Meine erste Reise nach Frankreich.
Mit einer Abordnung meines Reitvereins fuhren wir in vollgestopften Autos über Paris (mehrspuriger Kreisverkehr, Chaos, Hilfe!) an die Loire in ein kleines Örtchen unweit von Tours, Saint-Cyr-sur-Loire. Der Reitverein der Partnerstadt hatte eingeladen.
Ich war 16 Jahre alt, insbesondere sozial ungelenk und natürlich größer als alle anderen, die mitreisten. Und größer als alle anderen dort, in diesem Frankreich. Nie fühlte ich mich Gulliver näher. Und während meine mitreisenden Vereinskolleginnen ganz selbstverständlich ihre gut geölten Flirtkünste auspackten, verlor ich die Kontrolle über meine Gelenke und stakste steif umher.
Ich hatte nur an die Pferde und ans Reiten gedacht. Dass ein solcher Besuch aber vor allem Menschenbegegnungen beinhaltete, well. Ich sprach kein Wort Französisch. Meine offenkundig sehr begüterte Gastfamilie bewohnte eine schmucke Villa am Ufer der Loire. Mein Gastbruder hatte gleich drei eigene Pferde am Haus stehen. Glücklicherweise durfte ich sofort reiten. Es gab einen kleinen Reitplatz unter Bäumen, die Loire in Sichtweite. Ein Traum. Und so durfte ich mich auf einem eifrigen Schimmel für eine Stunde zuhause fühlen, dann bat man zu Tisch. In einem geschmackvollen Esszimmer stand eine lange Tafel aus dunklem Holz, wunderschön. Für mich war er die Hölle auf Erden. Die Eltern sprachen nur Französisch und waren einschüchternd naturelegant. Mehrgängige Menüs kannte ich nur von Festtagen und da gab es dann zu jedem Gang Üppiges und nicht nur ein paar Blätter Salat oder ein paar Löffel Erbsen als ein Gang. Im Familienalltag daheim gab’s Essen auf den Teller und vielleicht mal Nachtisch. Ich saß am Tisch und war die Barbarin aus Deutschland.
Erwähnte ich schon, dass ich als Kind und Jugendliche kaum etwas zu essen mochte? Zuhause ließ sich bequem mäkelig sein. Ich war ein verwöhntes Kind. Und nun saß ich vor Tellern mit … äh, ja, was eigentlich? Indes: Die Höflichkeit siegte. Zumindest erzählt mir das meine Erinnerung. Über allem liegt ein diffuses Gefühl von Scham und Überwältigung.
Es traf sich immerhin gut, dass mein Gastbruder auch Russisch in der Schule lernte. Wenn wir mit Schulenglisch, Händen und Füßen an unsere Grenzen kamen, half schon mal ein Wort oder Satz auf Russisch. Aber ich fühlte mich schrecklich fehl am Platz.
Außer auf den Pferden.
Denen war egal, welche Sprache ich sprach und welche nicht. Ein freundliches Wort, eine freundliche Geste erkennen sie in jeder Sprache. Ich erinnere mich, dass wir mit großen Pferdetransportern in ein weitläufiges Naturschutzgebiet fuhren. Einen Tag lang ritten wir darin herum. Dort gab es wenige Jahre zuvor massive Waldbrände. Es war bemerkenswert, wie gut und wie schnell sich die Natur davon erholte. Alles grün und wild wachsend.
Zum Abschluss haben wir uns mit unseren Gastgebern in einem Springturnier gemessen. Ich ritt einen herrlichen dunklen Fuchshengst, der um ein Haar aus lauter Vergnügen den ganzen Parcours gleich zweimal mit mir gesprungen wäre. Es war ein atemberaubender Ritt. Wir schlugen uns alle auf den fremden Pferden gut, am Ende siegten wir als Mannschaft und ich war in der Einzelwertung Dritte. Nicht fehlerlos, aber die Schnellste.
Und so fuhr ich dann doch irgendwie glücklich nach Hause. Aber wieder nach Frankreich? Bloß nicht. Als dann Jahre später die Entscheidung anstand, ob mich die Oberstufenfahrt nach London oder nach Südfrankreich führen soll – ja nun, es folgte eine jahrelange Liebe zu London. Bis ich eines Tages …
Aber davon ein andermal.
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Dieser Text erschien vor drei Jahren bei Tumblr . Nach und nach hole ich die Texte, die mir besonders am Herzen liegen, nach Hause. Hier veröffentliche ich sie (leicht verändert) erneut.
Ich erinnere mich an das Tumblr. Gute Idee alles auf das Blog zu holen. Ich lese gerne hier.
Danke, Mikel. Wie schön, Dich hier zu lesen. Ich grüße herzlich in die Pfalz!