Ich trete vor die Tür.
Ein gespenstisches Gefühl. Ich frage mich, wie lange dieser inzwischen selbstverständliche Gang ins Heimbüro noch möglich ist. Die vergangenen Wochen haben die Welt einmal auf Links gedreht und nun liegt sie verkrumpelt und irgendwie kleiner vor mir*.
Während die Sonne vom Himmel und vom Pflaster strahlt, hängen die Gedankenwolken schwer. Das urbane Rauschen ist heute leiser als sonst. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass ausgerechnet in diesen Tagen der Frühling lichte Zuversicht ins ewige Wachsen und Werden spendet. Und es ist fatal: Alle wollen raus.
Die Kreidezeit ist angebrochen. Ich sehe ein Geschwisterpaar auf dem Bürgersteig, wie sie Gehwegplatten ausmalen. Ihre Mutter steht telefonierend einige Schritte weiter. Home Office? Kontakt halten zu Angehörigen und Freunden?
Social Distancing und Social Media
In den letzten Tagen ist mir nochmal bewusst geworden, wie wichtig das Internet als Sozialraum ist, als Begegnungsstätte. Für mich ist das selbstverständlich, aber wie wenig unsere Gesellschaft doch eine digitale ist, macht sich täglich bemerkbar. In digitalen Räumen nicht nur Werbepakete und Beschimpfungen abwerfen, sondern mit Menschen zu sprechen, füreinander da zu sein, miteinander klüger zu werden, zu arbeiten und insbesondere hinzuhören, wie es anderen im Leben ergeht – normal, denke ich. Ist es aber nicht.
Ich selbst spüre die Angst in mir. Sie lauert unter der Decke der verordneten Rationalität und vibriert dort. Ich sehe die Decke vibrieren. Und fühle sie vibrieren. Ich versuche, mir diese Angst nachzusehen. Denn mein Stolz will sie nicht. Die soll weggehen. Die Angst ist die Tochter der Unsicherheit. Was wird werden? Wie ungewohnt es doch ist, dieses Ungewisse. Immerhin ist es ein wenig beruhigend, nicht mit diesen ambivalenten Gefühlen allein zu sein.
Vielleicht liegt in all dem eine Chance, wenn der digitale öffentliche Raum als ebensolcher von mehr Menschen erlebt wird: Als realer Ort der Nachbarschaft. Ich bekomme mit, wie sich Nachbarschaftshilfe organisiert. Da gibt es Solidarität mit allen, die durch die Lage in Not geraten oder mit Tatkraft dafür zu sorgen suchen, die Not aufzufangen. Und im Handumdrehen entstehen digitale Angebote der Kultur, Unterhaltung und Bildung, bestehende werden sichtbarer.
Vielleicht verstehen auch nun mehr Leute, dass Digitales eben nichts ist, was man mal eben schnell und unter- oder nicht bezahlt nebenher macht. Sondern dass man auch im digitalen Raum etwas von echtem Wert schaffen kann: Das Erlebnis von Menschlichkeit und Miteinander. Ermutigung. Inspiration. Konkrete Hilfe.
Vielleicht. Ein Leben im Vielleicht.
All dem etwas Gutes abgewinnen zu versuchen, hilft, einigermaßen bei Verstand zu bleiben. Ich denke darüber nach, wie sehr man in Westeuropa doch daran gewöhnt ist, recht gut planen zu können. Die einzige Unabwägbarkeit ist vielleicht das Wetter. Natürlich wird auch mal jemand krank oder stirbt. Doch das ist nicht wirklich vergleichbar zu dieser eigenartigen Lage, in der wir uns weltweit nun befinden. Über den jetzigen Tag hinaus lässt sich momentan kaum etwas planen. Selbst Beerdigungen werden abgesagt. Weshalb ich am Donnerstag hier Zuhause Tulpen für jemanden aufstellen werde.
Wie lange wird das so gehen? Es ist ungewiss.
Mit geht es wie vielen Freiberufler:innen: Aufträge sind abgesagt oder in eine ungefähre Zukunft verschoben. Mir fehlt aktuell der, ja, genau, der Plan. Das nimmt mir die Handlungsfähigkeit. Ich denke, es wird besser werden. Ich bemühe mich, weniger oft schreckensstarr auf die neuesten Nachrichten zu blicken. Neulich hörte ich Podcasts über Reliquien und Kühe. Für eine Weile an anderes denken.
Die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeit
Inzwischen bin ich an der Hundewiese angekommen: Alles leer. Vereinzelt lüften Menschen ihre Hunde. Vorhin noch beobachtete ich, wie eine mitteljunge Mutter versuchte, eine Bekannte zu umarmen. Diese wich erschrocken zurück. Ich ging an einem Spielplatz vorbei, wo trotz offizieller Schließung Eltern mit ihren Kindern hockten. Sagt man was, wird man ausgelacht. Mir kommt es so vor, als erreichten die Nachrichten und Anweisungen von offizieller Seite viele erst sehr verzögert.
Hat man das Ohr am digitalen Gleis, folgt etwa der Tagesschau (die auf allen möglichen digitalen Kanälen gerade einen richtig guten Job macht), hört Podcasts wie das Coronavirus-Update vom NDR oder Der Tag vom Deutschlandfunk, liest bei Spektrum der Wissenschaft mit und liest von Menschen des Vertrauens empfohlene Artikel, kann man sehr gut informiert sein und das eigene Verhalten entsprechend anpassen.
Ich weiß nicht, wie sich das auswirkt, wenn man auf die Lokalzeitung und das Fernsehen angewiesen ist. Ich finde die Informationen in unserer Lokalzeitung nicht gut aufbereitet. Und wenn man vielleicht im TV Sender wie Phoenix oder ARTE nicht auf dem Schirm hat, sondern sich mit Vorliebe Privatsender reinzieht – möglich, dass man sich selbst nicht sonderlich angesprochen oder betroffen fühlt. Ich weiß es nicht. Ich möchte nicht werten, doch insgeheim tue ich es, natürlich.
Vielleicht suchen auch alle Menschen gerade nur einen Weg, mit dieser diffusen Situation einen Umgang zu finden. Die einen kaufen Klopapier, die anderen wollen betont unbekümmert immer noch andere umarmen oder sie sitzen Schulter an Schulter vorm Büdchen und hauen sich mittags um Zwölf das zweite Bier rein.
Dort eine temporäre Bücherbank.
Was vom Tage übrigblieb. Die Frau, die für ein Jahr lang im Bett lag. Ich bin die Frau, die geht. Ich blicke auf den Rhein, der unbeeindruckt im Bett seinen Geschäften nachgeht. Ist das eigentlich auch Arbeit im Homeoffice?
Heimoffice, Heimbüro
Ich arbeite seit Jahren weitestgehend Zuhause. Es war ein Neujahrsvorsatz vor nunmehr drei Jahren, der mich einen Weg zur Arbeit in meinen Alltag einbauen ließ. Inzwischen schreibe ich nicht mehr täglich über das Gehen. Manchmal drängt die Arbeit, manchmal drückt der Kopf. Doch das Gehen hilft. Wenn mein Fuß die Erde berührt, verbinde ich mich mit der Welt. An manchen Tagen stemme ich mich in den Tag, als herrsche ständiger Gegenwind. An anderen Tagen gleite ich wie auf einem Luftkissen durch den Morgen. Der stete Wandel der Jahrezeiten wirkt ebenso beruhigend auf mein Gemüt wie die Rituale und Abwechiungen im Straßenbild. Wetter ist einfach Wetter. Gehen kann man immer. Nur Sturm und Eis können ein Hindernis sein.
Setze ich mich dann an meinen Schreibtisch, angekommen in meinem Heimbüro, sprudelt der Sauerstoff in mir im nachhallenden Rhythmus meiner Bewegung. So lässt sich arbeiten. Und ein Weg zurück vom Heimbüro nach Hause kann helfen, den nötigen inneren Abstand zu gewinnen.
Vorräte sind wichtig
Meinen Gang ins Heimbüro absolviere ich ungewohnt gemächlich. Heute bin ich Frederick, die Maus von Leo Lionni, die Farben, Wörter und Sonnenstrahlen für schlechte Zeiten sammelt.
Und zum Schluss noch ein Apell an Eure Solidarität:
Unterstützt in diesen Zeiten Eure lokalen Einzelnhändler:innen, die, die vor Ort Steuern zahlen (und das auch tun!), mit denen u.a. Krankenhäuser finanziert werden. Etwa den Buchladen Eures Vertrauens (meiner ist der hier, wo ich auch als freie Mitarbeiterin im Team arbeite). Ihr könnt bei Eurem Buchladen weiterhin bestellen, Euch etwas empfehlen lassen und auch darum bitten: „Packt mir ein Paket mit Büchern“. Vielleicht möchtet Ihr auch jemandem ein Buchpaket in die Quarantäne schicken? Per Telefon, WhatsApp, Signal, Mail und auf der Website. Und noch sind Lieferungen an die Haustür möglich.
Es sind harte Zeiten für inhabergeführte Läden. Klar, für uns alle. Aber umso mehr ein Grund, die Läden zu unterstützen, die Steuern zahlen und mit diesen Steuern u.a. Krankenhäuser finanzieren.
Und vergesst auch die Gastwirtschaften in Eurer Nachbarschaft nicht. Auch diese beliefern Euch oder bieten Abholmöglichkeiten an, solange es möglich ist. Gerade eben war ich bei Meister Lampe. Ohne ihn kann ich mir unser Viertel hier in Köln nicht mehr denken. Es gibt immer noch den Außer-Haus-Verkauf. Zwei Meter Abstand sind gewährleistet. Tupperdosen dürfen nicht mehr gefüllt werden, aber es gibt umweltfreundliche Transportboxen. Essen muss der Mensch! Und einen Solidaritätswein habe ich auch gleich mitgenommen.
*In gewisser Weise ist sie aber auch größer geworden, zumindest dann, wenn ein Mensch, den man lieber wieder Zuhause wüsste, in Südostasien am Flughafen gestrandet ist.