Ich trete vor die Tür.
Schäfchenwolken über dem Viertel. Die Sonne müht sich soeben in den Tag. Ja, Sonne, ich auch, ich auch. Menschen in unterschiedlichen Stadien der herbstlichen Verpuppung eilen an mir vorbei. Dicke Jacken, Schals, verschiedene Kopfbedeckungen. Einer im T-Shirt. Nun gut. Alle scheinen es schrecklich eilig zu haben. Ein Vater schiebt hurtig seinen plappernden Sohn auf einem Roller an mir vorbei. Auf der Straße hupt man, als würde das irgendetwas bewirken können: mehr Platz, mehr Zeit, ein besseres Leben.
Die Agneskirche ist in Morgengold getaucht. Ringsum mehr Gold, Rot, alle Schattierungen von Braun im Grün. Dort fallen die Blätter, vor mir auf der Bank ein aufgeblättertes, zerfleddertes Buch: Das letzte Königreich liegt in Fetzen. Das Schicksal ist unausweichlich. Destiny is all.
Only Cash, heißt es immer noch bei neuen Veedelsthai. Unweit das letzte Eis des Jahres, Geschmacksnote Kreide. Da hupt schon wieder einer. Ein anderer hupt zurück. Schön, so haben alle was davon. Ich gönne meinen Augen ein ausführliches Herumrollen und begebe mich in ruhigere Gefilde. Und wie ich so gehe, fühle ich in mein Bein. Schmerzt es oder schmerzt es nicht? Schmerzt es erst, wenn ich darüber nachdenke, ob es schmerzt? Sollte ich es schonen, benutzen, aufs Fahrrad setzen oder aufs Ross, auf Wanderwegen laufen lassen, was nur, Bein, was, sag‘ es mir. Zum Orthopäden werde ich es erst in vier Wochen bringen können, frühester Termin. Bis dahin werde ich mein Bein vieles zu fragen haben und vielleicht antwortet es eines Tages. Sitzen findet es nur so halb gut, soweit sind wir mittlerweile. Immerhin.
Die Sonne macht wieder lange Schatten. Wie eine Riesin gehe ich über die taunasse Wiese, die so grün und üppig im Saft steht wie im ganzen Sommer nicht. Eine Gruppe von drei Hunden und ihren Inhabern kommt auf mich zu. Freund Bobtail trägt seinen Ball und guckt wichtig. Der braune Labrador strahlt mich an und kommt jubelnd auf mich zu. Der Inhaber lacht. „Kennt ihr euch?” Nee, bis jetzt eigentlich nur aus der Ferne. Aber nun offenbar auch Nase an Hand.
„So, dann gehe ich jetzt mal kicken.“
„Dann gehst du jetzt mal kicken.“
Ein kleiner Junge rennt mit der Bekräftigung der Büdchenfrau aus dem Kiosk hinaus . Hier ist einer unterwegs, um seinem roten Ball die Welt zeigen.
Am Anleger ist was los. Schon oben ist Aufruhr: Die Passagiere des Flußkreuzfahrtschiffes müssen in den Bus, der wegen einer Sperrung nicht gleich neben dem Schiff parken kann. Ihr Gepäck wird von der Crew die Treppen hochgeschleppt. Es wird eng, da, wo des Morgens Menschen auf dem Rad zur Arbeit fahren. „Die sind genauso flink hier wie in Amsterdam!“ ruft eine der älteren Damen, die felsartig mitten auf dem Radweg steht. Ich bin nicht sicher, ob sie die Verbindung hinbekommt. Dass nämlich Radfahrer*innen tatsächlich zügig fahren, wenn sie eine entsprechende Infrastruktur vorfinden. Und dass sie hier keinen gemütlichen Ausflug machen, sondern auf dem Weg zum Arbeitsplatz sind. Das Klingeln der Radpendler*innen wird auf jeden Fall fröhlich ignoriert. Dann kommt eine energische Reiseleiterin und räumt auf. Das Gepäck rechts, die Passagiere links, dazwischen Raum für die, deren Weg versperrt war.
Ich husche durch, knipse noch rasch eine Absperrung vom letzten Marathon, auf der nun ZAHN steht. Zahn. Bitteschön, warum nicht. (Erst beim späteren Lesen geht mir plötzlich auf, dass da ZAUN und nicht ZAHN steht. Eine Absperrung, die Zaun heißt. Natürlich.)
Es ist Mitte Oktober und vieles blüht noch wacker. Die Blümchen am Rheinufer räkeln sich in der Morgensonne.
Ein Blanko-Aushang zum Selbstbeschriften. Was könnte draufstehen?
Suche das Glück. Bitte melden bei Herrn Rossi.
Suche Herz. Biete Geld. Bitte melden bei Peter Munk.
Suche den Gral. Hinweise bitte an Parzival.
Oder wurde etwas gefunden? Ein Knopf, der Eine Ring, Mut?
Nicht gesucht, aber gefunden: In einem Kellerfenster hat sich eine Art Guerilla-Bücherschrank etabliert. Ein sehr gemochtes Buch: Schnee, der auf Zedern fällt. Mankell. Tja, und Ortheil, von dem ich nichts mehr lesen möchte, nachdem ich einmal zu oft seine Kolumne in der lokalen Tageszeitung gelesen habe. Einer, der sich darin gefällt, altväterlich vermeintlich gute Zeiten zu preisen und sich zu mokieren über das, was sich ihm nicht mehr erschließt. Das ist schon nicht mehr konservativ, das ist reaktionär. Kurz überlege ich, ob ich sie mitnehmen und im Bücherschrank einstellen soll. Ich mache mir innerlich eine Notiz, beim nächsten Gang ins Heimbüro einen Beutel mitzunehmen.
Ach, dieses Licht. Eigentlich kam mir der Herbst zu rasch, zu plötzlich. Aber nun, da der lang ersehnte Regen die Wiesen wieder ergrünen ließ, das Ergolden im Herbst die Dürreschäden kaschiert, nun möchte ich die Wanderschuhe schnüren und in die Felder und Wälder.
Auf der Baustelle werden überdimensionale Beutel mit Dingen darin von den Kränen herumgereicht. Ich bewundere die Präzisionskünste der Kranführer. Übrigens fest in Männerhand. In all den Monaten, in denen ich nun diese Baustelle anstarre, sah ich noch keine einzige Frau.
Über mir erneut Gold. Welcher Baum ist das? Hm. Federförmige Blätter. Nussartige Früchte. Ich werde mich damit beim nächsten Gang ins Heimbüro näher beschäftigen. Heute musste ich gucken und knipsen.
Die Agneskirche läutet neunmal. Im Untergrund rauscht eine Bahn. Am Bücherschrank wird schon nach Lesestoff gekramt. Ich schwatze noch kurz mit der Nachbarin an der Ecke und schon stehe ich vor der Haustür.
Wohlan.
Im Nachgang wird es nun traurig. Menschen starben. Entfernte Damen und ein Freund.
Farewell to Angela Lansbury
Angela Lansbury ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Mir war gar nicht klar, dass sie noch lebte. Wie schön, dass sie ein so hohes Alter erreichte. Ich sah sie immer gern und hatte aus der Ferne stets ein Gefühl von Sympathie und latenter Verehrung. Als Kind hatte ich sie in Mord ist ihr Hobby gesehen und empfand ihre Darstellung einer hintersinnigen, tatkräftigen, klugen Schriftstellerin als sehr bereichernd für meine inneren Bilder, wie Frauen sein können. Die tollkühne Hexe in ihrem fliegenden Bett traf voll in meine von Disney und Jim Henson geprägten Vorlieben.
Später war ich mal lange sehr fasziniert von Die Zeit der Wölfe, den ich wieder und wieder ansah. Angela Lansbury spielte die zwielichtige Großmutter, der man trotz ihrer possierlichen Oma-Fassade nicht über den Weg trauen konnte. Am meisten jedoch bleibt mir ihre umwerfende Salome Otterbourne in der Agatha-Christie-Verfilmung vom Tod auf dem Nil in Erinnerung. Einfach grandios. Gerade eben fand ich ein Interview mit Dame Angela Lansbury über diese Rolle. Danke für die wunderbaren Filmmomente! Sie wird unvergessen bleiben.
Andernorts
Eine uralte Tante starb. Und es ist gut, von ihr zu lesen: Drei Bahnfahrten und ein Todesfall.
Einer, der fehlen wird.
Sehr, sogar. Eine entsetzliche Nachricht: Harald ist tot. Ein Verbündeter, einer, den in der Welt zu wissen, diese Welt zu einem besseren Ort machte. Einer, mit dem man gleichermaßen aufs Allerbeste Faxen machen wie auch über Ernsthaftes sprechen konnte. Einer, der kein großes Gewese machte, wenn er mal wieder irgendwo half. Er tat das einfach, weil er es für selbstverständlich hielt. Wenn Harald anwesend war, brachte er eine starke, ruhige Präsenz an diesen Ort. Das war schon so, als wir uns 2011 auf der re:publica kennenlernten. Als wir Herbergsmütter dann im Herbst 2011 unser erstes stARTcamp, ein Barcamp für Kunst und Kultur, veranstalteten, reiste Harald aus München an und brachte Kameras und Technik mit. Und half.
Ob bei Treffen live und in Farbe oder digital: Harald da zu wissen war einfach gut. Beinahe hätten wir mal ein Kulturmeldeamt gegründet. Einmal haben wir uns einen Flohzirkus für Twitter ausgedacht. Und unzählige Ideen sind in den Tiefen unserer Twitter-Chats vergraben.
Nun starb er vor wenigen Tagen. Plötzlich. Viel zu früh. Immer noch kann ich es gar nicht glauben. Er lässt Menschen zurück, denen er schmerzlich fehlen wird. ????
Dieses Foto entstand bei einer re:publica in Berlin. Ein Schatz, den ich weiterhin hüten werde.
Wunderschön beschrieben