Ich trete vor die Tür und ein eisiger Wind treibt mir die Tränen in die Augen.
Vor Wochen sah es nach Winter aus, fühlte sich aber nicht so an. Nun sieht es nach Frühling aus und, nun ja. Ich krame in den Taschen meiner Winterjacke und finde Treibgut aus anderen Zeiten, vielmehr aus einer anderen Welt: Schnipsel von Workshops, Muscheln vom Strand in Flandern, ein mumifiziertes Hustenbonbon (geht aber noch!), einen Lutscher vom Besuch im Arp Museum und ein fadenscheiniger Einkaufszettel. Was steht darauf? Natürlich: Klopapier. Einst ein ganz normaler Einkauf.
Als ich zuletzt einen Gang ins Heimbüro aufzeichnete, beschäftigte mich die Frage, wie lange das noch möglich sein kann. Aber offenbar ist auch den Menschen an entscheidender Stelle bewusst, dass ein Gang zu Fuss oder eine Fahrt mit dem Rad der Gesundheit von Leib und Seele nur förderlich sein kann. Allein, versteht sich.
Die Straßen sind leer.
Hier und da sieht man ein bis zwei Menschen umhergehen. Vereinzelt fahren Autos. Es ist sonntagmorgenstill. Entgegen sonstiger Montage habe ich nicht gleich einen sauren Film von den Abgasen der unzähligen Pendlerautos auf der Zunge. Einer muss trotzdem mit Karacho bei Rot fahren. Die Litfaßsäulen tragen inzwischen viel Weiß. Ich blicke auf die vergebliche Vorfreude von Vorgestern. Kein Kölner Fest für Alte Musik, längst abgesagt.
In der Nachbarschaft ein Banner der Liebe.
An den Wegrändern Aussortiertes auf den Bänken: Spiele, Bücher, Dinge. Am Rhein springen derweil Blüten und Blätter aus den Knospen. Am Anleger ist alles ruhig. Vater Rhein ist wieder zwei Meter tiefer gelegt. Heute morgen glänzt er in tiefem Blau. Ein kalter, ein schöner Tag.Der Strom fließt ruhig.
Doch in mir ein tobendes Meer: Wellen aus Adrenalin erfassen mich. Sorge, Kummer, Angst – ich kann das Gefühl nicht wirklich benennen, doch ich lasse es fließen. Im Gehen wird die See allmählich ruhiger, der Schritt fester und zuversichtlicher. Verzweifeln gildet nicht.
Auf der Hundewiese toben zwei Hunde einem Ball hinterher.
Die Inhaberinnen stehen in weitem Abstand zueinander in der Sonne und betrachten das jappende Schauspiel. Eine drittes Paar aus Hund und Herr nähert sich. Man ahnt die Unschlüssigkeit: Und jetzt? Die Hunde machen ihr Ding wie immer, ein pelziges Knäuel, die versehentliche Gruppe von Drei steht wie bei einem Fangspiel in einem weiten Rund.
Über mir in den Bäumen geschäftiges Geflatter.
Hm. Diese Vögel habe ich in dieser Vielheit aber noch nicht gesehen. Etwa so groß wie eine Amsel, bunte Brust, grauer Kopf. Wacholderdrosseln? Doch sie sind so, nun, rundlich. Aber gut, der Ruf stimmt, es ist kalt. Da wird man auch als sonst schlanke Wacholderdrossel zum Federball. Es scheint um die Balz zu gehen. Man flattert bedeutungsvoll mit den elegant nach unten weggeschlenzten Flügeln, hin und wieder zanken sich zwei um die Gunst einer dritten.
Mutter Natur wirft Konfetti.
Die Magnolien haben es eilig, wie in jedem Jahr: Knospen aufpumpen, ins Blühen zerplatzen lassen, Blüttenblätter abwerfen, fertig. Vor mir fliegt eine Bande Buchfinken auf. Der Specht hämmert. Ich sehe und höre viel mehr Vögel als sonst. Wo der Mensch weicht, nimmt sich die Natur wieder den Raum. „Der Baum blüht trotzdem.” (Hilde Domin)
Ich erreiche die Haustür und spüre, wie müde ich heute bin.
Bis gestern verfolgte ich schreckensstarr die Nachrichtenlage. Irgendwie rannte ich wie angestochen durch die Gegend. Ich schlief meistens nicht gut. Nun wiegen die Knochen wie die Gedanken schwer. Vielleicht braucht es mal einen Tag mit wenig von allem.
Wohlan.