Ich trete vor die Tür und treffe auf den Winter.
Innerlich bin ich schon längst auf der Abreise in den Frühling. Und nun stehe ich da wie viel zu früh auf dem Bahnsteig und der Zug kommt noch lange nicht. Es ist gar nicht so, dass ich etwas gegen den Winter habe, schon gar nicht gegen anständiges Winterwetter – selten genug in Köln.
Aber am Timing ließe sich noch arbeiten. Wenn ich mich recht erinnere, war das aber schon immer so. Ich denke an Tage in der Schule, in denen ich Januar und Februar anstarrte und nicht fassen konnte, wie quälend lang sie sich zogen. Selbst der im Dezember noch bejubelte Schnee im Sauerland hatte Anfang des Jahres seinen Glanz für mich verloren. Immer noch dick einpacken, immer noch unter den vielen Kleidungsschichten schwitzen, immer noch danach doppelt so sehr frieren, immer noch an Bushaltestellen und in Reitställen auskühlen, immer noch Finger, die beim Auftauen übel schmerzten, immer noch in viel zu vollen Schulbussen mit verrotzten, hustenden Menschen fahren, immer noch zum verhassten Schulschwimmen gekarrt werden, immer noch eine Erkältung nach der anderen.
Inzwischen habe ich viel weniger zum Jammern, arbeite ich doch im Homeoffice und muss das alles nicht mehr, woran ich mich gerade mit Schaudern erinnerte. Im Sauerland kommt der Frühling außerdem viel später als im warmen Köln. Wenn hier die Osterglocken schon ihre knallgelben Köpfe in die Luft hängen, liegen in der alten Heimat noch alle Pflanzen matt und zerdrückt vom gerade geschmolzenen Schnee am Boden herum.
Während ich all dies denke, stehe ich in einer Schneepfütze.
Zurück in die Gegenwart.
Das Agnesviertel baumt kräftig raus. Wir hatten selbst ab und zu mal einen Weihnachtsbaum und ich liebe so vieles daran. Aber. Zusätzlich juckt es mich nun in den Fingern, etwas von dem entsorgten Grün für den Garten zu entwenden. Da sich nicht erkennen lässt, welche der Ex-Weihnachtsbäume gespritzt und welche bio sind, lasse ich es.
Im Bücherschrank wird eifrig gekramt. Ich bin mittlerweile nicht mehr eine seiner Patentanten, aber hin und wieder räume ich noch „wild“ auf. Momentan ist er ziemlich überfüllt. Offenbar haben auch in diesem Jahr Menschen die Zeit zwischen den Jahren genutzt, um auszumisten. Denen, die ihre veralteten, miefenden Fachbuch- und Lexika-Bestände allerdings in den Bücherschrank und nicht ins Altpapier entsorgen, würde ich ganz gern mal die Finger in den Schranktüren klemmen.
Auf dem Platz vorm Büdchen, im Agnesviertel Pico Island genannt, blüht bereits die Japanische Zierquitte. Bis zu diesem Jahr war sie für mich unbenannt, aber Flora Incognita lässt die Pflanzen in der Umgebung inzwischen zu mir sprechen. Es ist also nicht mehr dieser Busch da, guck mal, der blüht ja schon, rot, passend zum Büdchen, wie schön, aber darf der jetzt schon blühen. Sondern die Japanische Zierquitte. Sie darf eigentlich erst im März, schert sich aber nicht drum. Der Platz liegt nicht nur recht geschützt und hat viel Sonne. Durch den regen Autoverkehr wird die Ecke zusätzlich aufgeheizt. Und so blüht der Kleinstrauch schon Mitte Januar.
Verträumt scheinen die Mülltonnen vorm Reisebüro zu stehen. Wohin würden sie wohl reisen wollen?
Es passiert mir selten, aber heute was es wieder so weit: Ich bin mit einem fast leergelutschten Mobilgerät rausgegangen. Ich konnte noch den Anleger fotografieren, den Schnee in der Uferböschung – und dann gab das Gerät erschöpft auf. Keine weiteren Notizen in Text und Bild, also.
Am Anleger alles ruhig.
Die Welle mit dem Hochwasser ist durch. Mir wird immer leicht schwindelig, seitdem ich mir die Auf- und Ab- Bewegung des Rheins als Wellen vorstelle. Aber das Hochwasser steigt nicht wie in einem Eimer, den man unterm Wasserhahn volllaufen lässt. Vergangene Woche noch über 8 Meter, heute knapp über 4 Meter. Heidewitzka, Herr Kapitän!
Nun also Schnee in Köln. Sapperlot!
Die Älteren unter uns kennen sicher die Stelle aus Loriots Pappa ante Portas:
~ Was machst du hier?
~ Ich wohne hier!
~ Aber doch nicht um diese Zeit?
Jo, Winter. Ich weiß, es ist noch dein Tanzbereich. Und du legst nochmal richtig los. Schön, schön. Aber mir wäre dann nach Frühling, weißt du? Aber da sind wir dann schon wieder bei dem Gejammer weiter oben.
Da kann der Winter übrigens schneien, wie er will: allein der Baumschnitt überall zeigt, dass die Zeichen auf Frühling stehen. Im Garten haben wir am Samstag für mehr Luft und Licht an den alten Obstbäumen gesorgt. Bei der Agneskirche werfen drei Baumpfleger prüfende Blicke in die Bäume und diskutieren das weitere Tun. Zu gerne würde ich hier Mäuschen spielen. Schon dem Profi dabei zu beobachten, wie er unseren Apfelbaum beschnitt, war überaus lehrreich. Durch Zugucken lerne ich am besten, in Kombination mit Nachlesen und Selbermachen bei gleichzeitiger Korrektur. Obstbaumschnitt wird auch eines der Themen sein, auf die ich mich bei meiner anstehenden Ausbildung zur Fachberaterin für Kleingärten stürzen werde.
Vorm Hauseingang finde ich eine goldene Nuss. Für einen Moment frage ich mich, was ich mir wünschen würde, wäre ich Aschenbrödel. Seltsam, dass es im Märchen nur darum ging, sich SACHEN zu wünschen. In einer Zeit, als das Wünschen noch geholfen hat. Drei Wünsche. Drei Bücher für die einsame Insel. Das sind Szenarien, da steigt mein Hirn sofort aus. Denn es zoomt hektisch hin und her, zwischen persönlichen Wünschen, Wünschen für andere, Wünsche für die Welt. Was denn, Weltfrieden? So gern, aber was ist der Preis, welche Art von Frieden wäre das, wer hätte denn seinen Frieden? Ein wahrhaftiger Frieden, das wär’s.
Bei der Gelegenheit: Nazis raus.
Alle aktuell angemeldeten Demonstrationen findet Ihr hier: https://demokrateam.org/demonstrationen. Es ist wieder an der Zeit, für die Demokratie auf die Straße zu gehen. Wer es aus Gründen nicht kann oder will: Unterstützt mit Tat oder mit Geld gemeinnützige Organisationen vor Ort, die sich für die Demokratie und für die Menschenrechte einsetzen.
Ich öffne die Tür, betrete das Haus und folge den feuchten Pfotenabdrücken unserer pelzigen Nachbarin. Ob es ihre waren, die ich in der Schneepfütze gesehen habe? Die Pfotenabdrücke verlieren sich im Flur wie meine unnotierten Gedanken. In die Wohnung. Aus der Jacke. An den Schreibtisch. Wohlan.