Kürzlich griff ich nach einer Stalljacke, die ich wohl seit einem Jahr nicht angezogen habe. In einer der Taschen raschelte es: eine schmucklose Papiertüte und darin zwei saure Zungen aus dem Büdchen! Ein unverhofftes Vergnügen. Allerdings musste ich sie langsam verspeisen, denn nach einem Jahr ist auch die fluffigste saure Zunge hart wie eine Schuhsohle. Schmeckten aber noch!
Ob ein Blogbeitrag über die re:publica nach nunmehr acht Wochen auch noch schmeckt? Ich bedaure sehr, dass ich nach den glitzernden Tagen in Berlin kaum einen Tag Ruhe hatte, um über das Geschehen vor Ort nachzudenken. Dabei kam wieder einiges ins Rollen, nicht zuletzt – aber Halt, das wird ein anderer Beitrag. Diesmal soll’s um Wortschatz, Sprachwandel und das #ponyhofgate gehen. Genau, meinen Vortrag. Ein blindes Huhn ist kein Ponyhof.
Einst begab es sich …
Im Grunde hatte ich gar nicht vor, für die re:publica einen Vortrag einzureichen. Nun war „Decoding A Book – Was ist Buch?“ 2013 quasi ein Rockkonzert. Stage 6 war überfüllt, es war eine sensationelle Stimmung und im Anschluß an meinen Vortrag gab es eine grandiose Diskussion, aus der ich viel für mich mitnahm.
Dann gab es den ein oder anderen Abend in der Kneipe, wilde Diskussionen über Wortschätze, die nicht nachlassende Faszination für Wortschatz und Sprache und den Eindruck, dass … also, da müsste man doch mal. Gut, dann kam die Social Media Night in Karlsruhe, bei der ich freundlicherweise tun und lassen durfte, was ich wollte. Ich probierte was mit Sprachwandel und Wortschatz. Es war schön. Hier und da knarzte es noch. Gut, daran könnte man ja arbeiten … Ich reichte kurzerhand und auf den letzten Drücker den Vorschlag für die re:publica ein. Na fein, dann mach’ mal, kam zurück.
Buchstabenhäppchen zur Mittagszeit
Als ich den Vorschlag einsendete, habe ich ihn für 30 Minuten angekündigt. Eine halbe Stunde, länger trägt das Thema nicht, dachte ich damals. Was für ein Quatsch! Natürlich trägt es so lange. Etwas mehr Ruhe (für mich) und eine Diskussion (für uns alle) hätte dem Ganzen wohlgetan. Je nun. Wieder klüger.
Nichtsdestotrotz sollte es ein unterhaltsamer Imbiss zur Mittagszeit sein. Ich bin keine Sprachwissenschaftlerin, sondern behandele das Thema mit höchst eigennützigem Forschergeist, mit Vergnügen und im Sinne des Jazz aus Standards heraus frei improvisiert. Mein Wunsch war es, mit Euch eine halbe Stunde lang durch Sprache und Wortschatz zu spazieren, die Lust an Wörtern zu zelebrieren – und die Wirkmächtigkeit von Wörtern und Sätzen, von Sprache, ins Bewusstsein zu rücken.
Warum #ponyhofgate?
Um diesen Hashtag kam ich gar nicht herum. Nachdem es in der Woche vor der re:publica das #hofgate gab, weil man ohne Ticket nicht mehr uneingeschränkt Zutritt zum Hof der STATION hatte, tja, ich konnte nicht anders. Also #ponyhofgate.
Was hat ein blindes Huhn mit dem Ponyhof zu tun?
Eine Sprichwortrüttelei vom sprichwortrekombinator. Ich vergaß lediglich, darauf hinzuweisen, dass dieser Titel auch daher stammte. So wie ich auch die richtigen Schuhe zum Kleid vergaß … und den Gürtel zum Kleid. Aber hey, immerhin hatte ich das Kleid nicht auf links an.
Eine Wanderung zu den Quellen
Noch auf der re:publica versprach ich, meine Quellen zu nennen. Um es dann so gar nicht zu schaffen. Also, bis jetzt. Eine der wichtigsten Quellen ist ein Buch, das Ende des vergangenen Jahres im Verlag de Gruyter erschien: Reichtum und Armut der deutschen Sprache. Erster Bericht zur Lage der deutschen Sprache, herausgegeben von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Union der deutschen Akademien der Wissenschaften. Ja, so ähnlich klingt auch die Sprache darin. Aber es ist sehr erhellend, wenn man sich für Sprachwandel interessiert. Hierin finden sich auch teilweise die Angaben zum Umfang des Wortschatzes diverser Dichter und Schriftsteller.
Alle weiteren Quellen, Fundstücke sowie die erwähnten Webprojekte, Twitterer und einige Nachberichte habe ich in einer Liste bei Diigo gesammelt: #ponyhofgate.
Wie jetzt, Vortrag und Tweets gleichzeitig?
Yap. Weil ich es kann ;-). Man kann ja zum Beispiel mit Hootsuite oder Tweetdeck Tweets vorprogrammieren, was ich schamlos ausgenutzt habe. Deshalb kamen zwischendurch weiterführende Links oder Zitate von meinem Twitter-Account. Was bemerkt wurde. #knicks
Die Sache mit 1640 und dem Klagen über Sprachverfall
Ich habe den Eindruck, dass ich nicht deutlich genug erwähnt habe, dass im Prinzip schon genauso lange über den Sprachverfall gejammert wird wie über die grauenvolle Jugend. Dass ich ausgerechnet Herrn Schottelius herausgriff, der sich 1640 bitterlich beklagte, war eher Willkür – und weil er unsere Sprache in mancher Hinsicht selbst prägte.
blümerant – bleu mourant
Das Wort stand ursprünglich für blaßblau und wurde aus dem Französischen entlehnt: bleu mourant = eigentlich ‘sterbendes Blau’. In vergangenen Zeiten schnürten die Damen ihr Korsett so eng, dass ihnen ganz schwummrig wurde. Sie sahen damals jedoch nicht schwarz, sondern blau. Ihr Gesicht nahm eine blassblaue Färbung an – und ‘blümerant’ fand seinen Weg in die Umgangssprache: flau, unwohl, kodderig.
krass – ein Zombiewort
Wer sich für wahnsinnig modern hält, wenn er das Wort ‘krass’ benutzt, dem sei ein Blick ins Grimm’sche Wörterbuch empfohlen. Selbst zu der Zeit, als Jacob und Wilhelm Grimm das Wörterbuch der Deutschen Sprache begannen, war das Wörtchen schon gut abgehangen: ‘krass’ ist ein Kraftausdruck der Studentensprache des 18. Jahrhunderts. Manchmal kommen sie wieder, die Zombiewörter. Krass, Alter!
Unglaubliche 1.560 mal ist der Videomitschnitt inzwischen aufgerufen worden. Die Slides über 350 mal aufgerufen. Etwa tausend Menschen waren vor Ort dabei. Hunderte von Tweets katapultierte den #ponyhofgate am 8. Mai für vier Stunden in die Trending Topics von Twitter Deutschland, also die Hitparade. Und unter den Top Influencern der re:publica bin ich auf Platz 10 gelandet. Übrigens knapp vor einer Katze. Verrückt. Mich freut Euer Interesse sehr. Und mit dem Thema bin ich noch lange nicht durch.
Link zum Mitschnitt bei Youtube
Linkliste mit Quellen, Berichten und erwähnten Projekten und Twitterern (gerne nehme ich weitere Links auf. Schickt mir einfach den Link in die Kommentare oder auf anderen Wegen.)
Tweets mit Hashtag #ponyhofgate
Und das Spielchen am Anfang?
Die Szene in Die fabelhafte Welt der Amélie, in der jemand mithilfe von Sprichwörtern auf Herz und Nieren geprüft wird, hat mir sehr gut gefallen. Wer Sprichwörter kennt, kann kein schlechter Mensch sein! Es wäre schön, wäre es so einfach. Auf jeden Fall fand ich es spitzenmäßig, wieviele bei diesem Spielchen mitmachten :).
Knutscher ans Team der re:publica #rp14
Dass ich kurzfristig auf Stage 2 wechseln durfte, war fabelhaft. Es war eine Fügung. Danke! Ich fürchte, ich muss mir auch für nächstes Jahr etwas überlegen. Bin auf den Geschmack gekommen ;-).
Saure Zungen, jemand?