Kurz geht es hinauf.
Ein flüchtiger Blick nach links und rechts, am Schleusenhäuschen vorbei und mit Schwung geht es wieder hinunter, weiter am stillen Kanal entlang. Links und rechts der Wasserstraße Wälder, die ein wenig Schatten spenden. Es ist heiß und der Fahrtwind wohltuend.
Der Kanal führt um eine weite Kurve. Ein prächtiges Herrenhaus, Zeugnis vergangener Pracht. Wir fahren an verfallenden Industrieanlagen vorbei. Die Ufer sind mit hohen Gräsern und leuchtend violett blühenden Blumen bewachsen. Summen. Träges Flattern in den Baumkronen. Im Wasser schwimmen gemächlich Fische.
Ab und zu regt sich Leben an einem der Schleusenhäuschen. Bonjour Monsieur! Bonjour Madame! Viele Schleusen werden indes mithilfe digitaler Signale bedient und die Schleusenhäuschen sind verwaist. Selten kommen uns andere Menschen mit dem Rad entgegen. Meist Ausflügler aus der Umgebung. Bonjour! Alle grüßen einander freudig. Eine Weile begegnen wir immer mal wieder einem Vater mit zwei heranwachsenden Söhnen, die mit kleinem Gepäck in unserer Richtung unterwegs sind.
Unsere Richtung?
Eigentlich wissen die wir auch nur so ungefähr. Das Hiersein zählt. Wo bekommt man einen Petit Café und eine Orangina? Wo ist ein Supermarkt, um Käse, Brot, kalten Saft und Gazpacho fürs Mittagessen einzukaufen? Welcher Campingplatz könnte Tagesziel sein? Gibt es dort einen Supermarkt in der Nähe? Nicht immer sind die digitalen Karten aktuell. Nicht immer gibt es die Supermärkte noch, nicht alle Campingplätze sind in diesem Jahr geöffnet. Viele Cafés und Restaurants sind geschlossen, manche offenbar für immer. Zu knapp planen wir also nicht, denn eine Hitzewelle beschert uns Temperaturen um die 40 Grad.
An den Flüssen und Kanälen lässt es sich gut fahren. Wir beginnen in Trier unsere Radreise und fahren moselaufwärts nach Luxemburg. In Schengen halten wir kurz am Europadenkmal. Es erinnert an das Schengener Abkommen, mit dem das Überqueren von Grenzen innerhalb Europas erleichtert wurde. In diesem Jahr wird einem noch einmal bewusster, wie wertvoll das ist: Reisen können. Ohne Grenzkontrollen.
Die Mosel entlang, während sich die Landschaft um uns verändert: Die Weinberge lassen wir hinter uns und der Blick weitet sich. Binnenschiffe, Reedereien, Schaudern beim Anblick des Kernkraftwerks in Cattenom, eine Pause in Thionville, am letzten von ehemals vier Hochöfen in Uckange vorbei …
Zu Lothringen gehören die Departments Meurthe-et-Moselle, Meuse, Moselle und Vosges. Wasser und Wald und viel vergangener Glanz. Bis in die 1970er Jahre war Lothringen eins der bedeutendsten Bergbau- und Schwerindustriereviere Frankreichs. Heute ist die Region eine der ärmsten in Frankreich, selbst wenn es dort prächtige Städte wie Nancy und Metz gibt. Zeugnisse von Industriekultur finden sich zahlreiche links und rechts unserer Radreise, aber auch die der reichen Geschichte Lothringens, von den Römern bis zu den Kriegen des zwanzigsten Jahrhunderts.
Wasser und Wald
Ein Drittel Lothringens ist bewaldet und ist damit eine der waldreichsten Regionen. Vier große Flüsse durchfließen Lothringen: Mosel, Maas, Saône und Saar. Und viele Kanäle. Von der Mosel wechseln wir an den Canal des Vosges. Tiefgrüne Stille. Mancherorts ist kaum zu glauben, dass hier mal Holz geflößt oder Kohle und Getreide transportiert wurde. Bis dann erst die Eisenbahn, später der Güterverkehr über die Straßen die Wasserstraßen überflüssig machten. Über fast 8.000 Kilometer umfasste einst das dichte Netz von Kanälen und Flüssen in Frankreich. Mithilfe eines ausgefuxten Schleusen- und Tunnelsystems konnte man vom Ärmelkanal bis zum Mittelmeer, vom Mittelmeer an den Atlantik Güter und Menschen transportieren. Etwa sechseinhalbtausend Kilometer dieser Wasserstaßen sind noch in Betrieb – mehr oder weniger. Selbst Haus- und Sportboote sehen wir nur vereinzelt.
Unser Radweg verläuft zu großen Teilen auf ehemaligen Treidelpfaden parallel zu Flüssen und Kanälen. In Frankreich gibt es ein hervorragendes Radwegenetz, das kontinuierlich ausgebaut wird. https://de.francevelotourisme.com/tipps/radwegenetzwerk
Es hängt, nicht anders als in anderen Ländern auch, mitunter an den Kommunen, wie gut die Wege dann tatsächlich sind, ob es eine nachvollziehbare Beschilderung gibt und ob man auch an Bänke, Raststätten oder gar an kleine Servicestationen* mit rudimentärem Werkzeug oder Luftpumpen gedacht hat. Letzteres haben wir tatsächlich auf dem Eurovelo 6 nahe Chalon-sur-Saône gesehen. In drei Wochen sind wir meistenteils abseits von Straßen oder auf wenig befahrenen Sträßlein gefahren, was ungemein guttat. Allerdings verleitet die konsequente Führung an den Kanälen entlang oft dazu, an Orten vorbeizusausen. Denn die Kanäle führen nicht selten an den Orten vorbei und man muss sich entschließen, abzubiegen. Was sich immer lohnt. Doch das Fahren an den Kanälen und Flüssen entlang hat etwas verführerisch Meditatives. Und so gleiten und mäandern wir gerade in den ersten Tagen in uns versunken an den Wasserstraßen entlang nach Frankreich hinein ….
Durch Landschaft mäandern
Mosel, Canal des Vosges, Canal du Centre, Saône, Doubs, Rhein-Rhône-Kanal, ein Stichkanal nach Belfort und die Saar: Etwa tausend Kilometer werden wir am Ende gefahren sein. Die Landschaft verändert sich laufend. Das ist vielleicht das Schönste an Radreisen: Genau das bekommt man mit. Plötzlich wird es hügelig oder der Himmel weit, gerade eben war man noch an einem Kanal und dann fährt man durch eine verwunschene Seenlandschaft, links und rechts Wasser, neben dem Kanal ein großzügig mäandernder Fluss, der wohl nicht schiffbar genug war, weshalb man ein Stück Kanal daneben baute, dann führt eine Kanalbrücke auf die andere Seite des Flusses und man fährt am Wasser entlang übers Wasser. Irgendwann führte uns der Canal du Centre ins Burgund nach Chagny, einem Nachbarort von Beaune.
Burgund! Für mich fängt mit dem Anblick von den romanischen Kirchen, grünen Weinbergen und von der Sonne ausgeblichenen Feldern erst wirklich Frankreich an. Das Licht ist anders, in der Luft der Geruch von sonnenverbranntem Kalk. Auch hier Zeugnisse der Geschichte an jeder Stelle: Kirchen und Bürgerhäuser mit den buntglasierten Dachziegeln, die vom 13. bis ins 15. Jahrhundert ein Zeichen von Reichtum und Status waren. Römische Aquädukte. Schlösser und Herrensitze. Hügelige Wiesen mit weißen Charolais-Rindern, oft leider in praller Sonne. Im Unterschied zu Lothringen ist das Burgund bis auf einige abgeschiedene Gegenden wohlhabend. Was sich nicht nur am Zustand der Orte ablesen lässt, sondern auch am Angebot in den Supermärkten.
Im Unterschied zu Südfrankreich, wo wir lange Jahre hingereist sind, vermisse ich indes die Märkte, die man im Burgund suchen muss. Und mit dem Rad fährt man dann doch nicht mal eben noch fünfzehn Kilometer weiter, nur um auf dem nächstgelegenen Markt ein paar Tomaten zu kaufen … Im Burgund waren wir übrigens im Vorjahr länger. Mit dem Auto nahmen wir die Rennräder mit und machten von Azé aus herrliche Touren in die Hügel zwischen Macon, Cluny und Roche de Solutré. Ich liebe es dort.
Nur mit dem Rad unterwegs zu sein trägt noch einmal ganz anders zu einer Entschleunigung bei. Was nicht bedeutet, dass man unentwegt tiefenentspannt und mit einem seligen Lächeln auf den Lippen vor sich hinfährt. Manchmal flucht man auch, dann kneift die Radhose an ungehörigen Stellen, Mückenstiche finden sich an den irrwitzigsten Stellen, das Wasser ist leer, eine unangekündigte Baustelle versperrt den Weg und keine Hinweisschilder sind zu finden, ein Campingplatz ist überraschend voll und von Maskenpflicht will keiner was wissen, dem Klickpedal geht eine Schraube flöten und an manchen Tagen ist man einfach nur schlapp.
Aber irgendwie zählt das alles nicht, weil alles andere so schön ist: Morgens, naja, irgendwann am Vormittag nach einem gemütlichen Frühstück, wieder aufs Rad steigen und ein Tag liegt vor uns, die Gegend, die Dörfer und Städte, die Auflösung der Zeit, durch die man unmerklich hindurchfließt. Das stille Miteinander.
Ein stiller Tag in Chagny
Nun, in Chagny gibt es zumindest für mich einen sehr stillen Tag. Denn ich schaffte es, mit dem bepackten Rad auf einem Schotterstück auszurutschen und just auf das ohnehin lädierte Knie zu fallen. Das beschert mir zunächst einen gewaltigen Schockmoment, in dem ich schon an ein abruptes Ende der Radreise denke. Doch glücklicherweise spricht das Knie auf die Erste-Hilfe-Kühlung mit Mozzarella-Beuteln aus dem Supermarkt und später auf Ruhe, hochlegen und kühlende Tücher an. Es kann weitergehen. Ins Franche-Comte. Elsass. Zum Schluss an die Saar. Wo mein Fahrrad sich vorzeitig aus der Radreise verabschiedet. Aber das ist eine andere Geschichte. Für ein andermal.
Radreise. Manches lässt sich planen, das meiste aber dann doch auch nicht. Wobei, vielleicht kann man das machen. Man kann es nur auch lassen. Wir waren beide etwas abgewetzt von den Monaten im Zeichen von Corona. Was zählte, war: Unterwegs sein, in Frankreich sein, abseits vom Alltag einen anderen Alltag zu haben, in die Gegend zu gucken, es gut zu haben.
Stiglit, stiglit!
Übrigens, das muss ich noch erzählen: Als wir in Chagny auf dem Campingplatz ankommen, flattert und zappelt es emsig in den hohen Bäumen: Stiglit! Stiglit! So ruft es in hundertfachem Chor. Das Sonnenlicht ist so grell, so dass ich die Vögel nicht gut erkennen kann. Stiglit! Die Stimmen … hm … Stieglitze! Distelfinken! Ein riesiger Schwarm. Offenbar auf Durchreise, denn am nächsten Tag waren sie weitergezogen. Aber was für eine schöne Tierbegegnung. https://www.lbv.de/ratgeber/naturwissen/artenportraits/detail/stieglitz-oder-distelfink/
Zuvor geschrieben:
Mit dem Rad durch den Osten Frankreichs ins Burgund und wieder zurück
Eine Radreise und viele Listen
Mit dem Zelt auf Radreise: Wer in Zelten leben kann, steht sich am besten (Goethe)
Radwege in Frankreich
Teilweise folgten wir der Voie Bleue
Und dem Eurovelo 6
Quellen zur Geschichte der französischen Kanäle
Europäische Kanalgeschichte (Planet Wissen)
Zur Geschichte der europäischen Kanäle (kanalboot.de)
Hommage an Frankreichs Kanalbauer von Dieter Imboden
Kurz etwas über Lothringen