Ich trete vor die Tür in ein neues Jahr.
Nun mag schon der sechste Januar sein, aber durch die Winterpause verweilte ich „zwischen den Jahren“ und betrachtete 2020 zunächst aus angenehmer Distanz. Wie beim Wandern und Radfahren schätze ich Pausen zwischendurch, um dann erfrischt erneut aufzubrechen. Insofern kam der Jahreswechsel an der See gerade recht. Im Agnesviertel geht die Nachbarschaft es an diesem Montag ruhig an. Heilige Drei Könige. Heute ist noch schulfrei. An allen Ecken Nadelbäume, die nun wieder vor die Tür gesetzt und von der Müllabfuhr eingesammelt werden.
Moin! – Guten Morgen!
Auf dem Weg zum Rhein begegne ich der Apothekerin, die gerade mit dem Rad zur Arbeit fährt. Überall ist Dorf, wenn man es zulässt. Überall ist Frühling, denken sich offenkundig einige Vögel, die sich munter warmzwitschern. Am Anleger ein gästeloses Flusskreuzfahrtschiff, am Rheinufer gründelnde Stockenten. Diesmal nicht nur Entenmänner, sondern dieselbe Anzahl von Damen. In den letzten Jahrten gab es einen deutlichen Erpelüberschuss, was wohl auch daran lag, las ich vor einer Weile, dass die Enten immer wieder von Menschen gefüttert werden und sich die Erpel nicht mehr auf weiträumige Nahrungssuche begeben müssen. Was wiederum die Entendamen ausbaden müssen, denn die unausgelasteten Männerbünde, nun ja, man kann es sich vorstellen.
Es ist Anfang Januar und ich bin doch immer wieder aufs Neue erstaunt, wie unermüdlich etwa die Gänseblümchen blühen. Die Winterblüher sind auch zugange und gleich nebenan die schon recht geplünderte Vorratskammer der Amseln.
Die Spuren vergangener Feste
Last Christmas. Nachlässig weggeworfene Sektflaschen. Abgesprengte Fetzen von Feuerwerk. Ich finde die Hundewiese leer vor. Sie ist abgewetzt von den Fußballmenschen, die sie auch benutzen. Links und rechts im Gebüsch lauern die mobilen Tore. Diese gehören Grüppchen, die dort regelmäßig dem Ball hinterherhopsen. Hin und her, lustig, fallera.
Apropos fallera: In der Ferne erspähe ich einen Dackel. Mein Schritt wird zügiger. Er ist es! Vor ziemlich genau einem Jahr begegneten wir uns zum ersten Mal. Es endete gleich mit einer Zurückweisung für mich. Seitdem sahen wir einander nur flüchtig, im Vorbeigehen. Auch heute trifft mich sein würdevoller Blick mit der Bitte um Distanz. Sein Inhaber ist mit einer anderen Hundedame ein Stück voraus. Ich richte einige freundliche Sätze an den Dackelmann und verschone ihn mit Blicken. Prompt läuft er brav bei Fuß, mustert mich hin und wieder von der Seite, begleitet mich eine Weile und geht dann wieder seinen Geschäften nach.
Blick in die Wolken
Neue Kunst ziert die Kunstlitfaßsäule in der Nachbarschaft: Seeing clouds from both sides von Lyoudmila Milanova. Es sind Wolken, von oben und von unten synchron fotografiert. Gefällt mir gut. Wie ohnehin das Projekt, das nun schon seit 2015 läuft. Ein anderes Projekt besuche ich in der Agneskirche: Quasi auf den letzten Drücker besuche ich die Weihnachtskrippe, die dort in jedem Jahr liebevoll neu arrangiert wird. Besonders mag ich das motzige Zicklein, das am Rande der Krippe steht und die Besucherin unwirsch mustert.
Ich öffne die Haustür, die dies mit einem ungnädigen Seufzen begleitet. Vielleicht sehnt sie sich nach einer anderen Aufgabe? Möglicherweise ist ihr die Lust vergangen, sich von Hinz und Kunz öffnen zu lassen. Zunehmend verweigert sie sich dem Schlüssel. Der Hausmeister ein Phantom. die Hausverwaltung verschanzt sich hinter einem anonymen Callcenter.
Neue Reihe: Abschiedstournee von Dingen
Bevor ich mich haltlos finsteren Gedanken über Immbobilienkonzerne hingebe, widme ich mich lieber einem Vorhaben: Ich lasse los. Die Wohnung ist zu voll. Täglich muss bis auf weiteres etwas gehen. Heute etwa eine CD und drei Bücher.
Tschüss, Hellsongs, Hymns in the key of 666. Schöne CD, aber an den Coverversionen von Klassikern des Metal habe ich mich leidgehört. Tschüss, Alfred Andersch, Die Kirschen der Freiheit. Steckengeblieben bin ich auf Seite 43. Das Buch ist ein autobiographischer Bericht, in dem Andersch von sich als Kind, Jugendlicher und junger Mann erzählt, bis zum Jahr 1944, in dem er desertiert. Ein wichtiges Buch, indes, ich bin sicher, dass ich es nicht beenden werde. Tschüss, Walter Farleys Blitz – Der schwarze Hengst. Ein Sammelband mit den zwölf Romanen um einen Jungen und ein Pferd, die gemeinsam Abenteuer erleben. Habe ich als Jugendliche sehr geliebt, inzwischen steht es nur mehr aus nostalgischen Gründen im Regal herum. Nun nicht mehr. Gehen muss auch Emily Brontës Sturmhöhe. Ich gestehe es mir inzwischen ein: Ich kann dieses Buch einfach nicht leiden. Mir gehen alle Menschen darin mit ihrer Besessenheit und Gewalttätigkeit, ob sich selbst oder anderen gegenüber, ebenso auf die Nerven wie generell die Romantisierung unguter Beziehungen.
Und so beginnt das Jahr mit einem weiteren Klassiker: Nach Innehalten mit Rückschau aufs vergangene Jahr, dem ich mich einige Tage lang in Social Media hingab, wird nun auch noch in diesem Haushalt aufgeräumt. So sei es.
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Das Rezept (vollständiger Text aus rechtlichen Gründen dort) von Mascha Kaléko ist beinahe hundert Jahre alt. Es ist eins aus Zeiten, die andernorts wieder oder immer noch Gegenwart sind. Zeilen, die an diese Zeiten erinnern.
[…]
Zerreiß deine Pläne. Sei klug
Und halte dich an Wunder.
Sie sind lang schon verzeichnet
Im grossen Plan.
Jage die Ängste fort
Und die Angst vor den Ängsten.
Oh ja, „Sturmhöhe“ sollte bei mir auch ausziehen – ich habe nie eine Zugang dazu gefunden.
Alles Gute fürs neue Jahr von der schäl Sick neben dem Stall!
Liebe Grüße
Heike
Nanu, Dein Kommentar musste ich manuell freigeben. WordPress ist doch manchmal eine Zicke. Dir auch alles Gute und ein glückliches neues Jahr, liebe Heike!
Wie schön, Frau Ladwig geht wieder los. Es ist immer so klasse, deinen Blicken beim Lesen zu folgen. Und ich will auch gleich mal hier losgehend im Speckgürtel schauen, was es neues gibt.
In diesem Sinne – auf bald, liebe Wibke.
Gruß von Anke
Liebe Anke, ich danke Dir. Der erste Kommentar des Jahres von Dir, welch Glück.
Auf bald und sei von Herzen gegrüßt, Wibke.
Danke für das Rezept. Es kommt im besten Moment!
Lyrik hilft. <3