher als Belästigung empfinden. Egal wo und wie sie auftritt. das hat nichts damit zu tun, dass man auch mit einem Smartphone ästhetisch Reizvolles ablichten kann. Zu guten Fotos braucht es keine sieben Kilo Nikon. Das wissen wir spätestenes seit dem Lomo-Boom (Wer lomographiert eigentlich noch?). Dennoch ist das wilde Herumknipsen, vorzugsweise von sich selbst und quietschenden wie grimassierenden Mitgängern oder der saftigen Pizza vor einem, für mich eine Heimsuchung.
Dennoch ist an Ihren angenehm offenen Überlegungen, Frau Ladwig, sehr viel Bedenkenswertes. Vielen Dank für diesen Exkurs.
Wie immer ist es eine Frage des Wie, der Dosis und des Kontexts, lieber Herr Last. Herzlichen Dank fürs Lesen und Ihren Kommentar! Sonnige Grüße, Wibke Ladwig
Liebe Wibke,
ich mag es, wenn so differenziert über die Phänomene nachgedacht wird, die schon mal gerne die Gemeinde spalten können. Ja, wenn man sich mal das eigene Verhältnis zum eigenen Foto anschaut, dann kann ich da vieles nachvollziehen, was du geschrieben hast. Ich erinnere mich auch noch an die Zeit, als man ganz jeck auf Polaroids war. Da sehe ich zum Beispiel auch dieses Moment der sofort verfügbaren Bildes, das ja auch beim Selfie eine Rolle spielt. Damit konnte man herrlich spielen. War nur leider ein bisschen teuer 🙂
Liebe Grüße
Anke
Da machen wir doch lieber Selfies bei Instagram in Polaroid-Optik! Danke, liebe Anke. Und hab’ einen schönen Abend!
Liebe Wibke,
falls du nicht schon längst an der Philosophischen Fakultät einen Professoren-Ruf hast, solltest du einmal drüber nachdenken. Philosophie und Medien liegen dir jedenfalls. Ich finde deine kurze reflexive Abhandlung sehr gelungen. Mein Tag fängt mit einem Lächeln an: Besten Dank und dir auch einen sonnigen Tag.
Lieben Gruß,
Guy
Huch, Guy, ich lese Deinen Kommentar erst heute. Dankeschön :-). Nun endet mein Tag mit einem Lächeln. Wie wunderbar! Sehr herzlich, Wibke
Liebe Wibke,
vielen Dank noch mal an dieser Stelle für deinen interessanten Beitrag zur Blogparade. Er illustriert wunderbar die unterschiedlichen Aspekte des Selfies in der Nutzung sowie in der Rezeption. Du verbildlichst durch die breite Schere zwischen dem Selfie als metaphorisches „Arschgeweih des Internets“ und dem Selfie als „Werkzeug zur Befreiung des Selbstbilds vom Fremdbild“ sehr deutlich die Vielfältigkeit desselben.
In unserer Ausstellung geht es uns keineswegs darum, das Selfie als Ausdrucksform zu überhöhen und in eine Reihe mit künstlerischen Selbstporträts zu stellen. Vielmehr versuchen wir als Museum als Ort zu fungieren, dieses
zeitgenössische Phänomen, das man nicht einfach ignorieren kann, mit ein wenig Abstand zu betrachten.
Die Besucher sehen in der Ausstellung eine große historische Vielfalt an künstlerischen Selbstdarstellungen, die bestimmte, sich wiederholende Muster in der Darstellung des eigenen Selbst über die Jahrhunderte verdeutlichen. Diese tradierten Bildmuster führen dem Betrachter die Spiegelung der Kunstgeschichte in dem aktuellen Zeitphänomen des Selfies vor Augen. Durch die Auseinandersetzung mit dem künstlerischen Selbstporträt können die Besucher die Praxis der eigenen Selbstdarstellung kritisch reflektieren, was ihre Einstellung zum Selfie-Machen verwandeln könnte.
Herzliche Grüße vom Kunsthallen-Team