Ich trete vor die Tür und finde mich inmitten von urbanem Rauschen wieder.
Moment mal, war doch alles nur ein böser Traum? Autos und LKWs fahren geschäftig vorbei, Menschen eilen, allein, aber doch außergewöhnlich viele. Es könnte fast ein normaler Tag sein. Aber dann sehe ich mich um: All die geschlossenen Läden. Die gedämpfte Stimmung. Und dann ist der Schwung an Geschäftigkeit auch schon wieder vorbei. Stille. Beinahe.
Ein eisiger Ostwind weht mir entgegen. Ich lenke meinen Schritt zum Rhein. Ich treffe an der Straßenecke auf die nette Dame aus der Änderungsschneiderei nebenan. Aus sicherer Entfernung erfahre ich, dass sie heute stundenweise geöffnet hat. Wie schön, der Mann hat da noch seine Winterjacke. Ein kaputter Reißverschluss, dereinst in einem anderen Zeitalter, nun wieder heil.
Am Anleger alles ruhig.
In aller Seelenruhe blicke ich auf der Treppe über den Strom und mache ein Foto. Bis mich von hinten ein Jogger andrängelt, dass er vorbei wolle. Immerhin quetscht er sich nicht wie gewöhnlich einfach vorbei, sondern sagt etwas. Selbst wenn ich seinem erzürnten Blick entnehme, dass er das als Zumutung empfindet. Nun ja, mein Lieber. Put the Social into Social Distancing. Wer den Mund aufmacht, dem kann geholfen werden.
Azurblau ist der Himmel.
Keine Kondensstreifen. Kein Wölkchen. Kein Katastrophenfilm hätte sich einen solch heiteren Himmel erlauben können. Gibt es überhaupt Katastrophenfilme, die im Frühling spielen? Während sich oben das neonfarbene Grün in den Himmel räkelt, taumeln unten die Zombies? Ich weiß es nicht, muss aber lachen bei der Vorstellung. Eine Passantin mustert mich misstrauisch. Ich winke ab. Kein Husten. Prusten!
Der Blick nach vorn gibt indes derzeit wenig her. Zukunft ist eine Chimäre. Ich schaue also nach oben. Danke, Frühling. Ich bin wirklich froh, dass wir nicht November oder Januar haben …
Vögel, Vögel, lauter Vögel!
Überall sehe ich sie. Überall höre ich sie. Ich liebe es. Nun, und sie lieben sich. Von Social Distancing halten die mal gar nichts. Die sind auf Fortpflanzung konzentriert. Zwei Drosseln spielen Haschmich, ein Rotkehlchen schaukelt in der Platane und singt sich die kleine Seele aus dem Leib, hm, ist das da ein Star? Muss der nicht rudeln? Und tatsächlich kann es kein Star sein. Der Ruf ist anders. Ab morgen werde ich ein Vogel-Shazam auf dem Mobilgerät haben. Und ich nehme ein Fernglas mit. So geht es nicht weiter.
Auf der Hundewiese betreibt jemand Frühsport.
Astreine Rumpfbeugen. Solidarisch strecke ich mich ein bißchen. Atmen hilft überdies. Nachdem gestern diese hilfreichen Empfehlungen zur Verbesserung der Lungengesundheit herumkamen, gönne ich meinem Brustraum öfter bewusst Raum und Luft.
Miteinander warm werden
Wie eigenartig fremd einem doch unvermittelt Bilder von Menschen werden können, die sich im öffentlichen Raum umarmen. Die Plakate zur Aktion der Nippeser Künstlerin Katharinajej fielen mir schon zuvor auf. Doch nun – Ich sah mir gestern ein Lieblingsvideo aus der Blogothèque an und wunderte mich über die Fremdheit beim Anblick von Getümmel und Menschen im Straßencafé. So schnell geht das. Aber miteinander warm werden, sich gegenseitig menschliche Wärme und Zuneigung spenden, das geht auch über das Digitale. Und nebenbei finde ich es ganz schön, dass das nun mehr Menschen begreifen. Wie nett das ist, Alltag vom anderen mitzubekommen. Sich aus der Ferne mitzuteilen, einander zuzuhören, miteinander zu lachen – und plötzlich ist Nähe da.
Auf einer Bank hatte jemand ein Buch über die Radreisen von Rudolf Scharping in Frankreich ausgesetzt. Mich hat es seltsam berührt. Denn noch vor wenigen Wochen waren all meine Gedanken auf die Planung einer Radreise durch Frankreich ausgerichtet. Das Buch nahm ich dennoch nicht mit. Vielleicht ist Rudolf Scharping privat und als Radfahrer ein netter Kerl (weiß man’s?), aber ich muss dann doch immer an ihn mit der Gräfin im Pool denken. Asche auf mein Haupt.
„Bleibt gesund!”
Wie schnell sich diese Grußformel zum Abschied eingebürgert hat. Ich beende längst alle Begegnungen und Mails damit. Und es ist immer sehr ernst gemeint. Ich frage mich, ob das vielleicht befremdlich ist für Menschen, die an Krankheiten leiden. Oder vielleicht frisch erkältet sind und Angst haben, ob es nicht doch was Ärgeres ist. Nun finde ich es doch schon wieder kompliziert. Ich schüttele diesen Gedanken ab und betrete unser Haus. Die Wohnung. Die frisch entstandene Heimbürogemeinschaft. Ach ja, da ist ja nun auch tagsüber jemand. Die Kaffeemaschine ist an. Ich bekomme einen Kaffee. Wohlan!
Sehr schön geschrieben ???????? und immer gesund bleiben ????
Danke, lieber Sven. Du, nein, Ihr bitte aber auch!