Und es war Sommer.
Während 2024 Fahrt aufnimmt und der gefühlt längste Monat eines jeden Jahres endet, geht es hier weiter mit dem Leserückblick. Immerhin fehlt noch die Hälfte. Die anderen Teile finden sich hier, hier und hier. Widmen wir uns dem Sommer. Eine Jahreszeit, die mir im Januar stets unwahrscheinlich vorkommt.
Aber vorab ein Nachtrag von Ende Juni, wo wir in Berlin ein Planungstreffen hatten. Und die Buchhandlung ocelot, not just another bookstore besuchten. Ich traf erstmals auf den Maro Verlag und war entzückt von dem Text von Lou Zucker in Eine Frau geht einen trinken. Alleine. Falls Ihr die Maro-Hefte auch noch nicht kennt: lesenswert, großartig, inspirierend. Aber Achtung, machen widerspenstig, widerständig und klüger. Wie die Texte im Verlagshaus Berlin. Ich schätze die Reihe der poetischen Essays in der Edition Poeticon sehr – und sie sehen übrigens auch als Einsteckbüchlein im Sakko bestechend gut aus. Inhalt ohnehin verdammt gut. Seitdem ich damals im Marta die Ausstellung Die innere Haut gesehen habe, interessiert mich das Thema Scham sehr. Wenn Lea Schneider darüber schreibt, sowieso.
Sowieso. So. Weiter im Jahr.
Juli, der Monat, in den ich voller Endorphine plumpste
Im Grunde verbrachte ich diesen Monat in jeder freien Minute im Garten. Es gab viel zu tun. Es gab wirklich richtig viel zu tun. Es gab so viel zu tun und es war eine solche Freude, dass Zwei am Abend einfach nur in die Waagerechte kippten und noch beim Hinlegen im Tiefschlaf lagen. Eine wahre Wonne. Kein Wunder vielleicht, dass ich mir, inzwischen komplett besessen vom Garten, dieses Leseexemplar im Buchladen schnappte:
Jane Crilly: Der Gärtner von Wimbledon
Aus dem Englischen von Julia Becker
Bittersüß und herzerwärmend. Schön sentimentale, dabei aber unkitschig und unaufgeregt erzählte Liebesgeschichte in England kurz vorm Zweiten Weltkrieg. Für alle, die „Downtown Abbey“ mochten oder Benjamin Myers‘ „Offene See“ und J.L. Carrs „Ein Monat auf dem Land“.
Clare Pollard: Delphi
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger
Bin ich schon bereit für einen Roman, der im Lockdown während der Pandemiejahre spielt? Und dann schreibt der Verlag auch noch „blitzgescheit“ auf das Buch. Fällt für mich in dieselbe Kategorie wie „hellwach“ oder „auratisch“. Es klingt ironisch, ist aber leider meist ernstgemeint. Ich muss unweigerlich lachen bei manchen Begriffen: nicht euer Ernst, oder?
Das Buch war indes eine Empfehlung einer geschätzten Kollegin, die Autorin Lyrikerin und Geschichten, die sich an klassische Sagen anlehnen, interessieren mich grundsätzlich. Erster Satz: „Ich habe die Nase voll von der Zukunft.“ Nun ja, ich hatte nach 50 Seiten die Nase voll vom Buch. Ich knallte „Delphi“ zu. Weinerlicher Mist. Die Idee, griechische Mythologie und Pandemie mit der Geschichte einer Frau in einer Sinnkrise zu verknüpfen, ist eigentlich reizvoll. Aber ich frage mich, wie es das Buch im Original und in der Übersetzung durchs Lektorat geschafft hat. Hier meine Notizen beim Lesen:
Pimm’s Limonade? Echt jetzt? Cocktail, vielleicht. Oder eben einfach Pimm’s oder Pimm’s Cup.
Der Mann arbeitet enorm viel, aber macht außerdem alles andere. Aha.
Sie zählt sich zum hochqualifizierten Prekariat, aber mehrere Reisen im Jahr, Haus mit Garten und laufend Essen bestellen, klar.
Später muss sie (welche Zumutung!) die „Kleider vom letzten Jahr aus dem Schrank“ holen (S. 39), weil die Klamottenladen geschlossen sind. Natürlich sind sie mottenzerfressen, die alten abgetragenen Fetzen. Wahahaha.
„Alles bleibt beim Alten, nur ein bisschen schlimmer.“
Und laufend dieses „wir“: Wir sind so schrecklich gelangweilt von unserem Plastikleben, jetzt verändert sich wenigstens etwas, Geschichte wird gemacht. (S. 28) Deshalb wollten wir auch unbedingt im Reality-TV auftreten. (S. 33)
Naja, ziemlich schnell ist dann klar, dass dieses Buch und ich nicht zusammenpassen. Kommt vor. Ist nicht so, als gäbe es in diesem Haushalt keine Auswahl im Stapel mit Ungelesenem.
Dieses hier wanderte in den Bücherschrank.
Simone Scharbert: Rosa in Grau
„Ich nehme den Mantel ab, hänge ihn an den Haken neben der Tür. Der Mantel ist weit, ein ganzes Land. Mein Körper darin verschwindend. Zu klein für den Mantel, zu klein für die Stadt.“
Ich sitze im Garten und beginne (endlich!) mit „Rosa in Grau“ von Simone Scharbert. Schon die ersten Sätze winken mir zu – sie haben mich erwartet. Was für ein Kontrast zu dem letzten Buch, das ich las, das mich so verärgert hat. Ich drücke Simones Buch an mein Herz und freue mich auf jede einzelne Seite. Heftig übrigens der Inhalt. Kann gut neben Jo Franks „Gewalt“ stehen.
Der Juli war ein Monat der Hierfreude durch den Garten und der Vorfreude, weil wir schon länger einen ausgiebigen Urlaub in Frankreich geplant hatten. Erstmals hatten wir für die Reise ein Auto gemietet, Typ Handwerkerkarre, um unkompliziert unsere Fahrräder mitnehmen zu können. Denn Mietwagen gibt es zwar mit Kindersitzen oder Ski-Boxen, aber nicht mit Radträgern. Eine Lücke, liebe Mietwagenfirmen und Car-Sharing-Anbieter. Während ich bei einer Radreise immer knausern musste mit den Büchern für die Reise, konnte ich hier mal wieder eine Reisebibliothek zusammenstellen. Dass sie angesichts der krassen Hitzewelle und unserer seltsamen Rastlosigkeit deutlich zu üppig sein wird, würde sich später herausstellen.
Einstweilen ernteten wir überraschend viel in Bad Kleingarten, grillten nach getaner Arbeit und verbrachten einfach jede freie Minute in unserem Stück Grün, das wir um etliche Tonnen Zeugs erleichtern mussten. Drumherum zog ich mir weiterhin alles an Gartenliteratur rein, was ich kriegen konnte, ob via Onleihe, als Buch oder in diversen Blogs. Dazu kamen Podcasts und Radiosendungen – aber das alles kommt in einen eigenen Sammelbeitrag.
France mon amour: heiß, heißer, August!
Die Vorfreude war groß: endlich wieder nach Südfrankreich! Es mag an der unfassbaren Hitzewelle (canicule) gelegen haben, die uns vor sich hertrieb, dass wir trieben seltsam ruhelos durchs Land trieben. Womöglich lag es auch an den vielen Erlebnissen und Ereignissen in den Wochen zuvor. Es kann auch sein, dass wir zu aufgeladen waren mit Erwartungen und nostalgisch verklärten Erinnerungen an vergangene Reisen in die allzu vertrauten Gegenden. Dort ist die Zeit auch nicht stehengeblieben und in den vergangenen fünf Jahren hat sich nicht zuletzt durch die Pandemie einiges verändert. Auch diese Reise verlangt nach einem eigenen Blogbeitrag. Das Lesen war auf jeden Fall schön!
Josephine Tey: Alibi für einen König
Aus dem Englischen von Maria Wolff
Herrlich altmodisch und umständlich. 1951 erstmals veröffentlicht und nun wiederentdeckt. Mag es sehr. Ein Polizist rollt vom Krankenhausbett die Geschichte um Richard III. wieder auf. Ich habe sofort Lust, mal wieder historische Romane über englische Geschichte zu lesen. Oder auch „pseudohistorische Klatschgeschichten“, wie sie im Buch genannt werden. Ein Lieblingsbuch des Jahres. Eher was für Menschen mit einem Spleen in Sachen englischer Geschichte oder Leuten mit Lust am Googeln, denn ein Glossar gibt es nicht.
Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert
„Erinnerst du dich daran, wie du das erste Mal in deiner eigenen Wohnung, es war nicht mehr als ein Zimmer, etwas kochen wolltest und dir erst mittendrin aufgefallen ist, dass du noch Salz würdest kaufen müssen?“
ITeresa Präauers „Kochen im falschen Jahrhundert“ ist eine Art Versuchsaufbau über eine Einladung zum Essen. Ein funkelndes, scharfkantiges Vergnügen – ein voyeuristisches dazu, denn ich lese, wie ich mitunter in den abseitigeren Gegenden von Instagram blättere. Hier und da fühle ich mich auch ertappt.
Einige allzu offensichtliche Wortwitze hätte sie meiner Ansicht nach allerdings liegenlassen können.
Elizabeth Strout: Alles ist möglich
Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth
Zurück in einer Kleinstadt im Mittleren Westen der USA: ich lese mich langsam durch die Bücher von Elizabeth Strout. Nur hier und da ein Buch. Selbst wenn die Versuchung groß ist, sie einfach alle hintereinander wegzulesen. Auch in „Alles ist möglich“ erzählt die amerikanische Autorin mit Wärme, unkitschig und leise vom Leben und vom Tod und allem dazwischen. So fremd ist das Leben im fernen Amerika – und doch oft so vertraut im Fühlen und Denken. Wer Kent Haruf gern liest, wird auch Elizabeth Strout mögen. Und umgekehrt.
Isabelle van Groeningen: Die sieben Jahreszeiten
Eine Frau vom Fach schreibt über Garten und Pflanzen. Ich habe viel Murks und Schlechtes an Gartenbüchern gelesen oder vielmehr angelesen. Dieses hier sticht hervor, wenn Isabelle van Groeningen von ihren Garteneindrücken erzählt, vom Gartenerleben. Langweilig wird mir, wenn es zu sehr ins technische Erklären geht, die Tipperitis, eine Schwäche deutschsprachiger Gartenliteratur. Da wünsche ich mir einfach mehr Nature Writing. Aber dies hier ist zum größten Teil schon ein wirklich schön geschriebenes Buch.
Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister
Auf Reisen als Hörbuch gehört. Und dann trotz der absolut unpassenden Hörbuch-Stimme gelesen. Meine Empfehlung: Unbedingt als Buch lesen! Im Hörbuch geht doch einiges verloren. Ein Ort der Geborgenheit und ein Ort harter Arbeit: Der Historiker Ewald Frie erzählt vom Leben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf dem münsterländischen Bauernhof der Familie. Er lässt auch seine Geschwister zu Wort kommen, die ihren Alltag auf dem Hof ganz unterschiedlich wahrnahmen. Die bäuerliche Welt im gesellschaftlichen Wandel, erhellend, klug, fantastisch geschrieben. Völlig zu Recht ausgezeichnet mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023.
Die unbarmherzige Sonne ließ die Hirne schmelzen und ein mir bis dahin vollkommen fremdes Gefühl stellte sich ein: Heimweh. Nun ja, am Ende waren wir einige Tage früher wieder zurück in Köln – und landeten mit einem tiefen Seufzer im Garten. Vorm Zelt lesen war mir lange Zeit das liebste Lesen. Nun kommt das Lesen im Garten hinzu. Nicht im Garten, sondern zuhause für den Sommerprospekt las ich:
Huguette Couffignal: Die Küche der Armen
Aus dem Französischen von Monika Junker-John und Helmut Junker
Mit einem Vorwort von Christiane Meister, hrsg. und überarbeitet von Barbara Kalender
Ob Taboulé, Falafel oder Halva: es sind oft die einfachen Gerichte, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Viele davon gelten heute als „hip“, waren ursprünglich aber schlicht Nahrung der Armen. Dieses historische Kochbuch gewährt mit einer Art Reisebericht und in 300 Rezepten einen Blick in die Kochtöpfe der Welt. Mitunter äußerst ungewohnt. Was man alles essen kann … Aber ziemlich sicher ist der Blick auf das, was in deutschen Töpfen landet, nicht minder befremdet, wenn man anders sozialisiert wurde. Voneinander lernen, miteinander staunen, gute Sache.
Ein schlichtes Buch ohne aufwändige Food-Fotos, das den Blick sprichwörtlich über den Tellerrand hebt.
Hans Rusinek: „Buch“ der absurden Anführungszeichen
Kein Buch zum Lesen, sondern zum Blättern und Sich freuen am Absurden. Das Buch versammelt Etliches aus der liebevollen Sammlung bei Instagram. Musste ich haben.
Der September bringt traditionell Trubel
Die Woche unabhängiger Buchhandlungen fand Anfang November statt, aber spätestens Anfang September geht’s richtig los und dann ist auch bald schon Buchmesse mit der Preisverleihung des Lieblingsbuchs der Unabhängigen, quasi die Vorband. Im Garten wurden wir kurzerhand die viel zu vielen Goldfische los, die uns mindestens genauso ratlos musterten wie wir sie. Jetzt paddeln sie in den Teichen von Jürgen, der sie sehr viel mehr zu schätzen weiß und sich auskennt mit Fischen. Ausgezeichnet. Beim Klimastreik in Köln fuhren wir in der Rad- und Fußdemo mit. Dann fuhren wir auch mal wieder die Abenteuerfahrräder aus, die durch den Garten ziemlich kurz kamen. Insgesamt schöne und flott dahinswingende Septembertage, an denen ich nebenbei auch eins meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr las:
Jarka Kubsova: Marschlande
Zwei Frauen, zwei Zeiten, hier wie dort Ausgrenzung, Ungerechtigkeit und das Streben nach Selbstbestimmung. Und über allem eine Erinnerung an die Kraft von Solidarität.
„Marschlande“ von Jarka Kuvsova hat mir außerordentlich gut gefallen. Das Buch ist ein Liebling des Jahres im Buchladen – und es war eins von fünf Romanen auf der Shortlist für das „Lieblingsbuch der Unabhängigen“, das fast tausend inhabergeführte Buchhandlungen Jahr für Jahr wählen.
„Marschlande“ führt uns in eine karge Landschaft unweit von Hamburg. Die historische Geschichte um Abelke Bleken beruht auf der wahren Geschichte einer Frau, die vor 450 Jahren in Ochsenwerder als Hexe ermordet wurde. Ihr zur Seite stellt Jarka Kubsowa die Geschichte einer Frau von heute, die mit ihrer Familie in einen Neubau in dieselbe Gegend zieht. Die Geschichte von Britta hat mich zunächst etwas genervt. Ich glaube, das sollte sie auch. Denn nur so machte sie das, was im Buch erzählt wird, rund.
Die Gegenwart und die Vergangenheit mit der Frage nach den Folgen von Frühkapitalismus auf das Leben und Arbeiten von Frauen, ihrem Verhältnis zueinander und Hexenverfolgung als wirtschaftspolitisches Instrument zu verbinden fand ich ausgesprochen interessant. Nicht zuletzt das starke Nachwort der Autorin lässt das Buch noch immer in mir nachhallen.
Ich mag die klangvolle, schöne Sprache von Jarka Kubsowa– ich glaube, sie könnte mir alles erzählen. Gestern habe ich „Bergland“, ihr Vorgängerbuch begonnen. Fantastisch!
Christoph Danne: solo für phyllis
Einhundert Texte, Schnipsel und Gedichte sind in „solo für phyllis“ versammelt. Christoph Danne schrieb sie voller Furcht und voller Vorfreude in den Monaten vor der Geburt seiner Tochter – nachdem ihm und seiner Partnerin eröffnet wurde, dass dieses Kind nicht gesund sein würde.
Alltägliches mischt sich mit Ungreifbarem. Ein kostbares Buch.
Elena Fischer: Paradise Garden
„Meine Mutter starb diesen Sommer. Ein Lied im Radio war nur noch Geräusch und keine Einladung mehr, mitzusingen, obwohl keine von uns beiden den Text kannte. Ein Regenguss war nur noch Wetter und keine Gelegenheit mehr, nach draußen zu laufen und barfuß in einer Pfütze zu tanzen.“
Beinahe hätte ich Elena Fischers „Paradise Garden“ übersehen, weil ich es irgendwie überall sah. Ich bin jedoch froh, diesen Debütroman um ein junges Mädchen und ihre Mutter, die sich mit wenig Geld durchschlagen, dann doch gelesen zu haben. Und Billie und ihre Mutter – das ist nur der Anfang. Die Sprache, der Ton von Elena Fischer nahm mich sehr ein für dieses Buch. Auch die Figuren mochte ich und wie sie miteinander sind. War dann auch auf der Shortlist für das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen, wie auch Marschlande.
Die Weltlage blieb desolat.
Viel davon liest man in meinen Rückblicken nicht, denn all dieses Festhalten von guten, schönen und wahren Momenten ist das Gegengewicht, das, was es braucht, um das Leben dennoch zu leben. Im Trotzdem, im Weil und im Wofür.
Demnächst dann die letzten drei Monate bis zum Jahresende, die gewohnt hurtig dahineilen, weil so viel ist.
Was bisher geschah
Überall Verwüstung. Abends Lesen. Eine Leserückblick auf das Jahr 2023
Außer Lesen viel gewesen: des Leserückblicks zweiter Teil
Was bleibt. Finale im Leserückblick