Ich trete vor die Tür.
Am Samstag war ich in einem Kaufladen und suchte nicht, sondern fand: neues Schuhwerk für den Winter. Warm, robust und mit Platz für die Zehen, auf dass sie sich Bewegung verschaffen können. Mich plagte hoher Blutzucker, weil ich aus Ärger über den neuen Testsensor und dessen Fehlalarm mitten in der Nacht glatt vergessen hatte, rechtzeitig mein Insulin zum Frühstück zu spritzen. Prompt plärrte der völlig absurd laute Alarm kurz nach dem Rausgehen los: zu hoher Blutzucker und ein Alarm, als griffen Außerirdische an. Ja, ein Alarm bei zu hohen oder zu niedrigen Werten ist sinnvoll. Aber wenn mich durch diesen Alarm der Schlag trifft, ist das bekloppt.
Dieser Sensor und ich, wir werden keine Freunde. Was natürlich auch daran liegt, dass ich mit dem davor so sehr zufrieden war.
Hektisch stellte ich den Alarm ab und atmete erstmal durch. Bei hohem Blutzucker lodern ohnehin Flammen gegen die Schädeldecke.
Gehen hilft.
Wohlan.
Vorm Büdchen hockt mutterseelenallein ein verlassenes Stofftier. Vor Jahren kam ich durch eine solche Begegnung zu meinem gestreiften Büroleiter, dem Findelkraken. (Er ist inzwischen Privatier.) Kurz bin ich in Versuchung, aber … nein. Nein. Wirklich nicht.
Dieser November gibt sich viel Mühe.
Moment, Dezember! Es ist der 1. Dezember. Und Montag. Die Müllmänner öffnen ein Türchen nach dem anderen. Ich starre ungeniert und voller Neugier in Hausflure und Hinterhöfe. Und freue mich über Vorgärten, in denen das Laub liegen bleiben darf. So viele Meisen, Rotkehlchen, Amseln und Buchfinken sehe ich heute durch die Blätter hopsen. Weltbestes Buffet, hier ein Käfer, da ein Wurm, dort ein paar Samen.
Auch im Park geschäftiges Treiben. In den Bäumen sitzen die Ringeltauben. Der Falke fliegt durch. Die Krähen sehen sich alles an und rufen sich was zu.
Am Anleger ist was los. Ein anderes Flusskreuzfahrtschiff liegt vor Anker, flankiert von Bussen. Das schielende Haus und James Bond, doch was meinen Blick auf sich zieht, ist der Hinweis auf „Schriftbilder – Iranisches Grafikdesign der Gegenwart“. Das klingt doch mal interessant. Ich mache mir einen Knoten in den Kalender. Etwas zweifelnd blicke ich indes auf die Plastikdeko am grün angemalten Fahrrad. Ja, den Impuls kann ich verstehen. Aber ich sehe diese Plastikschmetterlinge ziemlich rasch in die Natur fliegen. Und da liegt ohnehin schon zu viel Plastik rum.
Erwähnte ich schon das Licht?
Oh, ein Tischtennisschläger …
… steckt in einer Mauer. Kunst? Müll? Kann man etwas darauf abstellen?
Ich erreiche die Haustür und blicke zufrieden auf den runtergerockten Blutzucker. Wie sehr Gehen dem Körper zugute kommt, finde ich immer noch erstaunlich. Es fühlte sich stets richtig an. Aber nun zu sehen, wie begeistert Körper und nach wie vor Geist auf diese Form der Bewegung reagieren, erfreut mich.
Die Wohnungstür klappt hinter mir zu, die Waschmaschine maunzt und der Tag liegt vor mir.
Es folgt etwas Gesammeltes, mit Unmut gewürzt. Ich weiß jetzt schon, dass sich Menschen angesprochen fühlen werden, die ich nicht meine. Also, bitte, gutherzige, mitfühlende und freundliche Menschen, die Ihr meinem Herzen nah seid: Bitte fühlt Euch nicht gemeint. Es sind Menschen, mit denen ich ansonsten wenig zu tun habe, die sich am meisten herausnehmen.
„Wie geht es dir?“
Aber in diesem gewissen drängenden Ton. Wie GEHT es dir.
Und ich weiß sofort, dass es sich nicht um eine Einleitung zu einem netten Schwatz handelt, sondern da hat jemand hier gelesen oder andernorts verfolgt, was bei mir los war und ist. Alles, was jemand in die Öffentlichkeit schreibt, lässt sich so und so lesen. Zwischen Schreiben und Lesen entsteht ein ganz eigener Raum, den jede mindestes um eine Nuance anders einrichtet oder spürt.
Es ist eine so verzwickte wie faszinierende Sache, dass wir Menschen uns auf vermeintlich eindeutige Begriffe für Gegenstände und Gefühle geeinigt haben und uns mal gelungener, mal misslungener miteinander verständigen. Und das über Zeiten und Sprachen hinweg. Ein Tisch ist ein Tisch von Peter Bichsel ist legendär. Sage ich Tisch, sehe ich ziemlich sicher vor meinem inneren Auge etwas anderes, als etwa mein Gegenüber, dem ich von einem Tisch erzähle. Und was bedeutet das erst für abstrakte Begriffe wie Trauer oder Liebe?
Oder wie Krankheit. Manche Menschen sprechen nun gar nicht mehr mit mir. Eine Erkrankung wirkt, selbst wenn sie nicht ansteckend ist, offenbar manchmal furchteinflößend. Oder eher störend? Andere fühlen sich magisch angezogen, wobei auch diese Anziehungskraft sehr verschieden motiviert ist. Es gab seltsame Zuschriften und Kommentare, deren Übergriffigkeit mich eine Weile beschäftigten. Wenn ich von meiner Erkrankung erzähle, ist das keine Einladung, mir etwa mitzuteilen, dass Diabetes heutzutage kein Problem mehr sei und mir dann von eigenen Erkrankungen und Schicksalen zu erzählen.
Ich bin immer noch nicht gramgebeugt, ich mache keine schwere Zeit durch, niemand muss mir Kraft für Wasauchimmer wünschen. So nett das gemeint ist, finde ich es doch irritierend. Es macht mich klein. Ich fühle mich schlicht nicht sonderlich anders als vor der Diagnose. Nun, das ist nicht ganz richtig: Ich fühle mich so viel besser, seitdem ich Insulin nehme. Ich fühle mich gesund. Ich bin derselbe Mensch, nun mit special effects, wie mir jemand schrieb. Das fand ich fabelhaft formuliert.
Es ist nicht so, dass ich mich nicht über Interesse freue, über Neugier (neugierig wäre ich auch!) oder über ehrliche Anteilnahme. So gesund ich mich fühle, diese Autoimmunerkrankung verlangt mir und meinem nahen Umfeld nun einiges ab: Aufmerksamkeit, Rücksicht, Disziplin, Geduld, Verständnis und Akzeptanz dafür, dass manches nicht mehr so spontan möglich ist wie vorher. Mich erstaunt doch selbst, wie viel Zeit das Unternehmen Diabetes Typ 1 verschluckt. Täglich oder bei den momentan noch engmaschigen Arztterminen.
Vielleicht wäre das ein guter Wunsch: Ich wünsche dir Zeit. Und ich wünsche mir Verständnis dafür, dass manches gerade länger braucht.
Jahresrückblick?
Ich habe richtig Lust darauf. Diesmal wird’s allerdings mangels Gelesenem wie in den letzten Jahren vielleicht einer in Bildern.

🧡