Was habe ich damals geheult.
Ich war sieben Jahre alt und sah Winnetou sterben. Winnetou, mein Held. Der mit dem wehendem schwarzen Haar und den freundlichen Worten, der auf dem schönen Rappen. Gerade noch galoppierte er über die Freilichtbühne im sauerländischen Elspe. Und nun: tot. Dass es eigentlich Pierre Brice war und dass er in dieser Saison ein- bis zweimal täglich seinen melodramatischen Tod starb – geschenkt. Ich verehrte Winnetou, ich _war_ Winnetou, wenn ich zuhause im Pferdchengalopp auf meinem imaginierten Rappen über die Wiesen des Sauerlandes ritt. (Gut, oft war ich auch Zorro. Oder Zora. Dann ohne Pferd.)
Soeben sah ich aber, dass alles Lug und Trug war: Winnetou lebt. Er tourt mit seinem Kumpel Shatterhand durch die Republik. Singend! Au weia. Das ist nun noch ernüchternder als damals, als ich die Bücher Karl Mays (fast) alle nochmal las und mir die Missioniererei darin und der Rassismus mit nacktem Hintern ins Gesicht sprangen.
Unbeeindruckt von allem gibt sich die Kölner Natur dem Fake-Frühling hin und betreibt Zellteilung. Ich gehe derweil meinen Weg ins Heimbüro.
Eine Mutter mit zwei Kindern fährt an mir vorüber.
Sie und der ältere Spross auf Fahrrädern, eine Knirpsin auf dem Laufrädchen. Während Mutter nebst Spross elegant um die Pfützen navigieren, steuert die Knirpsin sämtliche Pfützen an, um sie mit tiefer Befriedigung zu durchfahren. Nach jeder Pfütze wird die Haltung stolzer. Und die beigefarbene Hose gepunkteter. Hosen kann man waschen, Haltung bleibt.
Am Anleger ist heute alles ruhig. Keine Schiffe, kaum Passanten. Ein Bus. Weiter oben, an der Rheinuferstraße, indes wieder gewohnt hektisches Herumgefahre. Die Schulferien sind vorbei. Man hat es eilig. Ich will bei Fußgängergrün die Ampel überqueren, aber ein Bus und drei Limousinen rauschen mit wahnwitziger Gerschwindigkeit bei Rot rüber. Alle bekloppt. Auf der Zunge bleibt ein saurer Pelz aus Abgasen und Ärger.
Den Weg zur Hundewiese gehe ich schon wieder in freudiger Erwartung.
Vor mir schwänzelt ein lustiges Paar an der Leine ihrer Inhaberin: Eine Art Spackel-Terrier wackelt vor mir her, die langen Ohren schaukeln im Wind. Die Steuermarke seines schwarzen Kumpels klimpert fröhlich. Auf der Hundewiese sehe ich einen braunen Hund sitzen. Hm, ganz allein. Rührt sich nicht. Ich blicke mich um. Kein Mensch zu sehen, der in irgendeiner Beziehung zum Tier stünde. Dass ich dringend zum Optiker muss, stelle ich fest, als der Hund sich mit weiten Schwingen in die Luft erhebt und Platz auf der Platane nimmt. Was wiederum einer Krähe nicht gefällt, die den Greifvogel mit energischem Krächzen und Schnappern in den Bussardpürzel verteibt. Kurze Zeit später höre ich des Bussards typisches Maunzen über dem Rosengarten.
Trübes Wetter mag ich recht gern.
Solange auch wieder heitere Tage in Sicht sind. Ich werde nicht müde, in den Pfützen einen Blick in eine Anderwelt zu werfen. Manchmal stelle ich mir vor, wie ich in meinen Schatten gezogen werde und in dieser Anderwelt wieder auftauche. Ich frage mich, welche Welt wohl diesen einen Schritt entfernt liegt, eine Welt, die zwar aussieht wie ein Spiegelbild unserer Welt. Aber vielleicht herrscht dort längst Weltfrieden? Die Konturen beider Welten sind an diesem Morgen verwaschen. Ein wunderliches Zwielicht, schreibt Gottfried Keller:
Es ist ein stiller Regentag,
So weich, so ernst, und doch so klar,
Wo durch den Dämmer brechen mag
Die Sonne weiß und sonderbar.
Ein wunderliches Zwielicht spielt
Beschaulich über Berg und Tal;
Natur, halb warm und halb verkühlt,
Sie lächelt noch und weint zumal.
Die Hoffnung, das Verlorensein
Sind gleicher Stärke in mir wach;
Die Lebenslust, die Todespein,
Sie ziehn auf meinem Herzen Schach.
Ich aber, mein bewusstes Ich,
Beschau das Spiel in stiller Ruh,
Und meine Seele rüstet sich
Zum Kampfe mit dem Schicksal zu.
Aus der Reihe: Abschiedstournee von Dingen
Ich lasse dieser Tage Dinge frei. Ein Klassiker zum Jahresbeginn, je nun, wer behauptet, man müsse immer originell sein. Heute müssen gehen: Drei Bücher, eine Vase, keine CD.
Den Jahrmarkt der Eitelkeit von William M. Thackeray in der Übersetzung von Theresia Mutzenbacher habe ich ausgesprochen gern gelesen und mich köstlich amüsiert. Und während ich in meiner Ausgabe blättere, zögere ich, weil auch die Illustrationen des Autors darin großartig sind. Aber ich muss mir auch eingestehen, dass ich diesen Roman ohne Helden kein zweites Mal lesen werde. Momentan gibt es übrigens eine Verfilmung in der Mediathek bei Arte. Mich spricht die Serie nicht an, aber das heißt bei mir Seriengrinch nicht viel.
Gehen muss auch Simone de Beauvoirs Memoiren einer Tochter aus gutem Hause. Wichtige, inspirierende Lektüre. Gelesen und nun gebe ich es frei. Seit seinem Erscheinen schleppe ich Dietrich Schwanitz‘ Bildung mit mir herum. Alles, was man wissen muss. Ambitioniert erstanden während meiner Ausbildung zur Buchhändlerin. Gelesen habe ich genau ein Kapitel, nämlich das, was man nicht wissen sollte. Verflixt. Nun habe ich angefangen zu blättern und werde die Freigabe wohl doch verschieben, Hirn, du neugieriger Saboteur!
Nicht freilassen werde ich auch die CD L’etat et moi von Blumfeld. Lag eigentlich zum Aussortieren bereit, aber nachdem ich nochmal reingehört habe, war ich doch positiv überrascht. Dachte, ich sei längst durch mit der Hamburger Schule.
Raus fliegt aber die Vase, die ich mir in einem Anfall von Deko-Wut für mein erstes eigenes Büro gekauft hatte. Vor zehn Jahren war das. Ein Symbol für eine Form der Selbstständigkeit, von der ich mich inzwischen gelöst habe. ICH bin mein Büro. Und das braucht keine Vase.
Insgesamt ahne ich, dass das Aussortieren insgesamt energischer erfolgen muss. Aber dafür gibt es dann ein anderes Verfahren. Einstweilen finde ich ganz schön, einigen Dinge noch ein letztes Mal meine Aufmerksamkeit zu schenken. Selbst auf die Gefahr hin, dass sie bleiben.
Wunderbar geschrieben, vielen Dank für die feinen Beobachtungen und die reizenden Fantasien.
Mich würden der Thackeray und die Beauvoir interessieren, so als Durchlaufregal …
Liebe Anette, ich danke Dir. Oh, aber da vereinbaren wir doch gleich eine Übergabe. Beide Bücher freuen sich auf Dich!