„Heute Vormittag ist unsere Mutter gestorben.“
Wie oft vermag sich ein Leben innerhalb weniger Stunden drehen? Am Freitag in die Notaufnahme, der Samstag als erster Tag eines neuen Lebensabschnitts mit Diabetes, am Sonntag die Nachricht vom Tod der Mutter in einem Krankenhaus, knapp 80 Kilometer entfernt. Völlig unerwartet traf mich zumindest Letzteres nicht. Es war und ist ihr Leben lang erstaunlich gewesen, wie sich meine Mutter von ihren unzähligen Operationen und medizinischen Notfallsituationen erholt hat. Bis zuletzt rappelte sie sich immer nochmal auf.
Dass sie 87 Jahre alt werden würde, habe ich nie erwartet. Dass sie ausgerechnet dann sterben würde, während ich selbst in einer lebensbedrohlichen Lage war, die mein Leben komplett verändern würde, war hingegen, nun, überraschend.
Ich konnte nichts mehr für sie tun. Ich hatte nun die Aufgabe, mich um mich selbst zu kümmern. Ich erkannte, dass ich mit mir selbst nicht gut umgegangen bin. Dass die familiäre Prägung mit meiner Maskierung von Schwäche fest verbunden ist, ist mir einigermaßen deutlich bewusst. Dass es Zeit ist, einiges zu verändern und mit dem Tod meiner Mutter loszulassen, auch.
Die Information, dass ich ziemlich sicher die ganze Woche über noch im Krankenhaus sein würde, erfüllte mich daher mit einer gewissen Erleichterung. Ich war von der Pflicht, eine Entscheidung zu treffen, entbunden. Ich durfte im Schutz des Krankenhauszimmers bleiben und wieder lebendiger werden. Zumal ich an diesen ersten Tagen noch nicht wusste, was genau auf mich zukommen würde.
Diabetes, aha. Aber Typ 2? Oder Typ1? Was bedeutet das?
„Frau Ladwig, Sie haben Diabetes.“ Während mir mein Hausarzt bei der Eröffnung seiner Diagnose noch ein „… vermutlich Typ 1 LADA: Late onset autoimmune diabetes in adults“ zuwarf, herrschte im Krankenhaus zunächst keine Klarheit, welchen Typ Diabetes ich denn nun habe. Mit fast 53 Jahren ist es ziemlich selten, noch mit Typ 1 diagnostiziert zu werden. Es gibt diese Autoimmunerkrankung auch im Erwachsenenalter, aber die Wahrscheinlichkeit sinkt deutlich mit zunehmendem Alter. Typ 1 wird in der Regel in Kindheit oder Jugend diagnostiziert. Oft ist er genetisch bedingt. Die Forschung vermutet auch Virusinfektionen als Ursache. Aber es gibt wohl noch viel Unklarheit über Ursachen und Auslöser. Und zumindest in meiner Familie ist mir nicht bekannt, dass jemand irgendeinen Typ Diabetes hatte.
Im Unterschied zu Typ 2 ist Typ 1 nicht durch falsche Ernährung und mangelnde Bewegung verursacht oder eine Begleiterscheinung anderer Erkrankungen. Beim Typ 1 zerstört das Immunsystem die insulinproduzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse. Typ 1 LADA ist unterschiedlich ausgeprägt und wird manchmal auch als Typ 1.5 bezeichnet, weil es bei den Symptomen durchaus Überlappungen mit Typ 2 geben kann.
So ganz durchblicke ich das auch noch nicht. Das beunruhigt mich aber nicht, denn dass es kompliziert ist, zeigte mir, dass ich einen Tag lang als Typ 2 behandelt wurde – bis Antikörper in meinem Blut festgestellt wurden, die eindeutig auf Typ 1 hinwiesen. Da ich mit allen möglichen Nebenwirkungen auf die Behandlung mit Ozempic und Metformin reagiert hatte, war ich ziemlich froh, als ich erfuhr, dass es von nun ab „einfach“ Insulin sein wird. Denn darauf reagierte mein Körper begeistert: mit der ersten Injektion ging es mir schlagartig besser.
Insulin forever!
Bis an mein Lebensende werde ich nun Insulin benötigen. In die Erleichterung, dass es sowohl eine eindeutige Diagnose als auch eine bewährte Therapie gibt, mischten sich auch beunruhigende Gedanken: In einer instabilen Weltlage mit fragilen Lieferketten, der globalen Klimakatastrophe und bedenklich rückwärtsgewandten, fossil orientierten Politiker*innen wird mein Leben abhängig sein von der Verfügbarkeit und Finanzierung eines Medikaments.
Die Sorge wurde nur unwesentlich kleiner, wenn ich mir meine privilegierte Lage als Bürgerin eines Landes verdeutliche, in dem es viele Probleme derzeit nicht gibt. Aber ich schob sie beiseite. Denn was nun zählte, war das Hier und Jetzt. Klarkommen. Hinzulernen. Die Blutzuckerwerte stabilisieren. Geist, Seele und Körper ins Gleichgewicht bringen.
Im Krankenhaus gab es ein Diabetesteam, das jeden Morgen über mein Wohl beriet. Darin war der bedächtige junge Arzt, der mich schon in der Notaufnahme untersucht hatte. Ich lernte meine Diabetesberaterin kennen, die eine angehende Diabetesberaterin an ihrer Seite hatte. Ich lernte die Pfleger*innen kennen, die meine Werte und mein Wohl im Blick hatten. Ich konnte mich fallen lassen in die gute Umsorgung.
Was mir sehr entgegenkam: Von Beginn an durfte und sollte ich mitmachen. Die Schulung war in ein Beratungsgespräch mit Raum für meine Fragen gebettet. Ich wurde auf Augenhöhe informiert. Ich erhielt mit der Diagnose Typ 1 ein Blutzuckermessgerät, mit dem ich dann selbst „blutig“ per Pieks in die Fingerbeere Messungen vornahm. Und ich spritzte erstmals selbst Insulin unter Begleitung der Pfleger*innen.
Ganz gut, dass ich subkutanes Spritzen schon gut von der Behandlung von Pferden und Hunden kannte. Mich kostete es keine Überwindung, eine Spritze in lebendiges Fleisch zu setzen. Viel trinken sollte ich, denn ich war immer noch sehr dehydriert. Zwischenzeitlich gab’s auch nochmal einen Liter Flüssiges vom Tropf.
Spritzen oder Sterben – die Wahl ist einfach.
Hilft ja nüscht. Ich neige glücklicherweise nicht zum Hadern. Für mich war die Diagnose mit der Beginn der Insulintherapie eine Lösung, keine Last. Was für eine Erleichterung, dass es nicht nur eine Diagnose gab, sondern auch eine Therapie, bei der ich selbst mit dazu beitragen kann, dass es mir gut geht. Denn zu erleben, wie das Leben zurück in meinem Körper strömte, der endlich die Energie bekam, die er so lange vermissen musste, ließ mich ab Mitte der Woche mit leuchtendem Blick durch die Gänge des Krankenhauses hüpfen. Kein unstillbarer Durst mehr. Kein Herz, das mir nachts bis zum Hals klopfte. Kein trockener Mund mehr. Einfach schlafen können. Der Kopf klarte auf.
In den nächsten Tagen würden noch viele Untersuchungen folgen. Denn eine Überzuckerung über diesen recht langen Zeitraum kann im Körper verheerende Folgen haben. Weshalb im Rahmen der Insulintherapie auch eine gute Stabilisierung der Blutzuckerwerte vor Folgeerkrankungen schützen soll. Trotzdem sich mein Allgemeinzustand besserte, waren die Blutzuckerwerte noch recht hoch. Eine Senkung der Werte musste mit Vorsicht herbeigeführt werden, damit der Körper sich nach und nach erholen konnte. Haben die Organe und Gefäße Schaden genommen? Wie steht es um Herz und Nieren? Da kam einiges auf mich zu.
Ein letztes Geschenk für meine Mutter
Als mein Vater vor einigen Jahren starb, baten wir einen Trauerredner, bei der Trauerfeier die letzten Worte zu sprechen. Obschon ich das Gefühl hatte, ihn gut mit Informationen über meinen Vater und sein Leben versorgt zu haben, sprach er schließlich von jemandem, der mir völlig unvertraut war. Im Nachhinein bedauerte ich, nicht meinem ersten Impuls gefolgt zu sein, die Trauerrede selbst zu schreiben und zu halten. Mich hielt damals die schwierige familiäre Situation ab, die drückende negative Stimmung, mein fehlendes Selbstvertrauen. Diesmal wusste ich, dass ich mich von all dem nicht beirren lassen wollte: Meine Trauerrede sollte ein letztes Geschenk für meine Frau Mutter sein.
Es war mir ein Bedürfnis, von ihr in aller ihrer Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit zu sprechen, und zwar als ein Mensch, der die meiste Zeit seines Lebens nicht alt und tot war. In den Tagen im Krankenhaus, in meinem klösterlich stillen Krankenhauszimmer, fand ich die Ruhe und die Zeit, mich zu erinnern und die Geschichten von ihr aufzuschreiben, die sie selbst in all den Jahrzehnten so oft erzählt hatte.
Ich war auch sehr froh, dass ich mit meinem Diabetesteam vorbereiten konnte, wie dieser erste Ausflug ins Sauerland mit Insulin funktionieren könnte. Die Trauerfeier würde nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus stattfinden. Doch erstmal war ich noch dort und versuchte, zu verstehen, was all diese Veränderungen für mich, für meinen Hern Hoffmann und mich, für meine Arbeit und mich und für meine Lebenswünsche und mich bedeuten.
Enthoben der Welt war der Balkon mit Stuhl und Tisch Gold wert. Ich saß viel draußen, aß dort meine Mahlzeiten, betrachtete das Wolkenkino und die Krähen (die mich zurück betrachteten) und meine Gedanken. Und Gefühle. Ja, was fühlte ich denn eigentlich?
Was zuvor geschah:
Mein neues Leben mit Diabetes (1): Ab in die Notaufnahme

Ich sende eine feste Umarmung,.
Danke, liebe Ute. <3
Das Leben haut einem manchmal ganz schön was um die Ohren, ne? Aber wie gut, dass du jetzt die Diagnose hast und weißt was zu tun ist. Auch wenn es wahrscheinlich eine Wahnsinns-Umstellung ist. Ich drücke dich und wünsche dir, dass du alles gut in deinen Alltag inegrieren kannst und die neu gewonnene Energie dich sanft umfließen möge.