„Wie viel willst du eigentlich noch darüber schreiben?“
Die Frage stellte ich mir gestern selbst. Die Antwort ist einfach: Bis ich fertig bin. Das Drängendste scheint mir auch erstmal raus zu sein, mein Inneres beruhigt sich, klärt sich. Schreiben hilft mir, mich mit mir selbst und mit der Welt zu verbinden. Und auch, um zwischendurch mal nachzulesen, wie Dinge waren, wie meine Wahrnehmung an einem vergangenen Tag war, was sich möglicherweise seitdem verändert hat.
Wahrnehmung. Sie entsteht durch alle Sinne.
Als ich elf Jahre alt war, wurde offenbar, dass ich schlecht sehe. Heute scheint es einigermaßen selbstverständlich zu sein, spätestens zur Einschulung mit Kindern einen Sehtest zu machen. Ich weiß nicht, wie es Anfang der 1980er im ländlichen Sauerland war. Aber mit elf war ich ja schon auf dem Gymnasium. Da hoppste man ohne Untersuchung rein, wenn man von der Befragung durch die damalige Schulleiterin, Oberschwester Hildegard, absah. Damals benötigte noch niemand in meiner Familie eine Brille. Und so war die Entdeckung, das mit meinen Augen etwas nicht stimmte, ein Zufall.
Im Alltag wie in der Schule hatte ich Techniken entwickelt, zurechtzukommen, ohne das meine Sehschwäche auffiel. Ich ging gern zur Schule und lernte gern und gut. Warum ich Dinge auf der Schultafel nicht so gut sehen konnte wie die anderen, hinterfragte ich nicht. Als ich meine erste Brille auf der Nase hatte, lief ich staunend durch die Welt. Wow. Was es da alles zu sehen gab!
An diesen Umstand dachte ich, nachdem ich meinen schlechten Zustand durch den Diabetes zuletzt über Monate erfolgreich verborgen hatte. Es ergab sich, dass ich oft über meine Augen nachdachte. Und über den Sinn, mit dem so vieles leidenschaftlich Geliebte für mich verbunden ist: Sehen.
„Ich seh‘ dir in die Augen, Kleines.“
Im August waren meine Augen drastisch schlechter geworden. Neue Brillengläser machten mich wieder sehend. Als mein Krankenhausaufenthalt sich dem Ende zuneigte, tauchte ein Problem tauchte auf, mit dem ich nicht gerechnet hatte: Meine Sehkraft verschlechterte sich. Abermals. Dabei war meine Sehkraft (naja) bereits bei -7 bzw. -6,75 Dioptrien (mit unveränderter Hornhautverkrümmung). Ich war zutiefst verunsichert. Was passierte da? Nun hatte mein Diabetesteam im Krankenhaus mich darauf vorbereitet, dass mein Körper etwa 4-6 Wochen benötigen würde, um sich von der langen Zeit der Überzuckerung und Dehydrierung zu erholen. Mir wurde in Aussicht gestellt, dass sich auch meine Sehkraft möglicherweise wieder verbessern würde. Verbesserte sich hier etwas? Oder wurden die Augen noch schlechter?
Ein, zwei Tage vor dem Tag meiner Entlassung aus dem Krankenhaus sah ich also deutlich verschwommener. Ziemlich kurz nach Beginn der Insulintherapie also. Kopfweh stellte sich ein und das vertraute Gefühl von Gereiztheit, wenn ich nicht gut sehe. Hm. Der Termin beim Augenarzt war erst Tage später. Den Termin hatte ich noch aus dem Krankenhaus heraus gemacht. Es ging in erster Linie darum, meine Augen auf Folgeschäden durch den Diabetes und die Überzuckerung zu untersuchen.
Ob ich vom Krankenhaus nun direktemang zum Notdienst müsste? Mein Diabetesteam beruhigte mich. Das sei normal, im Körper sei nun viel los. Womöglich ist es ein Zeichen, dass auch meine Augen sich wieder erholten. Ich atmete durch. Das wird schon, oder? Als ich zuhause eintraf, griff ich aus einem Impuls heraus zur Brille, in der noch die Gläser mit den Werten vom Februar 2024 waren. Dä. Ich sah wieder was. Gute Sicht in den vertrauten Hinterhof. Jippie!
Zumindest sah ich für ziemlich genau zwei Tage gut. Nach dem Wochenende sah ich wieder verschwommen. Ich kombinierte meine Brille mit der Lesebrille von Herrn Hoffmann. Diese korrigierte die Gläser nach unten. Mit der wackeligen Konstruktion von zwei Brillen kam es halbwegs hin.
Erstmal.
Aber ich wollte auch wissen, was da los ist.
In der Augenarztpraxis ergab der obligatorische Sehtest zunächst vor allem eins: Verblüffung. Kein Wunder, dass keine meiner Brillen mehr passten: Meine Kurzsichtigkeit war auf -2,5 Dioptrien geschrumpft. Das ist ein Wert, den ich seit vielleicht 25 Jahren oder länger nicht mehr hatte. Das illustrierte vermutlich recht gut, was im Körper los war. Zu meiner Erleichterung waren keine Schäden erkennbar. Ich wurde zur Wiedervorlage ein halbes Jahr später gebeten.
Bei der Optikerkette war ich im August meiner Intuition und dem Rat der netten Optikerin gefolgt und hatte eine sehr günstige Versicherung abgeschlossen. Da sich meine Sehkraft innerhalb kurzer Zeit verändert hatte, wurden mir die nun viel zu starken Gläser ohne weitere Kosten ersetzt. Auch diesmal gab es einen guten Rat, nachdem ich etwas verzweifelt auf die schwierige Kombination zweier Brillen bei der anstehenden Trauerfeier hinwies: Tageslinsen. Es gab sogar welche, die ich direkt mitnehmen konnte und die fast perfekt passten.
Für einige Tage.
Eine ganze Weile war ich mindestens wöchentlich zum Sehtest bei der Optikerkette gleich ums Eck. Jedes Mal gab’s einen neuen Satz Tageslinsen oder wenigstens die Bestellung. Die Hornhautverkrümmung, die Extrawurst. Hurz.
Erst nach acht Wochen traute ich meinen Augen wieder so weit, dass ich neue Brillengläser bestellte. Mittlerweile näherte sich meine Sehstärke wieder der von Anfang 2024 an. Ich erinnerte mich, dass es damals schon problematisch war, meine Sehstärke eindeutig festzustellen. Ob sich zu dem Zeitpunkt in meinem Körper bereits etwas veränderte? Mein Blutzuckerwert hat mutmaßlich sehr geschwankt, meinte mein Hausarzt, und fiel daher bei den zwei (oder drei?) Bluttests in nüchternem Zustand in der Zwischenzeit nicht auf. Das Rätsel wird sich niemals lösen lassen.
Es ist, wie es ist.
Wieder laufe ich staunend durch die Welt. Diesmal nicht nur, weil ich wieder alles gut sehe. Ich spüre auch, wie gut es mir heute geht. All die Wochen und Monate der Kraftlosigkeit liegen hinter mir. Ich bin nicht dankbar für die Erkrankung, aber ich bin dankbar für die Möglichkeit der Therapie. Ich weiß, dass sie nicht selbstverständlich ist, denn bei Erkrankungen wie Long Covid oder ME/CFS fehlt sie. Noch. Mit meinem Diabetes falle ich in ein gut gespanntes Netz aus Beratung und Therapie. Ich kann und muss selbst mitwirken, regelmäßig meinen Blutzucker messen, einen Umgang mit unerwünschten Werten finden, meinen Lebensstil anpassen und ohne Pause aufmerksam sein.
Klingt machbar, ne?
„Sie haben eine sehr schwere Erkrankung.“
Meine Diabetesberaterin sagte in unserem Gespräch diesen Satz, als ich ihr versicherte, dass es mir gut geht und alles schon prima klappt. Meine Diabetologin begrüßte mich als „ihre Notfallpatientin“. In den Social-Media-Kanälen der Deutschen Diabeteshilfe läuft in diesen Tagen eine Kampagne für „Mentale Gesundheit & Diabetes“. Das alles erinnert mich daran, dass die Machbarkeit Erkrankten und ihren Angehörigen durchaus viel abverlangt. Ich muss das nicht tapferer wegstecken als alle anderen.
Die Tatsache, von Jetzt auf Gleich eine unheilbare Autoimmunerkrankung zu haben, die bei Nichtbehandlung zum Tod führt, ist längst nicht ganz bei mir angekommen. Es fühlt sich wie ein Widerspruch an, weil ich mich durch die Insulintherapie so lebensprall und so gesund fühle wie seit vermutlich anderthalb Jahren nicht. Die Rosine ist wieder Traube, mein Körper gluckst begeistert vor sich hin. Ich benötige im Vergleich zu den ersten beiden Wochen recht wenig Insulin.
Honeymoon nennt sich diese Phase, in der eine verbliebene Mannschaft von insulinproduzierenden Zellen durch die Entlastung nochmal ordentlich durchstartet. Wie lange diese Phase anhält, lässt sich nicht vorhersagen. Wochen, Monate, vielleicht ein Jahr? Eines Tages wird das Immunsystem diese letzten Zellen erledigt haben und dann steigt der Insulinbedarf. Eines Tages wird es einfach mein Leben mit Diabetes sein, nicht mehr mein neues Leben. Eines Tages werde ich hierüber weiterschreiben.
Sieben ist eine Zahl, die ich mag.
Und so wird dieser Beitrag der letzte in dieser Reihe. Ich fühle just in diesem Augenblick, dass ich fertig bin mit dem Erzählen davon, wie das war und ist mit meinem Diabetes.
Einstweilen.
Was zuvor geschah:
Mein neues Leben mit Diabetes (1): Ab in die Notaufnahme
Mein neues Leben mit Diabetes (2): Es geht um Leben und Tod
Mein neues Leben mit Diabetes (3): Lauter erste Male
Mein neues Leben mit Diabetes (4): Essen muss der Mensch
Mein neues Leben mit Diabetes (5): Zu Fuß und zu Tisch
Mein neues Leben mit Diabetes (6): Mehr als ein Abschied

Alles, alles Gute.
Ganz herzlichen Dank!
Möge die Honeymoonphase möglichst lange anhalten!
Ich wünsche ein nach und nach ausbalanciertes Leben. Und danke fürs Teilen.
Ich fand die Texte wahnsinnig informativ und interessant. Wünsche von Herzen eine lange Honeymoon Phase und alles alles Gute. Liebe Grüße, Sabine