In der Ferne bläuen sich dunkel die Berge.
Unser Weg führt geradewegs auf sie zu. Wir halten an und schauen eine Weile einfach auf das, was vor uns liegt. Es geht in die Berge und durch die Berge ans Meer. Unsere Reise wird uns durch drei Länder führen, durch die Alpen, durch Weinberge, an Flüssen entlang bis ans Meer und durch Lagunen in den Karst, über Hochebenen und durch Schluchten. Fast drei Wochen Zeit haben wir dafür. Auf den Fahrrädern ist alles, was wir brauchen. Vermutlich.
Villach, Dobratsch, Drau und Gail. Es sind Namen, die mir vertraut sind. Als ich Kind war, reisten meine Eltern mit mir und meinen Geschwistern Jahr für Jahr nach Kärnten in den Sommerurlaub. Auch im Winter waren wir einmal hier in der Gegend. Ich erinnere mich an Touren mit den Langlaufschi durch üppig in Schnee getauchte Wälder, an Moonboots und den schwitzigen, knarzenden Schneeanzug. Im Sommer wanderten wir viel. Halbwilde Pferde stibitzten Äpfel aus unseren Rücksäcken. Es ging durch die Wolken an rauen Gipfeln vorbei. Die frische, ungekühlte Buttermilch auf der Alm schmeckte ungewohnt und eklig. Es waren die 1970er und 1980er Jahre, der Tourismus bestand noch darin, dass es neben der Landwirtschaft ein paar Fremdenzimmer mit Bad auf dem Flur gab und eine kleine Gastwirtschaft, in denen die wenigen Touristen mit den Einheimischen zusammensaßen. Es war familiär und gelassen. Man lief als Gast einfach mit, während auf dem Bauernhof Kälber geboren und Kühe geschlachtet wurden. Ein Teil der Herde war im Sommer auf der Alm. Einmal stürzten gleich mehrere Tiere ab, als es ein heftiges Gewitter gab. Vor dem Gasthof war eine Straße, damals noch wenig befahren, dahinter ein kleines Schwimmbad und der Nutzgarten. Nicht weit weg floss die Gail.
Die Gegend hat sich verändert. Der Tourismus hat sie aufgefressen, scheint mir. Ähnlich wie an großen Flüssen konzentriert sich in den Bergtälern der Verkehr und erfüllt sie mit dröhnendem Lärm. Und doch, die Ausblicke auf die Bergwelt sind überwältigend. Von Villach aus fahren wir Richtung Tarvisio. Es geht nach Italien. Stillere Radwege führen uns an die Drau. Dann geht es stetig aufwärts und die frisch geheuten Wiesen duften dazu. Wir sind unterwegs auf dem Ciclovia Alpe Adria Radweg, ein grenzüberschreitendes Projekt, das seit 2012 eine leichte Alpenüberquerung ermöglicht. Der Weg führt auf Radwegen und Straßen und unter anderem über ehemalige Bahntrassen auf etwas über 400 Kilometern durch die Alpen von Salzburg nach Grado an der Adria. Hier sind auch im Juni viele Leute mit dem Rad unterwegs, der Großteil mit E-Bikes. Zum Einrollen kommt uns die gut ausgebaute Strecke gerade recht.
Ich kann mich an den Bergen kaum sattsehen. Dabei war ich jahrelang davon überzeugt, dass ich Bergen nichts abgewinnen kann. Mir war ihre körperlich bedrückende, mächtige Präsenz, ihr Gewicht zu viel. Doch sobald ich wusste, dass es mit dem Rad in die Berge geht und nicht mit dem Auto, war das Unwohlsein weg. Nicht die Berge waren mir zu viel, sondern die Autofahrten auf den Serpentinen und das Aufschaukeln meines Magens. Schnelles Reisen bekommt mir nicht. Pässe indes reizen mich ebenfalls nichts so sehr. Mir genügt, die Berge anzustarren und dem Licht dabei zuzusehen, wie es sie sekündlich verändert.
In Valbruna übernachten wir in einer der schönsten Unterkünfte unserer Reise, in einer Art Holzfass am Ende eines stillen Tals. Am Abend schnürt keine zwei Meter entfernt ein Fuchs in aller Gelassenheit vorbei und wir waren die Hasen, die freundlich Gute Nacht sagten. Im Ort gibt es einen fabelhaften Dorfladen, in dem es einfach alles gibt. Auch ein frisch gezapftes Bier. Ich mache dort Bekanntschaft mit Brot, das ich erst für einen Ausrutscher halte, aber weder in Italien noch in Slowenien war das Brot der Rede wert. Manchmal gab’s aber sehr köstliche, mit Schoko- oder Vanillecreme gefüllte Croissants.
Ab Tarvisio geht es immer bergab, das Kanaltal runter bis in die Po-Ebene. Wir fahren bis Gemona. Dieser Teil des Alpe-Adria-Radwegs ab Pontebba gilt als der schönste. Aber es ist im Grunde eine Schnellstraße, nur für Fahrräder. Im Kanaltal begegnet man außerdem immer wieder der Autobahn, die wohl seit vielen Jahren halb Süddeutschland und Österreich nach Italien bringt. Das Auge vermittelt einem Stille, die Ohren melden Verkehrsrauschen. Mir sind die ruhigeren Passagen lieber, selbst wenn sie weniger spektakulär sind. Zwischendurch geht es durch ehemalige Eisenbahntunnel, manche mit Galerien, durch die man ins Tal und die Berge blickt. Bestimmt war die Fahrt mit der Bahn auf dieser Strecke früher sehr schön. Seit 2000 fährt die Bahn auf einer neuen Trasse und durch einen anderen Tunnel unter dem Berg.
Rast machen wir, wie eigentlich alle anderen Radreisenden und Ausflügler auch, im alten Bahnhof von Chiusaforte. Hier hat man mit Herz und Verstand einen guten Ort geschaffen, in dem man übernachten kann, Hilfe bei Problemen mit dem Rad findet und wo es Essen gibt. „Die Karte bin ich”, ruft uns die patente Kellnerin zu. Sie ist überall, bester Laune und hat den Laden voll. Und das in ungefähr fünf verschiedenen Sprachen. Eine Wucht! Und die Pasta schmeckt ausgezeichnet. Eine Weile wohnen wir dem munteren Treiben an diesem Ort bei, bevor wir uns weiter ins Tal stürzen.
1976 gab es ein schweres Erdbeben im Friaul. Viele Orte wurden zerstört, Menschen starben. Dieses Ereignis hat die Region tief geprägt. Wir kommen an beschädigten Häusern vorbei, die als Erinnerung an die Zerstörungen stehenblieben. Andere Orte wurden wiederaufgebaut, wie etwa Venzone. Ich stoße bei meinen Recherchen auf den Artikel eines Geologen und notiere mir den Roman Rombo von Esther Kinsky, der in diesem Jahr erschien. Möchte ich lesen.
In Gemona finden wir einen schönen Platz für unser Zelt auf dem Campeggio Ai Pioppi. Schatten ist zwar rar, aber es lässt sich gut aushalten bei kühlen Getränken im von der Familie betriebenen Restaurant. Hier übernachten viele andere Radreisende mit ihren Zelten. Eigentlich freue ich mich immer, wenn ich andere Menschen sehe, die mit Rad und Zelt unterwegs sind. Aber manchmal gibt es auch recht schräge Begegnungen. Nicht weit entfernt schwadronieren zwei allein reisende Herren lauthals über ihre Leistungen und technologische Höhenflüge, was einen doch eher betreten zurück lässt. Neben uns dafür drei angenehm entspannte, schweigsame Damen mit Gravelbikes und interessanten Frisuren. Wir wechseln ein paar Sätze, bleiben uns aber ebenfalls als mobile Schweigeklöster treu. Wir widmen uns dem Kochen, Atmen und Sein. Ich genieße den Blick auf die Berge ringsum und frage mich, warum wir eigentlich das Fernglas zurückgelassen haben.
Eigentlich hätten wir hierbleiben sollen, denke ich im Nachhinein. Ein guter Ort. Aber wir hätten natürlich viel weniger gesehen und erlebt. Oder einfach anderes.
Verknallt in Cividale del Friuli. Der Weg von Gemona aus führte uns durch den Collio, das Görzer Hügelland, an Weinfeldern entlang. Das Friaul ist berühmt für seine Weine und an diesem Abend kosten wir uns durch. Mangels Campingplätzen auf dem Alpe-Adria-Radweg hatte ich uns im Vorfeld über Airbnb in Valbruna und in Cividale del Friuli anderweitig Unterkünfte gebucht. Mitten im Zentrum der mittelalterlichen Stadt Cividale del Friuli beziehen wir ein sehr schönes Apartment. Gleich gegenüber ein mittelalterliches Haus, das als Heimat des Goldschmieds bekannt ist. Zum Collio Friulano gibt es immer eine kleine Trinkhilfe dazu: gesalzene Kartoffelchips, Arancini, eine Handvoll grob geschnittener Fritten – einfach fantastisch. Wie ohnehin diese Stadt mich sehr entzückt. Einst eine keltische Siedlung, erhob Julius Cäsar Cividale zur Stadt. Hier findet man noch überall Spuren etwa der Ostgoten, Franken und Langobarden, die von hier aus ihre Eroberungen fortsetzten. Es gibt ein Kloster aus dem frühen Mittelalter, die legendäre Teufelsbrücke aus dem 15. Jahrhundert, ach, die Stadt platzt schier vor Geschichte. Dabei ist sie überaus lebendig, voller Geschäfte, Bars, Cafés und Restaurants. Die Plätze sind belebt und man sitzt, trinkt und isst. Wir machen mit.
Wenige Tage zuvor ist übrigens der Giro d’Italia durch Cividale del Friuli gekommen. Später streifen wir dann nahe Ljubljana die Tour of Slovenia. Hui!
Allmählich verabschieden wir uns von den Bergen. Einstweilen, denn inzwischen sind wir uns einig, dass wir über Slowenien zurück nach Villach fahren, wo wir am Ende unserer Reise in den Zug zurück nach Köln steigen werden. Zunächst jedoch geht es nach Aquileia. Von Cividale del Friuli hätten wir auch gut direkt ans Meer fahren können, aber in Aquileia, einst bedeutendes Wirtschafts- und Handelszentrum des Römischen Reiches und heute UNESCO-Weltkulturerbe, wartet eine Sensation auf uns: Das größte frühchristliche Mosaik der westlichen Welt. Drumherum findet man weitläufig Ausgrabungen aus römischer Zeit, etwa einen Binnenhafen und ein Forum. Die Basilika, in sich das Mosaik befindet, ist aus dem 11. Jahrhundert. Die Vorhalle ist indes aus dem 9. Jahrhundert, die Taufkapelle aus dem 5. Jahrhundert. Die frühesten Mosaiken sind aus dem 4. Jahrhundert und liegen teilweise in mehren Schichten aus verschiedenen Epochen. Sehr schön auch die Fresken, die auf das 4. bis 12 Jahrhundert datiert werden. Eine einzige, beeindruckende Zeitreise.
Bsss. In Aquileia schlagen wir unser Zelt auf. Auf dem einzigen Campingplatz weit und breit stehen wir im Schatten hoher Bäume. Das Meer und die Lagunen sind nicht weit entfernt. An Aquileia vorbei fließen schmale Flüsse und Kanäle. Ideale Bedingungen für Stechmücken … Bsss. Myriaden von blutdurstigen Mistviechern stürzen sich auf uns. Hektisches Sprühen mit dem Antimück.
Gleich neben dem Campingplatz gibt es übrigens ein Fischrestaurant, das ich sehr empfehlen möchte. Wir saßen nicht nur angenehm im Garten des Restaurants, sondern es wurde hervorragend gekocht (auch Nicht-Fischiges für die Nicht-Fischesserin hier) und der Wein war ebenfalls sehr gut. Und es war einfach alles nett.
Nach der Besichtigung von Aquileia machten wir uns auf ans Meer. Ans Meer! Noch eben fuhren wir durch die Alpen, nun erreichen wir die Adria. Ich bin regelrecht ergriffen. Den anvisierte Campingplatz ist voll, aber sympathisch. Wir bauen unser Zelt in einer ruhigen Ecke auf und starren bei Kaltgetränken aufs Meer und die etwas skurrilen italienischen Strände mit ihren akribisch arrangierten Liegen und Sonnenschirmen. Die Popstars des Campingplatzes sind die Möwen, die am nächsten Morgen ab etwa fünf Uhr hopsend, schnatternd und jappend eine respektable Show aufführen und dafür sorgen, dass hier niemand verschläft.
In Grado geben wir ein Paket auf, um etwas überflüssiges Gepäck zu meiner Frau Mutter zu senden. Es ist kompliziert, es kostet ein Vermögen und dann ist das Paket völlig überflüssigerweise schon am Tag darauf im Sauerland. Der Tag ist drückend heiß und wir fahren durch die etwas eintönige Lagunenlandschaft über Monfalcone nach Sistiana.
Im Castello Duino war Rainer Maria Rilke im Winter 1911/12 zu Gast. Er war mitten in einer Lebens- und Schaffenskrise, wanderte viel und begann, seine Duineser Elegien zu schreiben. 1922 erst schloss er sie ab. Von Sistiana aus führt der Rilke-Wanderweg zum Schloss von Duino. Vom Campingplatz aus erreicht man ihn gleich hinter der Terrasse der Rilke-Bar. Die Fotos mit ihren berückenden Pastellfarben am Abend und dem Knalltürkis am Tag täuschen: Über Tag dringt das Jauchzen und Kreischen der Badegäste von den Stränden herauf. Man blickt auf großzügige Parkplätze und eine Kläranlage, die deutlich die Luft aromatisiert. Das alles erdet zu sehr, um sich den schwermütigen Zeilen von Rilke hingeben zu können. Vermutlich braucht es dafür einen Winter.
„Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug.“
Von Sistiana aus nehmen wir den Bus. Einen Tag lang werden wir uns Triest ansehen. Große Städte und Radreisen passen für mich nicht wirklich zusammen. Womöglich rührt es daher, dass ich in einer großen Stadt leben und auf Reisen alles andere suche als Menschenaufläufe, geschäftiges Treiben und irrwitzigen Stadtverkehr. Wir lassen uns treiben, staunen über die Medusen im Hafenbecken, steigen zur Basilika empor, sitzen eine geraume Weile in einem fabelhaften und ziemlich hippen Mobilcafé herum, blicken auf Pilgergruppen, kaufen unten in der Stadt bunte Stoffservietten und sitzen irgendwann ziemlich erledigt wieder im Bus.
Was ich von Triest höre und lese, gefällt mir. In Triest zu sein, gefällt mir jedoch nicht.
Nicht über die Küstenstraße. Die Busfahrt führt uns zu der Erkenntnis, dass es sinnvoll ist, von Sistiana aus die Bahn nach Triest zu nehmen. Denn von dort aus geht es auf einer ehemaligen Bahntrasse empor in den Karst. Die Fahrt vom Bahnhof in Triest zum Einstieg in die Pista ciclopedonale Giordano Cottur ist anstrengend, nun ja, aber irgendwann erreichen wir den Radweg und auch der ist anstrengend, aber anders. Stetig geht es hügelan, zunehmend über Schotter. Fieser Schotter, der eher für Mountainbikes geeignet ist und weniger für bepackte Reiseräder. Dass dies ein Vorgeschmack ist auf die Wege in Slowenien, ahnen wir zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Und dass es sich mit der kargen Verpflegungslage ähnlich verhalten wird, tja. Der Karst ist aber grandios. (An dieser Stelle empfehle ich gern das Buch Gehen im Karst von Jan Volker Röhnert.)
Mit hängenden Zungen. Viel weiter oben erreichen wir einen kleinen Ort mit dem besten Lebensmittelladen der ganzen Reise. Und dem nettesten Ladenbesitzer, der noch mit rauskommt, um sich unsere Räder anzusehen. Und der ein Mobilheim auf demselben Campingplatz hat, auf dem wir in Grado waren. Einzig ärgerlich war, dass wir angesichts der Steinpilze in den Kisten vor der Kasse nicht geschaltet haben. Ich ließ mir noch lang und breit erzählen, dass die Pilze frisch aus den Wäldern in Bosnien kommen und bewunderte die Ausbeute. Wir haben keine gekauft. Ich ringe immer noch Hände! Ich kann es mir nur so erklären, dass ich annahm, dass sich diese schlaraffenlandeske Situation nun fortsetzt und auf diesen Laden weitere seiner Art folgen werden. Pustekuchen.
Im Himbeerparadies. Während wir für unser Mittagsmahl vor einer Kirche im Schatten eines Baumes saßen, zog ein Gewitter auf. Kurzer Schauer, keine Abkühlung, aber später, kurz vor Erreichen unseres Campingplatzes wurden wir ordentlich nass. Gut, dass wir vorher in einem kleinen Supermarkt fürs Abendessen eingekauft hatten, denn vor Ort gab es schlicht nichts. Gut, es ist ein sehr kleiner Ort, aber veralteten Informationen zufolge sollte es dort eigentlich einen Laden geben. Nö. Eigentlich ist es ein großartiger Campingplatz, eine riesige Wiese, auf der nur wenige Camper standen. Aber auf ein Frühstück durften wir nicht hoffen. Am Abend lässt sich die schmuckbehangene Chefin des Campingplatzes in einer dunklen Limousine über den Platz fahren und kassiert mit barschen Worten. Mafia-Feelings. Noch staunen wir über die hohen Preise, aber irgendwann begreifen wir, dass Zelten in Slowenien teuer ist.
Didüalüo! Ich tröste mich, weil ich noch nie so viele Pirole gehört habe wie hier. Sie zeigen sich zwar nicht, aber sind deutlich zu hören. Als es dunkel wird, fliegen Glühwürmchen umher. Ich schlafe wie ein Stein.
Kaffee und einen Riegel. Oder waren es ein paar Kekse? Das Frühstück ist denkbar karg, aber immerhin Frühstück. Das ist gut, denn aus dem Tal, in dem der Campingplatz lag, geht es ordentlich hügelaufwärts. Die schlechte Versorgungslage und die weit verstreuten Campingplätze drücken auf die Stimmung. Auch Lipica hatte ich mir anders vorgestellt. An diesem weltweit berühmten Gestüt kamen wir am Tag zuvor vorbei und die weißen Lipizzaner, die dort für die Hofreitschule in Wien gezüchtet werden, waren kaum zu sehen. Seufz. Irgendwie wollte es nicht recht zünden zwischen uns und diesem Land, in dem wir auf eine völlig fremde Sprache, skeptische Menschen und eine fehlende Infrastruktur stießen. Tiefer Schotter wechselte sich ab mit allzu gut ausgebauten Straßen, auf denen die Autos und vor allem die Motorräder mörderisch schnell fuhren.
Trosthund. Auch an diesem Abend erreichten wir einen Campingplatz, der zwar eigentlich schön war, aber es gab in erreichbarer Nähe nichts zum Einkehren und keinen Supermarkt. Dem Campingplatzmann konnte ich mit Müh und Not etwas kaltes Bier abschwatzen, aber Milch für den Kaffee am Morgen, nein, das ging zu weit. Die mangelnde Gastfreundschaft wurde etwas wettgemacht durch den ansässigen Golden Retriever, der regelmäßig freudestrahlend vorbeikam und nach dem Rechten sah.
Puh, nee. Wir wollten eigentlich eine Höhle besuchen, doch das streichen wir. Abstecher zur Felsenburg? Och, lass‘ uns weiterfahren. Ljubljana streifen wir nur. Es ist sehr warm, durchschnittlich 38 Grad, schwül, die Luft voller Auto- und Motorradlärm und wir fühlen uns als Radreisende nicht willkommen. Schon längst sind wir bereit für einen Ort, um dort einige Tage zu bleiben. Doch zunächst landen wir auf einem ziemlich überfüllten Campingplatz unweit von Bled. Hier pausieren wir für einen Tag, aber die Stimmung ist mau und Bled eher schlimm. Wir sind uns einig, dass wir uns Slowenien nach allen Erzählungen und Berichten anders vorgestellt haben.
Vielleicht ist es anders, wenn man hier mit dem Auto oder Camper unterwegs ist. Vielleicht hängen wir zu sehr an Frankreich und den Gegebenheiten dort für Radreisende. Vielleicht fühlen wir uns aber einfach aufgrund dieses seltsamen Eventtourismus unwohl, die an Clubanlagen erinnert. Man kann hier alles buchen und, naja, es ist alles andere als einfach eine Wiese mit einem Sanitärhäuschen drauf. Selbst die Sanitäranlagen sind völlig drüber und erinnern eher an Hotels. Muss ich echt nicht haben, wenn ich entspannt mit Zelt und Rad unterwegs bin.
Aber wir machen das Beste daraus, wundern uns eine Runde lang durch Bled, speisen bei Gewitterschauern köstliche Ćevapčići im Campingrestaurant und baumeln lesend oder dösend in der Hängematte.
Stille. Tags drauf erreichen wir den Triglav-Nationalpark in den Julischen Alpen und fahren durch das wunderschöne, einsame Radovna-Tal. Dort finden wir auch endlich ein Gasthaus mit Bio-Bauernhof, in dem wir slowenische Küche und Gastfreundschaft genießen dürfen. Kaum Autos und Motorräder, umso mehr Stille, viele Falter und Vögel, Bergblicke und leider auch eine historische Stätte, die an die Gräueltaten der Nazis im Jahr 1944 erinnern. Vorher hatten wir schon Ruinen einer ehemaligen Eisenhütte entdeckt und später folgt eine Wassermühle. Nachdem das Land bisher zwischen all den sorgfältig gewaschenen Limousinen und plastikartigen Eigenheimen seltsam zweidimensional blieb, gab es hier Kontakt.
Aber ich tue dem Land sicher auch unrecht, denn ich war schlicht noch nicht in einem Land, dass noch so jung ist, vor nicht allzu langer Zeit in einen Krieg verwickelt war und in das sich der Kapitalismus festgebissen zu haben scheint. Auch die vielen Nutzgärten und die kleinteilige Landwirtschaft erzählen eine ganz eigene Geschichte. (Übrigens sah ich selten so viele Insekten und Vögel wie in Slowenien.)
Viele Gedanken also beim Fahren durch dieses Land, viel Ratlosigkeit, aber auch Erschöpfung. Das Fahren bei diesen Bedingungen (Wetter, Wege, Infrastruktur) war einfach kraftraubend. Das Bedürfnis, mal irgendwo anzukommen, wuchs. Gut, dass wir in Gozd Martuljek auf einen feinen Campingplatz trafen, wo wir unter Apfelbäumen mit Blick auf die Berge unser Zelt aufschlugen und einen kleinen Laden gab es auch. Vier Tage blieben wir und wanderte, soweit das mit den Trekkingsandalen ging. Der Mann drehte noch gepäcklos eine ordentliche Runde über die Pässe ins Soca-Tal und zurück, während ich gepflegt faulenzte und dem Berg beim Berg-Sein zusah.
Hui! Am Ende geht es auf herrlich langen Abfahrten zurück nach Villach. Immer weiter hinab und mit jedem Höhenmeter abwärts steigen Temperatur und Luftfeuchtigkeit. Mein Kreislauf streikt. Im Ossiacher See irren wir uns. Es liegt nicht nur an der immensen Gewitterschwüle und dass wir nur noch einen schattenlosen Platz ergatterten, dass wir es dort kaum aushalten. Was für ein schrecklicher Campingplatz. Die übersatten Wohnmobilisten, die satte Bequemlichkeit – ich sehnte mich nach … Frankreich. Und noch während wir im Zug nach Hause sitzen, geistern durch meine Kopf schon Pläne für kommende Reisen. Ich hoffe, dass es möglich sein wird. Alles scheint gerade so unwägbar zu sein. Und jeder gute Moment umso kostbarer.
Es war eine schöne Reise. Auch wenn das mit Slowenien (und Kärnten) nichts Festes wird. Mit dem Rad und zusammen unterwegs zu sein, mit allem, was man braucht, Zeit zu haben, zu zelten, einfach draußen zu sein, andere Gegenden zu sehen, das ist eine unendlich große Wohltat. Und insbesondere in diesen Krisenzeiten ein Privileg, dessen wir uns sehr wohl bewusst sind.
Italien indes wird wieder besucht werden müssen. Ob mit dem Rad oder vielleicht mal mit dem Nachtzug?
P.S. Wer sich die Strecke näher ansehen möchte, kann dies bei komoot tun. (Ein Nachfahren ohne Anpassungen würde ich nicht umfänglich empfehlen.)
Mehr über Radreisen schrieb ich unter anderem hier:
Mit dem Rad nach Südbelgien: Bonjour Wallonie, #KultourWallonie!
Was mir auffällt: Die Reise ins Périgord und in die Normandie im letzten Jahr fehlen noch. Das hole ich wohl mal nach!
Mann, Frau Ladwig, können Sie toll schreiben. Das habe ich supergern gelesen. So vielschichtig, farbig, nicht schönfärberisch, ein großer Genuss. Danke.
Hui, was für ein tolles Kompliment. Dankeschön! ????