„Ich komme zwischen 8 und 9.“
Ich warte auf den Elektriker. Beim Reinigen unseres Herdes fiel plötzlich ein Kabel auf, das in der Gegend herumbaumelte. Es war nicht zuzuordnen. Ist es dennoch wichtig? Da braucht es eine Fachperson. Und während ich warte, blättere ich durch meine Auslassungen in diesem Internet. Vielleicht halte ich Dies und Das im Blog fest, bevor Ebbe und Flut von Social Media meine Sandburgen davonspülen?
Als das Warten längst vorbei war, das Kabel als eins ohne Funktion identifiziert und der freundliche Elektriker wieder entschwunden, fällt mir auf, was für eine schöne Sammlung entstanden ist. Das mache ich jetzt öfter, und sei es nur, um einen Trost für schwarzseherische Tage zu haben, an denen die Welt verloren scheint. Sie ist es nicht, so lange Menschen solch wundervolle Dinge hervorbringen und tun. Außerdem lese ich in anderen Blogs gern solche Empfehlungen oder Erwähnungen von Gelesenem, Gehörten oder Gesehenem. Warum nicht auch hier das Gute sammeln.
Gelesen
Am Meerschwein übt das Kind den Tod. Was für ein gutes, gutes Buch Nora Gomringer da geschrieben hat. Zwischen starrer Trauer, heißer Wut und mitunter bizarrem Witz, bitterem Schmerz und inniger Liebe. Nachrough? Und wie. Und ein sagenhafter Blick in Literatur und Leben im Nachkriegsdeutschland. Wurde prompt mein Buchladen-Buchtipp im November.
Hier Nora Gomringer im Gespräch mit Andrea Gerk bei Deutschlandfunk Kultur.
Auch richtig gut, wiewohl es nun schon wieder ein paar Wochen her ist, dass ich Botanik des Wahnsinns von Leon Engler gelesen habe. Das sehr schöne Cover hat mich übrigens gleich fürs Buch eingenommen. Dass sich hier jemand aufmacht in die Familiengeschichte, die mit psychisch angegriffenen Menschen bevölkert ist – ich wusste so gar nicht, was mich erwartet. Es lag als Leseexemplar im Buchladen. Beate vom DuMont Buchverlag, die verfolgt, was ich so lese, legte es mir ans Herz. Zögernd las ich die ersten Sätze – ach, ich mochte es sofort.
„Am Ende bleiben sieben Kartons.“ Sieben Kartons aus dem Leben seiner Mutter, die irrtümlich verblieben, als ihre Wohnung geräumt werden musste. Es sind die Kartons mit dem Aussortierten, mit alten Rechnungen und Kram. Die Kartons mit dem, was bewahrt werden sollte – futsch. Es ist der Beginn der Geschichte eines jungen Mannes, der Angst hat, verrückt zu werden. Wie seine komplette Familie. Er zieht aus ins Leben, um sich zu retten. Und wird Psychologie. Es ist die Geschichte einer Versöhnung und von der Frage, was das eigentlich ist: normal sein. Klug, meist freundlich, manchmal hart, so leichtfüßig wie ernsthaft.
„Auf meinem Stockwerk befindet sich nur eine andere Wohnung, viermal so groß wie meine. Darin wohnt ein Mann, viermal so alt wie ich, der den ganzen Tag mit sich selbst spricht. Doch ich rieche ihn, denn er raucht den ganzen Tag. Der Qualm zieht in meine Wohnung. Und ich höre ihn. Die Wände sind dünn. Wie falsch adressierte Briefe landen seine Selbstgespräche bei mir. Es stört mich nicht. Mir gefallen seine Gedanken. Sie sind interessanter als meine. Ich beginne sie aufzuschreiben und meine Ideen durch seine zu ersetzen. Ein kleines Notizbuch lege ich an.“ (S. 19f.)
Ungelesen (noch)
Vielleicht gewöhne ich mir an, regelmäßig hier fünf Bücher zu behaupten, die ich alles nächstes lesen möchte. Etwas Ordnung in den ungeordneten Stapeln mit Ungelesenem. Ich liebe es, ungelesene Bücher um mich herum zu scharen. Lauter gute Aussichten. In diesem Jahr, in dem ich DURCH UMSTÄNDE nicht viel gelesen habe, wird’s allmählich aber etwas unübersichtlich. Also beschließe ich, diese fünf hier in die nähere Erreichbarkeit zu bugsieren.
- Anna Maschik, Wenn du es heimlich machen willst, musst du die Schafe töten. Allein der Titel. Aber auch: Landwirtschaft, Familie, Nordsee, Sprache und Sprachlosigkeit. Meins.
- Ursula Krechel, Vom Herzasthma des Exils. So schlicht gestaltet, dass ich sofort zugriff. Eine Autorin, die mich interessiert. Ein Thema, das mich bewegt. (Sehenswerte Doku gerade bei Arte übrigens übers Auswandern.)
- Anke Bastrop, Verborgene Landschaften. Fand zu mir übers Lyrik-Abo des verehrten Verlagshaus Berlin. Ein Neu- und Weiterschreiben des Naturgedichts. Während ich doch gerade oft über die fehlende Verbundenheit der Gesellschaft zur Natur nachdenke. Gut, dass dieses Buch just jetzt hier ist.
- Mely Kiyak, Gute Momente. Wie schön gestaltet das Buch ist, das mir Nikola Richter (mikrotext) schönerweise zusendete. Danke! Ich war ja schon sehr entzückt von Dieser Garten. Nun geht’s auf Spaziergänge durch Alltagsbeobachtungen. Ich bin bereit.
- Joël Broekaert erzählt Die Weltgeschichte in zwölf Bohnen. Kam als Leseexemplar zu mir und ich freue mich darauf, während ich überlege, welche Sorten Bohnen im nächsten Jahr in Bad Kleingarten wachsen sollen.
Gesehen
Zufällig gerieten wir gestern in eine Dokumentation, die mich nachhaltig beschäftigt: Umoja – Wo nur Frauen das Sagen haben. Was für eine revolutionäre Kraft von dem Dorf Umoja in Kenia ausgeht! Rebecca Lolosoli und Jane Leng’ope Umoja gründeten Umoja 1990, weil sie die Grausamkeit des Patriarchats satt hatten. Frauen dürfen keinen Besitz haben. Mädchen werden immer noch beschnitten, selbst wenn das inzwischen verboten ist. Sie werden in Kinderehen gezwungen. Auch verboten, aber das ist offenbar kein Schutz. Männer können mit einem Perlenschmuck Anspruch auf ein Mädchen erheben, dem nicht widersprochen werden darf und sie benutzen. Wenn das Mädchen schwanger wird, wird es an einen anderen Mann verheiratet. Frauen dürfen geschlagen und misshandelt werden. Dafür dürfen sie alle Arbeit verrichten und nebenbei Kinder bekommen.
Diese Frauen haben die Nase voll. Umoja ist ein Dorf, in dem nur Frauen und ihre Kinder leben. Sie leben dort in einer Allmende: sie wirtschaften gemeinsam und teilen alles untereinander auf. Beschlüsse werden demokratisch gefasst. Regeln sind klar formuliert. Umoja ist eine starke Solidargemeinschaft, die sich in einer krass feindlichen Männerwelt behauptet. Beeindruckend, in jedweder Hinsicht.
Und sie sind entschlossen, nach außen zu wirken. Es gibt nicht nur für die Kinder des Dorfes eine Schule, sondern sie ermöglichen auch Mädchen von außen einen Schulbesuch. In der Doku wird ein Fall erzählt. Mädchen werden von den Frauen ausgewählt und sie ziehen los, um mit den Eltern über diese Möglichkeit zu sprechen. Ihre Bedingungen: keine Beschneidung, keine Kinderehe. Die Frauen aus Umoja sind ab sofort meine Vorbilder für soziales und gesellschaftliches Engagement.
Gehört
Musik?
Oh ja. Freue mich doch immer sehr, wenn ich Bands und Musiker*innen für mich entdecke. Wie die Schweizer (!) Indie-Band Black Sea Dahu.
