Im Leserückblick wird es Frühling.
Draußen vor der Tür liegt liegefreudiger Schnee, eine unerhörte Sensation in Köln. Im Podcast spreche ich mit Peter über Schnee.
Für neu Hinzugestiegene: Dieser Rückblick ist vor allem eine Reise ins Lesen des vorigen Jahres, verbunden mit etwas Leben. Den ersten Teil gibt es hier: Überall Verwüstung. Abends Lesen. Eine Leserückblick auf das Jahr 2023. Den dritten hier: Im Sommer ging’s heiß her. Leserückblick 2023 zum Dritten. Den Abschluss gibt es hier.
Im April nimmt die Welt wieder etwas Farbe an.
Es gab wieder mehr Grünzeug auf dem Markt. Ich beschäftigte mich mit dem schmalen Grat zwischen noch gerade angemessener freundlicher Penetranz und alles zum Scheitern bringender Aufdringlichkeit, als ich meine Mails an den Kleingartenverein sendete mit der Frage, wie denn der Stand der Dinge ist (wir lauerten auf einen komplizierten Fall, eine Art Problemgarten). Innerlich fragte ich mich außerdem, ob ich mich nun anders fühlen muss: Im März war ich aus der Kirche ausgetreten. Eine ambivalente Angelegenheit, denn vieles, was durch Peter Otten (siehe Podcast) und andere Menschen bewirkt wird, hat meine Hochachtung. Ich verdanke meiner Schule, erst Ursulinengymnasium, dann Erzbischöfliches Gymnasium, enorm viel. Wer meine Geschichten aus der Heimbürokantine gelesen hat, weiß von Schwester Veronika. Aber wie sich die Institution Kirche mit Leuten wie Woelki den Menschen gegenüber benimmt, trage ich nicht mehr mit.
Am Osterwochenende erlaubten wir uns einen kleinen Luxus und setzten uns für ein paar Tage mit den Rädern ins niederrheinische Grenzgebiet ab. Herrliches Rumfahren mit den Abenteuerfahrrädern, Fähre fahren und Besuch von Nijmegen, das war schön. Und dann machte ich auch noch eine Dienstreise nach Regensburg und verband ein bisschen Dienstradreise damit. Ich traf tolle Texter*innen. Und stellte fest, dass unabhängig davon Bayern und ich nicht so wirklich miteinander können. (Söder ist einfach nur ein Symptom, selbst wenn er selbst sich ungeheuer wichtig findet.)
Das Wichtigste an dieser Stelle jedoch: Ich las mich weiter voran.
Alice Winn: Durch das große Feuer
Aus dem amerikanischen Englisch von Ursula Wulfekamp und Benjamin Mildner
Eine Geschichte vom Krieg und von der Liebe – brutal und zärtlich. Wir begeben uns in ein Internat in England im Jahr 1914. Zwei junge Männer, die einander innig und in uneingestandener Liebe zugetan sind. Der Krieg beginnt. Gewalt und Entsetzen des (Über)Lebens an der Front bestimmen alles. Schwierige Zeiten, gerade auch für eine Liebe, die in der damaligen Gesellschaft nicht sein darf.
Alice Winn findet drastische Bilder für die Brutalität des Krieges und stellt diesen die großen Gefühle der jungen Männer entgegen. Ohnehin vermag sie es, ihre Figuren mit wenigen Strichen lebendig und nahbar zu zeichnen. Nichts für die schnelle Lektüre nebenbei, wenngleich ich es kaum weglegen konnte. Kam als Leseexemplar vom feinen Eisele Verlag zu mir.
Caroline Schmitt, Liebewesen
„Schließlich wiegten wir zu Michelle Gurevichs Party Girl hin und her wie zwei, die sich zwar viel auf ihre Teilnahme am Tanzkurs in der neunten Klasse einbildeten, die korrekte Rumba-Schrittfolge aber für überbewertet hielten.“ Michelle Gurevich! Schon allein wegen des ausgezeichneten Musikgeschmacks bin ich diesem Buch überaus gewogen. „Liebewesen“ von Caroline Schmitt saugte mich schon auf den ersten Seiten ein.
Eine Geschichte von Versehrtheit an Körper und Seele. Die Geschichte einer Befreiung. Gut.
Saša Stanišić, Wolf
Eine Geschichte von Freundschaft, Anderssein, Alleinsamkeit und Mut über einen unfreiwilligen Aufenthalt in einem Ferienlager. Im Wald. In einer GRUPPE. (Waaah!)
„Mutter und ich machen Salat. Ich liebe es, mit Mutter Salat zu machen, wir reden dann nur über den Salat. Wir sind komplett für den Salat da.“ Womit man sofort meine salatsüchtige Aufmerksamkeit hat. Aber ich bin auch so sofort gefangen vom Sound des verehrten Saša Stanišić. Die unaufdringliche Wahrhaftigkeit, die freundliche Wärme, das Schöpfen im Wortschatz und wo ein Wort fehlt, wird es erfunden – diese Welt braucht Sašas Bücher.
Dass das Buch auch noch von Regina Kehn illustriert ist – Ehrenplatz erst auf dem Nachtisch, dann im Bücherregal mit den Lieblingen mit Bleiberecht auf Lebenszeit, das ist sicher. Ein sehr gutes Buch für Kinder, noch mehr aber ein Buch für alle Menschen. So wie man manche Bücher von Astrid Lindgren, Tonke Dragt oder Michael Ende umstandslos im gehobenen zweistelligen Alter lesen kann und darf, verhält es sich auch mit diesem Buch. Am besten schenkt man es einem Kind und sich selbst ein weiteres Exemplar und stellt es griffbereit neben Stanišić‘ Hey, hey, hey, Taxi! Weise, warmherzig, witzig. Für Menschen ab 11 Jahre.
Mathijs Deen, Der Holländer / Der Taucher
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
Nachdem die Buchladenkolleginnen Christiane und Britta so begeistert von Mathijs Deens Kriminalromanen erzählten, verziehe ich mich heute an die Nordsee zum Wracktauchen. Von Deens erzählendes Sachbuch über den Rhein konnte mich nicht überzeugen, aber Krimis kann er. Nach dem Taucher musste ich dann auch gleich den Holländer lesen. Dass die Reihenfolge nicht die chronologische war, spielte im Grunde keine Rolle. Beide Geschichten können für sich stehen. Aber mochte man das eine, will man auch das andere Buch lesen. Zumindest ging es mir so.
Raus in den Mai, raus in die Welt!
Im Mai wird es schöne Tradition, in die Wallonie zu reisen. Eine Region, die dabei ist, sich als Liebling neben Frankreich in meinem Reiseherz einzunisten. Die Umstände tun ihr Übriges. Die Heimbürokantine füllte sich wieder mit lauter frischem Gemüse und Salaten aus dem Kölner Umland. Die Neuigkeiten aus dem Kleingartenverein verhießen Gutes. Ich moderierte für den Buchladen schöne Veranstaltungen mit Torsten Woywod und Jo Frank – was mit sich brachte, dass ich mich viel mit den Vorbereitungen beschäftigte und wenig Neues las.
Daniel Schreiber, Zuhause
Ich freue mich immer, wenn ich auf Reisen bin. Und das kann ich eigentlich nur, weil ich mein Zuhause habe, wohin ich so gern zurückkehre. »Die Suche nach dem Ort, an dem wir leben wollen«: Zuhause – was ist das eigentlich? Ein konkreter Ort, ein diffuses Gefühl oder vielleicht nur die Idee von Aufgehobensein und Dazugehören? Daniel Schreiber verbindet in seinem Essay Persönliches und Philosophisches.
Ein schmales Buch, das in jede Reisetasche passt. Und wo als auf Reisen lässt sich vielleicht besser nachdenken über das Gefühl des Aufgehobenseins und Dazugehörens, das ein Zuhause (vielleicht) ausmacht. Mir ist es an den erstaunlichsten Orten unterwegs begegnet.
„War das Gefühl des Zuhauseseins früher mit dem konkreten Ort verbunden, aus dem wir stammen, ist es heute eher mit einem imaginären Ort verknüpft, zu dem wir hinwollen.“
Anne Tyler: Der Sinn des Ganzen
Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger.
Mein erstes Buch von Anne Tyler. Ein wenig fühle ich mich an Elizabeth Strout erinnert, diese gewisse amerikanische Erzâhlkunst. Fein beobachteter Alltag. Menschen leben und inseln vor sich hin, es ist kompliziert. Entspannt und lakonisch erzählt. Es sei einer ihrer schwächeren Romane, hörte ich. Nun ist das schwächere Buch einer guten Erzählerin immer noch besser als das beste Buch eines jeden eitlen Schwadroneurs, an denen die Buchwelt nicht arm ist. Ich mochte es und besorgte mir gleich Nachschub.
Mein Monat des Jahres: Juni
Ein an Ereignissen nicht armes Jahr wurde in allem vom Juni gekrönt: Es gab nach über zwanzig gemeinsamen Jahren eine Hochzeit. Das war alles einfach nur wunderbar und ein ausgezeichneter Entschluss. Als eine Art Hochzeitsgeschenk an uns selbst unterschrieben wir Anfang Juni den Pachtvertrag für den Kleingarten. Unseren Kurort: Bad Kleingarten (Link zu Instagram, hier im Blog wird der Garten noch angesiedelt). Auf die Hochzeit folgte eine kleine Reise zu Familienmitgliedern, die aufgrund ihres Alters nicht in Köln sein konnten.
Es gab außerdem eine Dienstreise nach Berlin mit Besuch der Buchhandlung ocelot. Alles in allem ein sehr lebendiger Monat, in dem ich mehr schrieb als zu lesen, vor allem über die #KultourWallonie. Aber der Sommerprospekt des Buchladens stand an und ich las mir dann doch einiges zusammen:
Petra Sturm: Cenzi
Es ist die Geschichte einer Befreiung: Ende des 19. Jahrhunderts schwangen sich die ersten Frauen aufs Rad. So auch Centi Flendrovsky. Und sie fuhr schnell und schneller, fährt Radrennen – und stirbt mit 28 bei einem Radunfall. Kurz, rasant und prägend war ihr Leben. Super geschrieben, hochinteressant. Die Gestaltung finde ich allerdings düster und seltsam harsch mit den dicken schwarzen Strichen.
Erschienen ist die Bicycle Novel in der Edition Atelier (herzlichen Dank fürs Leseexemplar). Im Regal steht es zwischen „Revolutions“ von Hannah Ross und „Überall Verwüstung. Abends Kino“ von Ré Soupault.
Anthony McCarten, Going Zero
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Unfassbar spannend, eine grandiose Heldin und ein scharfer Blick auf den Überwachungskapitalismus. Dieses Buch legt man nicht so schnell aus der Hand! Überraschende Wendungen, eine vielschichtige Protagonistin und ein Szenario, das mitunter unbequem nah die eigenen Gewohnheiten in Frage stellt: Antony McCarten ist einfach ein fabelhafter Erzähler, der gut gelaunte Unterhaltung mit seinem genauen Blick auf die Gesellschaft zu verbinden versteht.
Samira El Ouassil, Friedemann Karig: Erzählende Affen
»Mythen, Lügen, Utopien – Wie Geschichten unser Leben bestimmen«: Unsere Welt ist aus Geschichten gemacht. Angelehnt an die Heldenreise geht’s in diesem so unterhaltsamen wie erhellenden Sachbuch um die Erzählungen, die wir Menschen uns seit jeher über uns selbst erzählen: um Narrative. Zwischen Antike und Hollywood liefern die beiden vom Podcast Piratensender Powerplay einen bestens lesbaren Denkanstoß für aktuelle gesellschaftliche Diskussionen.
Rob Cowen, Aller Land
Schon ein schräges Buch. Schön schrägt. Spleenig. Der Reise- und Naturkolumnist nimmt uns in seinem autobiographischen Buch mit nach Yorkshire, wo er einst aufgewachsen ist. Lesend folgt man ihm ins Niemandsland, in die Randgebiete der Menschenwelt, zu Hasen, Füchsen, in eisige Winter, in die Geschichte der typisch englischen Heckenlandschaften – und man wird zum Reh.
Für Fans des Nature Writing, englischen Landschaften und Spleens. Für Menschen mit Lust an experimentierfreudigem Erzählen.
Ich las außerdem 22 Bahnen von Caroline Wahl und Gun Street Girl vom Adrian McKinty, habe dazu aber nichts notiert.
Und dann?
Plötzlich stand der Sommer mitten im Jahr. War der Frühling stark geprägt durch das Warten auf etwas, folgte viel Tun. Von so gut wie allen Dingen im Leben ahnt man doch nicht, wie sie sich auswirken werden. Das kann man Büchern zuschreiben, aber durchaus auch sowas wie Garten oder Heiraten. Ist das ein Cliffhanger? Es muss als Ende dieses Teils meines Leserückblicks genügen. Wir lesen uns im Sommer – sozusagen!
Leserückblick 2023:
Überall Verwüstung. Abends Lesen. Eine Leserückblick auf das Jahr 2023
Im Sommer ging’s heiß her. Leserückblick 2023 zum Dritten
Was bleibt. Finale im Leserückblick