Ich trete vor die Tür.
Und ich finde FREIRAUM vor. Nicht die übliche Wand aus Autos. Kein Rauschen und Brausen und Hupen. Keine Abgase in der Luft.
An diesem Sonntag ist für einige Stunden die Neusser Straße im Agnesviertel für den Autoverkehr gesperrt. Freiräume fürs Veedel heißt die Initiative und sie verschafft uns Luft – in so vielerlei Hinsicht. Um elf geht’s los, um kurz nach elf düsen Kinder mit Roller und Rädchen über die Straßen, da, wo sonst die Autos fahren. Wir sitzen mit unseren Nachbarn beim Kaffeeplausch vor der Tür. Eine Band spielt ein paar Jazz-Standards. Weiter hinten wird Lindy Hop getanzt. Einige Kinder haben ihre Deckenflohmärkte auf den Verkehrsinseln aufgebaut. Andere färben mit Kreide die Straße bunt. Menschen baumeln in Hängematten da, wo sonst Autos parken.
Friedliche Fröhlichkeit breitet sich im Agnesviertel aus. Hoffnung liegt in der Luft. Menschen begegnen sich, haben Platz, um stehen zu bleiben und miteinander zu sprechen. Man muss sich nicht anschreien, denn es ist nicht laut. Einer der Organisatoren twitterte im Anschluss, dass die Menschen am liebsten immer weiter getanzt und die Kinder immer weiter gespielt hätten. Um 15 Uhr war nämlich leider Schluss.
Was für schöne Stunden, in denen die Neusser Straße im Agnesviertel autofrei war. Und am Tisch vor der Tür viele Ideen für ein nächstes Mal, die wir demnächst beim nachbarschaftlichen Hausgrillen vertiefen werden. Und wer sich mit Ideen an solchen oder ähnlichen Aktionen beteiligen möchte, findet hier eine Möglichkeit, seinen Senf dazuzugeben: senf.koeln.
Tags drauf trete ich meinen nächsten Gang ins Heimbüro an.
Vor der Tür noch die Kreidemalereien, die die Nachbarskinder auf dem Trottoir hinterließen. Ansonsten bietet sich das gewohnte Bild: Alles voller Autos dort, wo wir gestern noch saßen. Auf der Straße rauscht der Verkehr vorbei, auf der Spur Richtung Innenstadt staut es sich, natürlich. Ein Rettungswagen nähert sich mit Sirenen. Nun wird’s schwierig, denn die Straße ist links und rechts zugeparkt, die Spuren voll. Mit Müh und Not geht es dann, aber wertvolle Minuten gehen verloren.
Weiter zur Agneskirche. Auf dem Platz vorm Büdchen sehe ich einen guten Freund sitzen, der in einem Buch blättert. Ich lasse mich kurz neben ihn sinken, wir schwatzen. Unter anderem über die faszinierende Forschung, die er gerade über eine Ahnin betreibt, Kostio de War, eine französische Modeschöpferin.
Etwas weiter ein Sandsturm. Ein Sandsturm in Köln? So wirkt es, während Bedienstete der Stadt Köln unverdrossen in der vertrockneten Platanenallee staubbläsert. Alles hustet und staunt. Die Verursacher selbst schützen sich unzulänglich mit FFP2-Masken und tun, was im Dienstplan steht.
Am Anleger ist derweil was los.
Eine Rollkofferausstellung ist aufgebaut und die Flußkreuzfahrtschiffgäste warten auf Weitertransport. In den Hochbeeten am Rhein darbt der Flieder vor sich hin. Die Zieräpfel hängen voller Früchte. Die Bäume hauen raus, was geht.
An der großen Baustelle gibt es nun vier Kraniche im Ballett um einen kleinen roten Tagesbagger. Ein Bauarbeiter winkt mir grüßend zu. Da ist sie wieder, die Frau, die Baustellen anstarrt. Aber ist schließlich auch interessant!
Auf der Hundewiese wälzt sich ein perfekt getarntes Hundewesen im gelben Steppengras. Einzig der weiße Bauch und die schwarze Nase blitzen ab und zu inmitten der Staubwolke auf, Pfoten rudern in der Luft. Die Inhaberin betrachtet das Schauspiel nachdenklich. Das Tier schüttelt sich, lacht sie an. Sie zuckt mit den Schultern. Man schreitet davon.
Der Referenzbaum sieht noch überraschend gut aus, während die Kastanien darben. Neben der Dürre leiden sie, wie die Platanen, schon seit Jahren an einer Pilzkrankheit. Das Laub ist fleckig und wird vorzeitig abgeworfen. Ein trauriges Bild. Ich habe das Bedürfnis, die Natur zu trösten. Eigentlich bin ich es doch, die Trost in der Natur und dem zuverlässigen Verlauf der Jahreszeiten hat. Doch nun möchte ich alles, was grün war, tätscheln und mich entschuldigen. Und ich möchte vom Regen erzählen, der vielleicht und hoffentlich diese Woche zu Besuch kommt …
Knallblau leuchtet mir die neue Tischtennisplatte entgegen.
Kürzlich hörte ich im WDR 5 eine Sendung über den Draußentischtennis-Hype in Köln – super Sache. Und übrigens von Carolin Courths, wie ich lese. Das ist die Moderatorin von Alles in Butter mit Helmut Gote. Eine Leib-und-Magen-Sendung, im wahrsten Sinne des Wortes.
Ich zockele zum Rosengarten hoch. Dort fehlt der Veedelsflaneur ebenso wie sein täglicher Morgenkaffee mit dem Rosengärtner. Beide lernte ich durch dieses Ritual kennen und mitunter wohnte ich diesem bei, bekam Kaffee und immer dienstags ein Stück vom Mohnkuchen. Eichhorn und Rotkehlchen hoppelten herbei und holten sich ihren Anteil ab. Der Veedelsflaneur war kein einfacher Mensch. Uns verband die Freude am Gehen und Schreiben. Er starb Anfang des Jahres. Er hinterließ eine Lücke.
Freund Farn hingegen geht es gut. Wie immer grüße ich ihn stumm, was er stoisch erträgt. Neu ist unweit davon ein Schild mit Hinweis auf Bilche im Park. Hi, Schlafmaus! Gut, um dich zu wissen.
Weiter vorn schönes Lichtspektakel im Gerüst. Die Septembersonne steht schon tief. Die Schatten sind lang und lassen anders in die Welt blicken.
Gutes andernorts
„Hohe Energiekosten und steigende Preise: Viele fragen sich, wo sie noch Abstriche machen können, um einigermaßen durch die kalte Jahreszeit zu kommen. Sind wir auf dem Weg von einer Überfluss- zur Mangelgesellschaft? Was ist das überhaupt, Mangel?”
Zufällig hörte ich ein Gespräch mit dem Soziologen Hartmut Rosa ein, in dem es um Überfluss und Mangel geht. Bei Sein und Streit mit Wolfram Eilenberger. Sehr viele gute Gedanken darin, zumal vieles, was in diesen Tagen geäußert wird, vordergründig auf Sorgen um die Menschen verweist, die gar nichts haben, auf das sie noch verzichten können. Aber oft geht es doch um die Angst, selbst schon bald zu diesen Menschen zu gehören.
„Außerdem sprechen Wolfram Eilenberger und Hartmut Rosa in unserer Sendung darüber, wie der Neoliberalismus den Mangel künstlich herstellt und wie sich Zeitüberfluss in Zeitmangel verwandelt.”
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Herzen in die Hände nehmen – es kommt jetzt auf uns alle an: Eindringlich und persönlich ist die Videobotschaft von Sebastian Seibert, Naturwissenschaftler, Hochschullehrer und Klimaschützer. (Am 23.9. ist übrigens Klimastreik: Ab auf die Straße!)
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Und hier, noch etwas Schönes.
Das aber auch mit allem zusammenhängt, was mich hier und heute beschäftigt: Rückepferde im Wald. Was vielleicht wie Nostalgie oder wie ein nettes, aber ineffektives Hobby wirkt, ist gelebter Naturschutz. Im Unterschied zu den schweren Maschinen verdichten Rückepferde nicht den Waldboden und beschädigen auch nicht so viel. Odenwaldbotschafterin und Landlebenbloggerin Friederike Kroitzsch hat sehr schöne Fotos gemacht und auch ihren feinen Beitrag beim SWR verlinkt.