Ich trete vor die Tür.
Die Luft ist winterkalt und schimmert in Rosatönen. Morgenrot, Schlechtwetterbot. Heute ist es noch sonnig. Ab morgen holt Mutter Natur die Gießkannen raus. Ich nicke zufrieden. Immerhin haben wir am Wochenende noch ein paar Pflanzen in die Gartenerde gebracht. Die sollen nun schön wurzeln. Der Regen bei 8-10 Grad wird helfen.
Frau Agnes wurde ein glitzernder Christbaum auf den Sockel gestellt. Am Wildrosenstrauch auf dem Plätzchen davor baumelt Schmuck. Jedes Jahr hängen Menschen aus dem Agnesviertel hier und da mal was dezent Weihnachtliches in die Botanik. Ich mag das. Andere Menschen legen bizarre Haushaltsgegenstände auf die Bank. Well.
Grün behelmt schiebt sich eine knapp kniehohe Knirpsin auf ihrem winzigen Roller an mir vorbei. Vor lauter Lachen fällt ihr beinahe der Schnuller aus dem Mund. Sie begleitet offenbar ihren Vater, der sich gleich mit kaputtlacht. Gute Laune an einem Montagmorgen. Das ist möglich. Man muss vielleicht einfach klein und bunt genug dafür sein.
Die hohen Häuser haben rote Wangen.
Sie sehen der Sonne zu, wie sie den Tag betritt. Sie malt grandios kapriziöse Farben ins Viertel. Am Anleger derweil Hochwasser. Der Rheinpegel liegt bei knapp sieben Metern, Tendenz fallend.
Mein Schritt ist leicht heute morgen. Ich sauge das Licht auf, umarme es, küsse es ab – es kommt mir vor, als habe es monatelang keinen Strahl Sonne gegeben. Vielleicht hilft auch die Aussicht auf einige Tage zwischen den Jahren, diese unbestimmt wabernde Zeit, die meiner Ansicht nach gut und gerne zwei Wochen lang dauern könnte. Mindestens. Spätestens jetzt kneift mich das schlechte Gewissen in die Rippen: wieder keine Weihnachtskarten geschrieben. Äh, auch noch immer keine Dankeskarten nach der Hochzeit. Unmöglich, ruft die Anstandsdame indigniert aus dem inneren Hinterzimmer.
Schon erreiche ich den Referenzbaum.
Sein Haupt glüht. Hinter mir tappt ein weißer Retriever davon. Er sah mich auf dem Weg stehen und war fest davon überzeugt, dass ich auf ihn warte. Nur auf ihn. Natürlich auf ihn. Auf wen sonst? Je näher er herankommt, desto sicher ist er. Ich warte auf ihn. Ein strahlendes, warmes Hundelächeln breitet sich auf seinem herzigen Gesicht aus. Ein Zwinkern von mir und schon habe ich seine Nase unter meiner herabhängenden Hand, dann die Hand in seinen weichen Ohren. Sein Inhaber lächelt indes etwas unsicher. Menschen zu Fuß, ohne Hund und ohne Kinderbegleitung, sind um diese Zeit ein ungewohnter Anblick. Nein, ich bin nicht das Ordnungsamt. Ich erkläre ihm, dass ich diesen Baum fotografieren muss. Und deshalb einfach warte. Nun ja. Das ist wichtig!
Monster ist noch da.
Ich bin sicher, 2023 auf dem Kleber zu lesen. Mein Lieblingskünstler im Agnesviertel, jeder Kleber ein Unikat, ein herrliches Gekrickelkrakel. Kran 3 heute ebenfalls schick in Apricot. Oder ist es pfirsich? Lachs? Während der erbaute Koloss wie ein Gigantischer Grauwal im Viertel liegt, freue ich mich noch an den filigran über der Baustelle schwebenden Kranichen.
Kier-ak, kie-ak, kie-ek!
Lauthals kreischend rast dicht über meinem Kopf ein Geschwader hellgrüne Halsbandsittiche durch die Straße Richtung Park. Von den anderen Vögeln ist wenig zu sehen. Keine Amseln. Keine Rotkehlchen. Eine Taube schwankt ganz oben in einer der alten Platanen. Im Gebüsch hopst Frau Spatz herum. Sie stutzt, als ich stehenbleibe. Kurz wartet sie, was ich beabsichtige. Das wird ihr dann doch zu unheimlich. Sie fliegt davon.
Auf dem Mäuerchen liegen Reste vom Wochenende: ein Kinderhandschuh und ein, äh, Haarzusammenraffdingsi. Den Gundermann in der Wiese nebenan ziert ein leichtes Hemd aus weißem Frost. Bei der kleinsten Berührung taut es. Hm, vielleicht doch eine halbgute Idee, an diesem Wegrand im Saum herumzutatschen. Die Labradorbengels kommen heran. Heute grüßen alle, Hunde und die jeweilige Inhaberschaft. Schön. Dorfgefühl.
Das Totholz lebt
Am Fort X freue ich mich über die vielen verschiedenen Pilz am Totholz. Das ist seit einer Weile neu, dass gefällte Bäume liegengelassen werden. Im Hintergrund sieht man, dass nachgepflanzt wurde. Der Bestand im Park war vor einer Weile stark gelichtet worden. Die Kommunikation der Stadt war dazu nicht vorhanden. Es gab viel Unmut ringsum. Inzwischen hat sich das Totholz belebt. Ich kenne mich mit Pilzen nicht gut aus, habe aber mit meinem laienhaften Auge allein sechs Arten unterscheiden können.
Da hängt Kunst.
Heute wird Papiermüll abgeholt und das sonst gut verschlossene Hoftor steht offen. Ich pirsche rein und mache ein paar Bilder. Was es nicht alles in der Nachbarschaft gibt, ich bin begeistert. Kunst, die jeder sehen und bei der jede*r mittun kann, gibt’s ein paar Schritte weiter an der Agneskirche. Die Gemeinde gibt wieder Ton aus und schon nach wenigen Tagen tummeln sich allerlei Tonfiguren für die Veedelskrippe. Die Idee dazu entstand während der Coronazeit und seitdem möchte die Veedelskrippe niemand mehr missen. In unserer Podcast-Episode Agnes trifft Weihnachten erzählt Peter von dieser Idee (ab Minute 2:25).
Als ich meine Schritte schon Richtung Haustür lenke, werfe ich noch einen raschen Blick hoch zur Frau Agnes: Sie erstrahlt in Gold!
Farbgetränkt und gelüftet wende ich mich dem Tag zu.
Wohlan.
»Der für den Winter zum Schlafen gebrachte Garten bietet einen angenehmen Anblick. Braune Erddecken verhüllen die verborgenen Wurzeln. Auf dem Boden ist nichts zu sehen, doch in der Tiefe bereitet sich allerlei auf den Frühling vor.« Das schrieb Vita Sackville-West in Mein Wintergarten. Und in dieser stillen Hinwendung zum kommenden Frühjahr liegt viel Trost. Am Freitag ist übrigens Wintersonnenwende. Dann ist der Tag mit dem kürzesten Tageslicht überstanden und das Licht kehrt zurück.
Sehr geehrte Wibke Ladwig,
Ihre wunderschönen Texte sprechen Sinne, Gefühl und Verstand an und machen mich glücklich.
Dafür danke ich Ihnen von Herzen.
Christiane W., Bremen
Ganz herzlichen Dank und schöne Grüße nach Bremen!