Ich trete vor die Tür, auf meinem Rücken ein Rucksack …
… im Herzen Vorfreude: Es geht nach Mons! Und im Grunde ist es irrwitzig: Kurz vor der Buchmesse und der sich anschließenden Woche unabhängiger Buchhandlungen knipse ich mich zwei Tage lang aus dem Geschehen aus, setze mich in den Zug und lasse mich in die Wallonie fahren. Der sehr geschätzte Tourismusverband Belgien-Wallonie hatte eingeladen, denn es gab eine Pressebesichtigung in der Ausstellung zu Joan Mirò. Vielleicht erinnert Ihr Euch: Im Mai waren wir Herbergsmütter auf unserer #KultourWallonie unterwegs und hatten uns alle ziemlich verknallt in diese eigenwillige Region im Süden Belgiens. Darüber hinaus war das Miteinander mit den Leuten vom Tourismusverband so reizend und warmherzig, dass ich beschloss, für Mons Zeit zu haben. So.
Ich hatte ohnehin ziemlich schlimm Sehnsucht nach allem Französischen, nachdem die Reise unter anderem nach Slowenien mich, nun, wie soll ich es ausdrücken? Sie bestärkte mich in meiner Liebe zu Frankreich. Und die Wallonie als den französischsprachigen und auch in so vielem anderen französisch geprägten Teil Belgiens liebe ich gleich mit. (Wie passend: Die neue Folge des Podcasts Bonjour Wallonie widmet sich der französischen Sprache in Belgien: Same same but different: Französisch in der Wallonie)
Soweit das Vorwort. Fahren wir los!
Bonjour, Thalys! So fürstlich bin ich selten gereist. Von Köln aus ging es in rotem Samt in der 1. Klasse mit Frühstück am Platz nach Brüssel. Das war schönste #bahnzeit im Sinne von Jaroslav Rudiš, dessen Gebrauchsanweisungen fürs Zugreisen ein Lieblingsbuch ist. Die Zugverbindung zwischen Köln und Brüssel scheint sehr begehrt zu sein. Die Bahn war gut gefüllt, aber da eine Reservierung obligatorisch ist, kam kein Stress auf. Das stimmt mich nachdenklich, denn eigentlich finde ich es ganz gut, in deutschen Zügen auch spontan zusteigen zu können. Aber durch die Reservierungspflicht kommt doch eine gewisse Ruhe rein. Auf seine Mitreisenden hat man keinen Einfluss und das war aufgrund eines Grüppchen aufgeregter Geschäftsreisender aus Schwaben etwas anstrengend. Ich betrachtete derweil erfreut die schicken Uniformen der Thalys-Crew und ließ mir ein Petit Déjeuner reichen.
Draußen sah ich, wie die Landschaft hinter Aachen hügeliger wurde, weitläufige Weiden und Streuobstwiesen, gesäumt von Hecken und Sträuchern – das Herver Land, das mich im Mai so entzückte. Und da war auch schon Lüttich mit seinem schönen Bahnhof, dessen Architekt Santiago Calatrava ich später in Mons erneut begegne. Denn auch dort entsteht ganz unverkennbar ein Bahnhof nach seinen Entwürfen. Und dann versenkte ich mich in die Lektüre über Mons, mit der mich der Tourismusverband versorgt hatte.
Kunst bewohnt die Stadt
Mons. Keine zwanzig Kilometer von der französischen Grenze entfernt liegt die Europäische Kulturhauptstadt von 2015 auf einem der fünf Hügel in der Senke des Flusses Haine oder Henne. Hainaut. Hennegau – so heißt die Provinz, deren Hauptstadt Mons ist. Der Bahnhof ist noch im Bau und erstreckt sich wie eine extraterristische Rampe gen Stadt. Die ist an den Rändern struppig und in der Mitte pittoresk, nie glatt und nur hübsch, sondern mit Ecken und Kanten. Hier kann man hängenbleiben. Mein Herz tut’s schon. Meine Augen tun’s angesichts der vielen Straßenkunst, die das Struppige mit dem Schönen verbindet. Die Kunst in der Stadt, damit lädt die Stadt Mons Künstler*innen ein, „Zwischenräume im öffentlichen Raum zu schaffen. Zwischenräume zum Anhalten, Zwischenräume zum Hineinsetzen, Zwischenräume zum gegenseitigen Zuhören.“ Es macht viel Freude, die Kunst zu entdecken.
Hier und da sieht man Überreste der Installationen, als Mons 2015 Kulturhauptstadt Europas war. Damals waren die Mauern, Hauswände und Straßen der Innenstadt durch ein langes weißes Band mit Gedichten verbunden. Insgesamt zogen sich zehn Kilometer Literatur durch den Ort. La Phrase hieß das Projekt und hier kann man Bilder der Entstehung sehen.
Über allem der Belfried von Mons.
Der Schriftsteller Victor Hugo (u.a. Der Glöckner von Notre-Dame) nannte den einzigen barocken Belfried einst „eine riesige Kaffeekanne, von vier kleineren Teekannen flankiert„. Auf dem Turm befinden sich insgesamt 25 Tonnen Glocken, 49 an der Zahl, die größte allein wiegt schon fünfeinhalbtausend Kilo. Als ich mit meiner freundlichen Begleitung von Visit Mons oben im Turm stehe, geht das Geläut auch schon los. Heiliger Bimbam! Zu jeder Stunde gibt erklingt das Läuten anders und wer schon lange in Mons wohnt, braucht keine Uhr mehr, um die Zeit zu wissen.
Die Gefahr, sich zu verlaufen, ist gering. Der Belfried dient als zuverlässige Orientierungshilfe. Zu Fuß lässt sich in aller Gelassenheit viel sehen, denn Sehenswertes und Entdeckungen finden sich an jeder Ecke. In der gotischen Stiftskirche Sainte-Waudru steht etwas ganz Besonderes: der Car d’Or, der goldene Wagen. Ein überwältigend prunkvoller und mit Engelchen bestückter Prozessionswagen, auf dem zu Fronleichnam der Reliquienschrein der Heiligen Waldrudis durch die Gassen von Mons gezogen wird. Bespannt mit zwei kräftigen Kaltblütern und unter Hilfe von Männern aus Mons, die sich beim Erhaschen von Mähnenhaar das Glück fürs kommende Jahr sichern wollen. Wenn ich das alles richtig verstanden habe, denn dieses jährliche Spektakel ist randvoll mit Ritualen und Brauchtum. In der ganzen Stadt finden sich an Häusern und in Fenstern Bilder von Drachen, denn es gibt nicht nur diese Prozession, sondern auch noch einen Heiligen Georg, der gegen den Drachen kämpft. Lumeçon wird das alles genannt.
Die Doudou von Mons ist eine Festwoche mit dem Höhepunkt der Ducasse, dem Volksfest, und dem Kampfspektakel auf dem Grand’Place von Mons, die offenbar ihresgleichen sucht. Kein Wunder, dass es auch ein Museum des Doudou gibt. Mir erschloss sich erst im Laufe meines Aufenthalts in Mons, was für eine Bedeutung dieses Fest für die Stadt und ihre Identität hat. Beim nächsten Besuch werde ich dieses Museum auf jeden Fall besuchen. Diesmal streifte ich es nur.
Besucht habe ich das Maison Losseau und ich nahm ein Bad im Jugendstil. Léon Losseau widmete sich mit Hingabe der Gestaltung des Hauses im Jugenstil und seiner Bibliothek – keine Überraschung, dass im Haus auch das Zentrum für Literatur aus dem Hennegau zu finden ist. Entzückt hat mich die kleine Bar, die Losseau für sich und seine Besucher im Haus eingerichtet hat. Die begehbare Hausbar, das könnte mir auch gefallen.
Ach, Mons.
Neben all den Sehenswürdigkeiten fand ich es am schönsten, durch die Gassen zu flanieren. Gleich neben den belebteren Einkaufsstraßen mit hübschen Geschäften trabte ich durch die verlasseneren Hinterzimmer der Stadt, die nie weit entfernt waren. Eine kontrastreiche Stadt – übrigens auch eine, die nicht in der Pflege der Vergangenheit erstarrt ist. Mons gilt als Digital Innovation Valley mit Belgiens Digitalzentrum und Niederlassungen von Google und Microsoft. Hier findet man auch das Oberste Hauptquartier der Alliierten Streitkräfte in Europa, SHAPE der NATO. Die Stadt ist jung und bunt: Die Universität von Mons zieht viele junge Menschen aus aller Welt an.
Es ist also viel los in der Stadt, ohne dass es unangenehm wäre. Es gibt zahlreiche Bars, Cafés, Kneipen und Restaurants, um zwischendurch Platz zu nehmen und – nun ja, man sitzt ruckzuck beim belgischen Trappistenbier, à la vôtre! Als Mons im Jahr 2015 Kulturhauptstadt Europas war, war sie es zeitgleich mit der tschechischen Bier-Metropole Pilsen. Gut gewählt.
Essen, Trinken, Schlendern, Gucken, Sein.
Das geht alles gut in Mons. Ich komme wieder, schon allein, um mir das mit Van Gogh näher anzusehen. Der war nämlich vor den Toren Mons in der in der Borinage als Laienprediger tätig und fasst dort den Entschluss, Künstler zu werden. Die Borinage war damals die Industrielandschaft um Mons und 150 Jahre lang eins der wichtigsten Steinkohlereviere Europas. Eine brutale Monokultur, die mit ihren Kohlebergwerken, Kohlekumpeln, Bauern und Handwerkern Van Gogh Inspiration für sein künstlerisches Werk lieferte, so ist es in Briefen zu lesen. Von dort aus zog er los, um Maler werden.
Gut geschlafen
Im B&B Dragon House – und ratet mal, wie mein Zimmer hieß? Genau. Doudou. Jedes Zimmer ist von einem anderen Künstler oder einer anderen Künstlerin gestaltet. In dem Guesthouse gibt es nicht nur Zimmer zum Übernachten: Es gibt eine Art Wohnzimmer zum Sitzen, Lesen und Fernsehen und eine Gemeinschaftsküche. In dem Haus wohnten gerade auch Leute, die einige Wochen oder Monate bei Google arbeiteten. Alle dort ausgesprochen reizend. Dort ließ sich gut schlafen.
Gut gegessen (und getrunken)
Das erfreuliche Frühstück im Thalys hatte ich schon erwähnt. In Mons musste ich Fritten essen, ganz klar. Am Abend war ich dann im Restaurant Boule de Bleu, wo ein Tisch für mich reserviert war. Spezialität: Salat! So gut kennt man meine Vorlieben inzwischen. Ich saß dann freudestrahlend vor einer gewaltigen Portion Grünzeug und trank dazu einen fabelhaften Rotwein. Auch hier waren alle unglaublich nett. Am nächsten Morgen frühstückte ich dann im Le Pain Quotidien, bevor es ins Museum ging. Für mich wurde es ein schnelles Frühstück mit Croissant und Pain Au Chocolat, weil ich vorher leider noch arbeiten musste und mir die Zeit davonsprang.
Gut gereist
Mit der Bahn kam ich über Brüssel problemlos und pünktlich hin und her. Nun, fast pünktlich, denn zurück reiste ich ab Brüssel mit der Deutschen Bahn und die hat’s einfach schwer momentan. Belgien gilt zu Recht als eins der großen kleinen Bahnreiseländer. Tja, und der Thalys hat ordentlich Punkte bei mir gemacht. Zuletzt bin ich 2007 mit dem Thalys nach Paris gereist und ich hatte das doch als gar nicht mal so gut in Erinnerung, beengt und unwirtlich. Nun freue ich mich auf ein nächstes Mal.
Denn Mons wird mich wiedersehen, soviel ist sicher. Vielleicht klappt es noch, um mit dem Mann zusammen die Mirò-Ausstellung anzusehen. Die läuft noch bis zum 8. Januar 2023 und ist einen ausführlichen Besuch wert.
Hinweis zur Transparenz
Diese Reise fand auf Einladung vom Tourismusverband Belgien-Tourismus Wallonie statt, die alle Kosten für meinen Transport, die Verköstigung und die Übernachtung übernahm. Thalys beteiligte sich als Sponsor meiner Hinfahrt. Meine Meinung bleibt davon weitestgehend unbeeinflusst. Ich schreibe bewusst „weitestgehend“, weil das ganze Miteinander und die Sorge um mein Wohl mich in eine Stimmung brachte, dass ich mich einfach auf die Reise freuen und sie genießen konnte. Dafür bedanke ich mich herzlich.
An dieser Stelle ein Hinweis für Menschen mit Gehbehinderungen: Wer schlecht zu Fuß ist oder auf den Rollstuhl angewiesen ist, wird von Mons nicht so begeistert sein wie ich. Denn barrierefrei ist die Stadt nicht, was an der historisch gewachsenen und erhaltenen Beschaffenheit der Straße liegt (Kopfsteinpflaster) und viele Häuser verfügen über einen Treppenabsatz.
Zu guter Letzt noch etwas zur Frage, ob man denn die Wallonie besuchen kann, wenn man wenig oder kein Französisch spricht: Ja! In Mons kam ich gut zurecht, weil die Menschen dort einfach unfassbar nett sind. Viersprachig (Englisch, Deutsch, Französisch, Flämisch) plus Hand und Fuß kamen wir irgendwie gut miteinander zurecht. Insbesondere Englisch ist kein Problem. Deutsch hat ulkigerweise kaum jemand auf dem Schirm obwohl wir doch Nachbarländer sind und Belgien sogar eine deutschsprachige Gemeinschaft hat. Aber historisch bedingt ist es eben auch kompliziert, was aber im direkten Miteinander kein Hindernis ist.