Die letzten Töne des Nachspiels sind verklungen. Der Organist seufzt zufrieden und packt seine Sachen zusammen. Er streichelt kurz über die Orgel und verlässt den Raum. Husch! Husch! Zwei Mäusenasen zucken schnuppernd zwischen den Orgelpfeifen. Die feinen Schnurrhaare zittern. Die Luft ist rein.
Lineares Storytelling im Internet – und dann auch noch eine Heldenreise? Mit einer Stoffmaus? Ja, genau. Seit Anfang Februar tummelt sich ein pelziger Tunichtgut im Internet und erlebt seine Geschichte von Abenteuer und Musik: die Orgelmaus.
Erzählen auf mehreren Ebenen
Die Orgelmaus ist ein Bildungs- und Kulturkommunikationsprojekt der Bayerischen Sparkassenstiftung in Kooperation mit dem Kulturreferat der Stadt Regensburg. Das Transmedia-Storytelling-Projekt hat zwei Ebenen: auf der ersten Ebene erzählen wir die Geschichte der Orgelmaus als Heldenreise. Eine junge Maus soll die Nachfolge ihrer Mentorin und Großmutter antreten. Aber es gelüstet sie nach Abenteuern und der großen, weiten Welt. Es kommt, wie es kommen muss: ihr Wunsch geht in Erfüllung. Dass man vorsichtig sein muss mit dem, worum man die Götter bittet, stellt unsere Heldin rasch fest …
Auf einer zweiten Ebene werden erzählerisch musikalische und historische Fakten über die Orgel vermittelt. Beide Ebenen haben zum Ziel, Interesse, Sympathie und Aufmerksamkeit für die historische Orgel in Regensburg zu schaffen. Anlass für dieses Projekt ist die von der Firma Eule in Bautzen durchgeführte Restaurierung der historischen Orgel, die 1627 vom Nürnberger Stephan Cuntz gebaut wurde. Diese Maßnahme wird vom Sparkassenverband Bayern und der Sparkasse Regensburg gefördert. Anfang Juni wird die Rückkehr der Cuntz-Orgel mit einem Konzert in der Regensburger Minoritenkirche gefeiert.
Storytelling-Projekt planen und umsetzen
Im Grunde gibt es aber auch noch eine dritte erzählerische Ebene: Wie plant man ein solches Projekt und wie setzt man es um? Es ist ein Vorteil, wenn sich ein Team findet, das bereits in anderen Projekten gut miteinander gearbeitet hat: mit Frank Tentler und Christian Spließ arbeitete ich bereits für das Projekt Brasil Literature zusammen, eine Entdeckungsreise in die brasilianische Literatur auf der Frankfurter Buchmesse 2012. Außerdem habe ich Storytelling-Workshops bei einigen von Franks Projekten gemacht, etwa bei #holzvonhier oder für die App #Donauerleben. Wir kennen und schätzen uns – und können uns vor allem gegenseitig einschätzen. Als Frank dann noch die perfekte Besetzung für die Orgelmaus fand, nahm das Projekt Fahrt auf.
Das Knacken dröhnte durch die Stille. Ein Fauchen. Ein Fauchen? Maus zuckte zusammen. Keine gute Idee. Denn sie hangelte am Rand der Kiste, halb drinnen, halb draußen. Noch während sie überlegte, ob es in der Kiste nicht doch besser wäre, verlor sie das Gleichgewicht und kippte kopfüber über den Rand der Holzkiste. Mit einem dumpfen Platsch landete sie auf ihrem pelzigen Allerwertesten − und blickte in ein Paar bernsteinfarbene Augen, die ihr aus einem unergründlichen schwarzfelligen Gesicht entgegenblickten.
Das Storytelling der ersten Ebene ist auf drei Monate angelegt: von Anfang Februar bis Ende April erzählen wir in wöchentlichen Folgen die Heldenreise der Orgelmaus. Diese Folgen werden in einem WordPress-Blog veröffentlicht. Der Twitter-Account @orgelmaus und die Seite Projekt Orgelmaus bei Facebook dienen als Verlängerung ins Social Web und als Einladung zum Dialog. Als Hashtag verwenden wir #Orgelmaus, den wir verfolgen und für die Aufnahme von Kontakt und Dialog nutzen. Parallel erzähle ich bei Instagram Story-Schnipsel in Bildern und mache ein wenig #orgelmausleaks.
Ich bin bei diesem Projekt vor allem Autorin. Es gab Daten und Fakten über die Minoritenkirche in Regensburg, die Orgel, die Restaurierung bei der Firma Eule in Bautzen, einen Zeitplan sowie die Pelzmaus in meinen Händen. (Die Maus kommt übrigens aus einer Spielzeug-Manufaktur in Bad Kösen (Sachsen-Anhalt). Dort werden Plüschtiere liebevoll von Hand genäht.) Und mit diesen Zutaten habe ich mir eine Geschichte nach dem Prinzip der Heldenreise nach Joseph Campbell ausgedacht. Kreativen Input gab es dabei von Christian Spließ, der auf einem großen Schatz von erlesenen und ersehenen Geschichten sitzt.
Sollte eine Story im Internet nicht non-linear und interaktiv sein?
Wenn es um Storytelling im Internet und speziell in Social Media geht, kursieren viele Ratschläge, Artikel und Master-Arbeiten. Generell wird ein non-lineares und dynamisches Storytelling angestrebt, bei dem der Leser in die Story eingreifen kann. Die Interaktivität wird hierbei als wesentlich für den Aufbau von Kontakt und Dialog verstanden und die Verbindung mit der Story sei intensiver. Eine technisch aufwändige interaktive und non-lineare Geschichte ist aber nicht zwangsläufig eine gute Geschichte. Insofern ist die Orgelmaus durchaus auch ein Experiment, mit dem ich prüfen möchte, ob eine lineare Story im Stil einer klassischen Fortsetzungsgeschichte nicht doch funktioniert.
Meiner Meinung nach sollte eine gute Geschichte in jeder Form funktionieren können. Und ich denke, man darf das Bedürfnis der Menschen nach unterhaltsamen Erzählungen nicht unterschätzen. Nicht jeder möchte im Social Web unentwegt interagieren und eigene Inhalte schaffen. Es gibt einen hohen Anteil von Menschen, die gern einfach nur mitlesen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auf privatem Wege und außerhalb des Internets wertvolle Weitersager sein können.
In Maus rumorte es. Und es war nicht nur ihr Magen, der knurrte. Die ganze Maus knurrte. Ob sie hungrig war? Natürlich. Das Magentratzerl von vorhin vermochte ihren Hunger nicht zu stillen. Aber Maus knurrte − vor Zorn! Sie hatte die Nase voll. Hatte sich denn die ganze Welt gegen sie verschworen?
To hell with facts! We need stories! (Ken Kesey)
Und die Geschichte funktioniert. Die Abenteuer der Orgelmaus werden von immer mehr Menschen verfolgt. Seit der ersten Folge hat die wagemutige Maus treue Fans. Zahlen allein sagen dabei wenig aus. Das Blog hat zum Beispiel bisher knapp 4.000 Aufrufe. Viel? Wenig? Interessanter ist, wenn man sich ansieht, wer die Geschichten liest: Kulturinteressierte, Kulturarbeiter, Autorinnen und Autoren, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus Bibliotheken und Verlagen, Büchermenschen, Kirchenmusiker – und Maskottchen von anderen Kulturinstitutionen. Diese sprechen über die Orgelmaus und die Orgel, empfehlen die Beiträge weiter und freuen sich, wenn es Neues gibt.
Hierbei kommt uns natürlich die gute Vernetzung des Teams zugute. Ich finde sehr schön, dass die Orgelmaus gerade in meinem Netzwerk ein warmes Willkommen erlebte. Die eigene Reichweite in einem Projekt einzusetzen ergibt nur Sinn, wenn es auch passt – inhaltlich und vom Ton her.
Mir persönlich macht dieses Projekt viel Freude, zumal ich mich hier als Autorin einfach mal austoben darf: Geschichten ersinnen, sie zu planen, Lieblingswörter und -zitate darin zu verstecken, mit den Geschichten und mit dem Sprechen über Geschichten Aufmerksamkeit für ein schönes und sinnvolles Projekt zu erzeugen und Kultur mit leichter Hand ins Internet bringen.
Gern mehr davon! An Ideen für gute Geschichten mangelt es mir nicht.
Blog: https://orgelmaus.wordpress.com
Alle bisherigen Abenteuer auf einer Seite: https://orgelmaus.wordpress.com/abenteuer
Einfach nur schnuffig – Idee und Ausführung!
Danke, Uschi, das freut mich sehr!