Das erste Mal in den Krankenhausgarten.
Das erste Mal vor die Tür auf die nahe Einkaufsstraße.
Das erste Mal Kochen unter anderen Voraussetzungen.
Der erste Gang durchs Agnesviertel.
Das erste Mal mit dem Rad in den Garten.
Die erste Trauerrede auf der Trauerfeier für meine Mutter.
Das erste Mal auswärts zu essen.
Das erste Mal müde und panisch mit Unterzucker spätabends am Küchentisch.
Das erste Mal müde und panisch mit Unterzucker spätabends auf der Kante des Hotelbetts.
Das erste Mal die Kohlenhydrate falsch schätzen.
Das erste Mal mein Langzeitinsulin vergessen und, zack, Achterbahn der Blutzuckerwerte.
„Du wirst Fehler machen. Und das ist gut so.“
Das sagte mir meine Diabetesberaterin Michaela im Krankenhaus. Was sie meinte: Aus Fehlern lernt man, wenn man sie nicht beiseite wischt, sondern sie reflektiert. Mir sind in der Zwischenzeit schon einige Fehler unterlaufen. Darunter welche, die ich sicher nicht zum letzten Mal machen werde, wie etwa die benötigte Menge Insulin falsch zu schätzen, weil ich Art und Menge der Kohlenhydrate unterschätzt habe. Woraufhin der Blutzuckerwert in die Höhe springt oder ins Bodenlose fällt. Ersteres lässt sich durch Nachspritzen korrigieren. Letzteres ist gefährlich, weil Unterzucker ins Koma und zum Tod führen kann. Daher haben Menschen mit Diabetes Typ 1 immer sowas wie Traubenzucker, Gummibärchen oder Saftpäckchen dabei. Oer auch ein Notfall-Nasenspray, wenn es wirklich wild wird und man sich nicht mehr selbst helfen kann.
Wie viele erste Male es doch in den letzten Wochen für mich gab. Nicht zum ersten Mal verzweifelte ich vorhin an den Textaufgaben, die sich mir bei der Berechnung der sogenannten Broteinheiten stellen, an der sich die Menge des benötigten Insulin bemisst. Nachdem ich diesen Job von meiner Bauchspeicheldrüse übernommen habe, bewundere ich einmal mehr die komplexen und fein aufeinander abgestimmten Abläufe in meinem Körper. Erst wenn man einen davon ungeübt und von außerhalb des Systems zur Ausführung rausgereicht bekommt, wird deutlich, was alles dazu gehört, damit es fluppt.
Hier fluppt es jetzt nicht so.
Bei verhassten Textaufgaben habe ich sofort ein Brett vor dem Kopf. Ich nenne es nur halb scherzhaft Zahlenlegasthenie, denn ich erinnere mich zugleich daran, dass mir rein abstrakte Rechenaufgaben in der Schule eher leicht fielen. Aber sobald Text hinzukommt, erwacht ein bockiger Geist in mir, der nach Plausibilität der oft so ungelenk formulierten Textaufgabe fragt. Ach, inzwischen werden Textaufgaben Sachaufgaben genannt. Ich erinnere mich, dass dies neulich jemand im Gespräch erwähnte.
Nun gibt es heutzutage digitale BE-Rechner, Apps und KI-Tools, die Menschen diese lästige, aber lebensnotwendige Aufgabe abnehmen wollen. Bei allen Vorteilen von Technologien, die das Leben vereinfachen (sollen): Es ist durchaus sinnvoll, zumindest die Grundlagen begriffen zu haben, bevor man sich auf technische Hilfe verlässt. Der Knoten wird schon noch platzen. Ich finde es nur ziemlich anstrengend, nun Zutaten abzuwiegen anstatt wie gewohnt aus der Lamäng zu kochen und einfach drauflos zu essen.
Es gibt allerlei Hilfestellungen zu Fuß, sprich auf dem Papier. Aber an manchen Tagen zerbirst mir schlicht der Kopf. Was ich begreife:
Mit Diabetes Typ 1 gibt es keine Pausen.
Das lese ich auch bei den Menschen, die in diesem Internet von ihrem Alltag mit Diabetes berichten. Ist allerdings gar nicht so einfach, Menschen in einer ähnlichen Situation zu finden. Die meisten mit Typ1 sind es seit ihrer Kindheit oder Jugend, was der Regelfall ist. Da gibt es einfach andere Fragen, andere Erfahrungen. Ich stelle mir ein Aufwachsen mit einer chronischen Erkrankung, mit ständiger Überwachung und mit dem Muss an Selbstdisziplin schwer vor. Ich verspüre mit 52 rebellische Anwandlungen eher mit Blick auf die Politik und bin mittlerweile gut mit mir selbst befreundet. .
Alles wird sich finden.
Mein Mantra seit der Diagnose. Ich bemühe mich, gnädiger und geduldiger mit mir umzugehen. Es war ein Glück, dass ich wegen der krassen Überzuckerung und Dehydrierung im Krankenhaus gelandet war. Die Tage dort ermöglichten es mir, innezuhalten und das Neue kommen zu lassen. Im Nachhinein frage ich mich, was ich eigentlich in der Zeit gemacht habe. Nicht viel, denke ich. Kaum gelesen. Nur ein Mal den Fernseher angeschaltet. Ich bin etwas herumgelaufen, nicht immer zur Freude der Pfleger*innen und Ärzt*innen, weil es für sie praktischer ist, wenn man greifbar ist. Wie bei meinem letzten Krankenhausaufenthalt Anfang Januar wollte ich auch diesmal außer Herrn Hoffmann keinen Besuch.
Gleich vorm Krankenhaus ist die Allee der Menschenrechte, die ich einige Male abschritt. Kaum jemand bleibt bei den Bodenplatten mit den einzelnen Menschenrechten stehen. Es ist ein Parkstreifen, den Menschen passieren, um irgendwohin zu kommen. Nicht um stehenzubleiben. Es sei denn, man ist eine nun wieder bewegungsfreudige Patientin, die sich über ein Stück Grün freut. Jede der Platten mit einem Menschenrecht stimmt mich nachdenklich. Das Recht auf Gesundheit natürlich besonders. Ich denke darüber nach, wie man die Menschenrechte und ihre Bedeutung für unser aller Leben und Alltag sichtbarer und spürbarer machen könnte. Gerade auch für die Menschen, die tagtäglich Entscheidungen für uns alle treffen.
Looking at you, Bundesregierung.
Ich sehe was, was du nicht siehst.
Menschenrechte, ja. Aber bleiben wir beim Thema dieser Reihe: Es gab für mich Untersuchungen, in denen die inneren Organe überprüft wurden. Hier und da wurden mir Körperflüssigkeiten abgezapft. Ich scheine Glück gehabt zu haben. Mein Körper ist offenbar recht widerstandsfähig. Mein Humor auch. Der sehr ostwestfälisch wirkende Kardiologe bescheinigte mir nach der Ultraschalluntersuchung staubtrocken, dass ich zwar noch der weiteren Zufuhr von Flüssigkeit bedarf, aber ansonsten alles prima aussieht, mein vor über 25 Jahren diagnostizierter Herzklappenprolaps nur schwach ist und dann kam’s: „Sie lassen sich gut untersuchen. Es war ja auch eine nette Unterhaltung.“ Innerlich ergänzte ich ein „gerne wieder“ und gab mir fünf Sternchen.
Prustend ab.
Ich lasse mich gar nicht gern untersuchen, bemühe mich aber um Kooperation. Und plaudere inneres Unbehagen gern weg. Daher fällt es selten auf, dass ich mich eigentlich unwohl fühle.
Die Vertreibung aus dem Paradies
Unwohl fühlte ich mich auch, als ich nach dem Wochenende aus meiner stillen Klosterzelle, ahem, aus meinem Krankenhauszimmer vertrieben wurde. Der Montag begann geschäftig und zwei Patientinnen auf dem Zimmer ließen sich verständlicherweise einfacher bewirtschaften. Todunglücklich fand ich mich in einem kleineren Zimmer wieder – mit luftdicht verschlossenen Fenstern, die Balkontür zu. Die alte Zimmernachbarin war zum Gespräch entschlossen und zum Krankenhauspersonal garstig. Sie sparte nicht mit rassistischen und verletzenden Äußerungen, äußerte Ansprüche, als sei sie in einem Hotel der Extraklasse. Sie thronte im Krankenhauskittel ohne Not im Bett und war nicht bereit, in irgendeiner Weise etwas für ihre Genesung zu tun.
Es wurden anderthalb höllische Tage, die mir heftige Kopfschmerzen und auch noch wegen der anfänglich auf Typ 2 abgestimmten Behandlung erhebliche Magenprobleme bescherten. Ich verbrachte erstmal viel Zeit im Aufenthaltszimmer der Station – nicht zur Begeisterung des Stationsteams, das mich trotz Bescheidgebens unauffindbar fand.
Immerhin konnte ich meine Zimmernachbarin dazu bringen, sich mit ihren Äußerungen zu mäßigen. Und nach und nach war es möglich, erst die Fenster und dann die Balkontür zu öffnen. Als ich dann endlich meine Mahlzeit wie gewohnt auf dem Balkon verspeiste, jubelte es mir aus dem schräg gegenüberliegenden Personalzimmer zu: Die Wibke sitzt wieder draußen! Denn die Zimmernachbarin war hinreichend bekannt auf der Station. Mein Triumph war auch der des Stationsteams. Nachdem die Zimmernachbarin am späten Mittag des zweiten Tages endlich entlassen war, blieb ich den Rest der Woche allein. Dank Fenster und Tür auf und Stille rein wurde auch das neue Zimmer zur heilsamen Klosterzelle.
Hosianna!
Kurz fiel ich in alte Muster zurück und bot einer jungen Mitpatientin das nun leere Bett an, als sie sich bei mir über wiederum ihre Zimmernachbarin beschwerte. Wie erleichtert ich war, dass die Situation offenbar vom Stationsteam anders gelöst wurde. Ich nahm meinen Luxus von Stille und Alleinsein einfach an. Ich fühlte mich gut aufgehoben. Ich denke sehr dankbar an diese Tage zurück, die mir den Übergang in mein neues Leben mit Diabetes erleichterten. Spannend indes wird der nächste Beitrag, in dem es ums Essen geht. Und um Ernährung. Dass das unterschiedliche Dinge sein können, führt so ein Krankenhaus doch recht vorbildlich vor.
Was bisher geschah:
Mein neues Leben mit Diabetes (1): Ab in die Notaufnahme
Mein neues Leben mit Diabetes (2): Es geht um Leben und Tod


 
				 
				 
				 
				 
				 
				 
				 
				 
				 
				 
				