Ein Ort, an dem niemand etwas von einem will.
Es gibt etwas zu essen. Es gibt eine Kammer mit einem Bett und einem Tisch. Es ist still. Aus meinem Fenster blicke ich auf den Garten mit dem munter gluckernden Brunnen und den alten Bäumen. Schräg links sehe ich die Klostergärtnerei und einige der Fischteiche. Dahinter erhebt sich Wald. Kloster Himmerod liegt im Tal der Salm in der südlichen Eifel. Es ist ein alter Ort: Vor fast neunhundert Jahren gründete Bernhard von Clairvaux höchstselbst das Kloster an dieser Stelle. Die Zisterzienser hatten schon immer ein gutes Gespür für Orte. Himmerod strahlt Kraft und Ruhe aus.
Sechs Tage bleibe ich. Ich reise langsam, also: innerlich. Oft habe ich den Eindruck, dass viele Menschen kein Problem damit haben, mal eben irgendwohin zu reisen und gleich da zu sein. Bei mir dauert es. Manchmal genügt es, an dem neuen Ort einzuschlafen und am nächsten Morgen habe ich mich beisammen. Oft aber rutsche ich über Tage hinweg erst nach, bis ich wirklich eingetroffen bin. Und so ahne ich, dass sechs Tage kurz sein werden. Vielleicht zu kurz.
Annäherung an einen Ort
Doch zu kurz für was? Erzähle ich jemandem, dass ich für ein paar Tage ins Kloster gehe, ernte ich entweder ein Seufzen oder ungläubiges Lachen. Manche verstehen das. Ich selbst bemühe mich, möglichst keine Erwartungen zu haben. Und dennoch fühle ich mich bemüßigt, mir selbst gegenüber Rechtfertigungen zurechtzulegen: Am Buch schreiben. Kritzeln. Die eigene Selbstständigkeit zu beleuchten. Sowas eben. Was sich alles als Quatsch herausstellen wird.
Wie beim letzten Mal nähere ich mich Himmerod auf langsamen Wegen. Zuletzt, vor neun Jahren, legte ich den Weg von Köln zum Kloster mit Bahn, Bus und zu Fuß zurück. Diesmal fahre ich bis Wittlich mit der Bahn und lege den Rest mit meinem Rad zurück. Fällt das schon unter Pilgern?
Mit einem Auto ist man schnell dort – und ebenso schnell wieder weg. Das mag mitunter notwendig sein. Für mich ist Schnelligkeit nicht wichtig. Die Idee der Klostertage ist, Abstand zum Alltag zu gewinnen. Einen halben Tag zum Kloster unterwegs zu sein ist ein guter Anfang.
Zwischendurch zweifele ich an meinem Vorhaben. Ich kurbele die Steigung aus dem Moseltal in die Eifel hoch, über zwanzig Kilo Gepäck in den Taschen – wer hat nur all die Bücher eingepackt? Mangels Alternativen fahre ich auf einer Landstraße, auf der mich eilige Autofahrer überholten, manche zu schnell, manche zu eng. Ich mag vielleicht Zeit haben. Der Eifeler jedoch hat diese grundsätzlich nicht. Nie. Wo 70 oder 100 km/h erlaubt sind, müssen diese gefahren werden. Mindestens! Wer bremst, verliert. Versierte Fahrer müssen auch in Kurven kein Tempo rausnehmen. Immerhin hupt oder brüllt mich niemand an, wie ich das in Köln mitunter erlebe. Offenbar sah ich zu jämmerlich aus, wie ich mit der Zunge in den Speichen hänge. Die Sonne grillt mich in die Anhöhe. Es sind über 30 Grad. Irgendjemand hat versäumt, die Wasserflasche zu füllen. Also, ich. Tja.
Andererseits ist meines Wissens noch niemand daran gestorben, mal zwei oder drei Stunden nichts zu trinken. Also ich über eine Kuppe fahre, erspähe ich begeistert eine Tankstelle. Ich mische mich zwischen Fernfahrer und Handwerker, die sich mit Schnitzelbrötchen und Kaffee versorgen. Ein Liter Orangenlimo verdunstet binnen Sekunden in mir und trägt mich die letzte Anhöhe hinauf. In meinem Bauch schwappt es leise. Dann Abfahrt auf Himmerod, huiii!
Die Abtei und die Gebäude drumherum wiederzusehen macht mich einfach froh. Ich erinnere mich noch gut an meinen ersten Besuch damals in Himmerod. Der Mann wollte mir den Ort zeigen, wo er selbst schon mal einige Tage war. Ein Ort, der ihm am Herzen lag. Wir waren Besucher. Wir schlenderten umher. Wir nahmen ein Abteibier in der Klostergaststätte ein. Und ich sah Gäste: Menschen, die für einige Tage, manche sogar für einige Wochen oder Monate im Kloster lebten. Mich erfüllte ein sehr unchristliches Gefühl von Neid. Noch mehr aber der Wunsch, selbst einfach da bleiben zu können. Mich diesem Ort, dieser Stille, diesem Frieden hinzuzufügen. Das, was ich nun tun werde.
Sich aushalten
Es soll Klöster geben, in denen es für Gäste regelrecht Programm gibt. Oder fest installierte Wellness-Angebote für Körper und Seele. In Himmerod gibt es das nicht. Man kann natürlich an den Gebetszeiten teilnehmen, um 4:30 Uhr mit den Vigilien den Tag beginnen und um 19:30 Uhr mit dem Komplet den Tag beschließen. Aber das steht jedem Gast frei. Man wird nicht nach seiner Konfession oder irgendetwas anderem gefragt. Wer Gast ist, ist Gast. Und wird als solcher aufgenommen. Aber was heißt Gast: Im Grunde bleibt man sich selbst überlassen. Genau das schätze ich an Himmerod sehr. Ich möchte nichts. Drumherum ist Eifel. Von Himmerod aus kann man über Stunden und Tage wandern.
Seit 2008 führt der Eifelsteig durch Himmerod. Das bringt zusätzliche Übernachtungsgäste, aber zu manchen Zeiten geradezu Trubel auf den Wanderwegen. Wenn man gewöhnt ist, die Wanderwege in der Eifel für sich allein zu haben, kann das durchaus irritierend sein. Nimmt man Wege abseits des Eifelsteigs, bleibt man aber wie gewohnt allein.
Mit sich allein sein. Ich mag und schätze das sehr. Wie meist, wenn einem selbst etwas leicht fällt, übersieht man, dass andere sehr darum ringen müssen oder es nicht können oder wollen. Sich selbst auszuhalten, den eigenen Lärm, Gedanken, Gefühle und irgendwann auch die Stille in sich – nein, einfach ist das nicht unbedingt. Vor neun Jahren zerriss es mich dort beinahe, allein im Wald, konfrontiert mit lang bewahrter Schuld, die mich wie aus dem Nichts überfiel. Niemand kann leben, ohne sich schuldig zu machen. Man kann jemanden um Verzeihung bitten, vielleicht wird sie gewährt, doch sich selbst zu vergeben, sich das zuzugestehen – schwer. Das auszuhalten, das Unerbittliche, das Ungerechte, die eigene Unzulänglichkeit. Damit schafft man Monster, die einen durch den Wald jagen. Bis man den Mut fasst und hinsieht. Und dann ist es wie im Gruselfilm, der seine Spannung umgehend verliert, sobald man das Monster sieht. Vielleicht findet man Frieden damit, vielleicht fügt sich aber auch nur etwas ein und hat fortan seinen verdienten Platz. Der Stein aus dem Schuh wird ein Stein in der Schublade.
Durch Bewegung in die Stille
Meine bisherigen Begegnungen mit Meditation führten mich zuverlässig in den Schlaf. Gegen Schlaf ist überhaupt nichts einzuwenden. Ich schlafe gern. Und das habe ich in Himmerod auch ausgiebig getan. Besuchte ich beim letzten Mal noch die Vigilien, um vorm Frühstück durch die Morgendämmerung leise im zu dieser Zeit von Tieren äußerst belebten Wald zu wandern, überschlafe ich das erste Läuten diesmal erfolgreich, um pünktlich zum Frühstück zu erwachen. Meist wandere ich dann zwei, drei Stunden, um nach dem Mittagessen abermals ein friedliches Schläfchen zu nehmen. Herrlich! Danach ist noch ausreichend Zeit, um zu lesen oder noch ein paar Stunden zu wandern.
Das Wandern hilft mir, in die Stille zu finden. Nun ist die Eifel bei aller Abgeschiedenheit kein ruhiger Ort. Autos fahren. Trecker. Rasenmäher. Und durch die nahe stationierte US-amerikanische Luftwaffe dröhnen immer wieder Düsenjets oder Transportmaschinen über die Region. Bei gutem Wetter ist auch die Abtei Himmerod ein beliebtes Ausflugsziel. Ganze Busladungen älterer Herrschaften stürmen das Klostergelände. Nassforsch rufen sie einander zweifelhafte Witze zu. Dazwischen die unvermeidlichen Auskenner, Damen wie Herren, die alles wissen, besser wissen, alles, natürlich.
„Diese Ruhe hier, hörst du das auch? Diese Ruhe. Kein Laut. Hörst du das? Kein Ton ist zu hören. Es ist ja wirklich ruhig hier. Haha, das wünscht man sich ja oft, so eine Ruhe! So ruhig. Alles still. Also, diese Stille. Wie auf dem Friedhof. Kannst du das gut aushalten? Wenn es so ruhig ist? Ob das immer so ruhig ist? Das ist ja nicht zum Aushalten. Wie die das nur aushalten? Nun sag’ doch auch mal was! Du wolltest doch hierhin, in die Ruhe, hast du gesagt. Was dann, was guckst du denn so?“ Loriot hat vermutlich gar nichts erfunden, sondern nur konzentriert mitgeschrieben. Hier möchte niemand zugeben, dass ihn der Ort beeindruckt. Keine Schwäche, kein Fragen, kein Bedürfnis nach Innehalten. Antworten zählen, Bescheid wissen, rüstig sein. Es ist ein halboffen ausgetragener Kampf um bedeutungslose Macht.
Dann schlägt das Wetter um und plötzlich ist alles gut. Keine Besucher. Nur wenige Wanderer. Plötzlich rumort es im Fernsehraum, wo einige Gäste vor der alten Röhre sitzen. Und ich, ich pirsche durch den Wald. Vom Waldboden empor duften Geschichten vom scheidenden Sommer. „Da läuft man nur im Dreck ‘rum. Und dann tropft es auch noch von den Bäumen.“ Sagt ein Mann beim Bäcker vor den Toren des Klosters. Und ich wünsche mir, dass der Regen bliebe und ich den Wald noch eine Weile für mich allein habe.
Ich will nur sitzen und schauen
Am vierten Tag bin ich plötzlich da. Angekommen. Über Nacht bin ich in Gänze nachgerutscht. Beim Aufwachen habe ich alles bei mir. Ich streift ab, was Müssen und Wollen ist, und setze mich in den Regen. Es ist ein höflicher Regen, einer, der sich vornehm zurücknimmt. Er lässt mich lange sitzen. Es ist warm genug. In mir Stille. Nichts ficht mich mehr an. Zwei kostbare Tage lang trage ich diese Stille in mir. Ich lausche in sie hinein und sitze und schaue.
Natürlich kommt der Tag der Abreise zu früh. Aus dieser Stille hätte noch etwas wachsen können. So nehme ich die Stille zwar mit. Doch legt sie mich nach meiner Rückkehr für eine Weile lahm. Denn ein Teil von mir rutscht nicht recht nach. Ich bin noch nicht fertig. Die Zwänge des Arbeitsalltag fordern ihr Recht. Unzufriedene Tage folgen. Ich bin noch nicht zurück. Ich sitze in meinem inneren Himmerod. Erst allmählich komme ich wieder an. Ich stelle fest, dass ich abermals verändert zurückkam. Noch verstehe ich nicht ganz, worin oder wie verändert. Oder ob es nur am Sauerstoff lag, dass ich mich verändert fühlte. Doch auch das halte ich aus. Bis ich es weiß.
Was ich nicht tat
Ich schrieb nicht am Buch weiter. Ich kritzelte nur wenig. Ich beleuchtete meine Selbstständigkeit nicht. Ich dachte auch wenig darüber nach. Ich dachte ohnehin keine großen Gedanken. Ich sammelte keine Wanderkilometer. Keine Ahnung, wieviel ich wanderte. Egal. Ich guckte einfach viel in die Landschaft und in den Himmel.
Was ich tat
Ich schrieb ein Notizbüchlein voll mit Kram. Einfach nur, weil ich es schön fand, zu schreiben. Ich saß unter einem Baum und kritzelte einen Baum. Ich mopste mir jeden Tag einen Apfel aus dem Klostergarten. Ich stand lange am Grab von Pater Martin, mit dem ich beim letzten Mal eine seltene Vertrautheit fühlte. Ich sah über Stunden schottischen Hochlandrindern beim Kuh-Sein zu. Ich schlief viel und gut. Ich war viel im Regen draußen und fand das sehr schön. Ich traf abermals auf unvermutete Freundlichkeit. Ich atmete.
Kein Urlaub im Kloster
Es mag Klöster geben, die sich wenig von einem Hotel unterscheiden. Himmerod verweigert sich dem. Man ist dort als Gast gut aufgehoben. Doch wird man nicht umgarnt oder gar hofiert. Duschen und Toiletten sind auf dem Flur. Es gibt keine Fernseher auf dem Zimmer. Kein WLAN. Netz gibt es nur an einigen Stellen auf dem Gelände. Und davon wenig. Die Verpflegung ist gut, aber schlicht. Das Kloster ist ein Ort der Stille. Das kann er nur sein, wenn alle diese Stille achten.
Das Kloster ist ein Ort der Stille, aber auch der Begegnung. Man nimmt die Mahlzeiten mit den anderen Gästen und einigen Mönchen ein. Ich bin bisher dort oft klugen, eigensinnigen und eigenwilligen Persönlichkeiten begegnet. Aber auch seltsamen Menschen, die es kaum auszuhalten scheinen, mal das Draußen draußen zu lassen. Manche sind nur für eine Nacht dort. Andere bleiben länger. Und die kommen oft auch in jedem Jahr wieder.
Es gibt viele Arten, zu Gast im Kloster zu sein. Man kann natürlich auch Urlaub im Kloster machen. Wenngleich sich für regelrechten Urlaub vielleicht andere Klöster als Himmerod anbieten. Es gab erst jüngst eine Dokumentation darüber, in der ich mich allerdings nicht wiederfand. Ich bin dankbar, um einen Ort zu wissen, an dem ich angenommen werde, ohne etwas sein oder machen zu müssen. Ein Ort, der bewusst nicht mein Zuhause ist. Denn mein Zuhause zeichnet aus, dass ich mich dort nicht in Frage stelle. Dafür braucht es ein Andernorts.
Wer noch über Himmerod schrieb:
Der Text entstand nach meinem Aufenthalt in Himmerod im Jahr 2017.
Seitdem ist viel passiert, der Orden wurde aufgelöst, ein Umbau geplant, die Umbaupläne gestoppt. Wie es weitergeht, ist offen. Aber: Die Klosterherberge (die seit Januar vom Förderverein der Abtei betrieben wird) sowie sämtliche in Himmerod ansässigen Betriebe – Klostergaststätte, Klosterladen, Klosterfischerei, Klostergärtnerei – freuen sich weiterhin über Gäste, und auch die seit Jahrzehnten etablierten Konzerte werden wie geplant stattfinden! So steht es auf der Website. Wird höchste Zeit, es zu überprüfen. Himmerod lebt, und das mehr denn je.
Pläne für Jugendhaus im Kloster Himmerod gekippt
Wunderbar: Letzter Himmeroder Zisterziensermönch geehrt
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Dieser Text erschien ursprünglich bei Tumblr. Nach und nach hole ich die Texte, die mir besonders am Herzen liegen, nach Hause. Hier veröffentliche ich sie (leicht verändert) erneut.
danke für deinen text. ich hab ihn sehr interessiert gelesen da ich mich schon lange mit dem gedanken befasse auch einmal ein paar solche tage zu erleben. bisher konnte ich mich noch nicht aufraffen – aber irgendwann. mein problem bestaht darin das ich nicht nichtstun kann, ich habe immer angst etwas zu verpassen bevor das leben vorbei ist. ich merke aber das ich mit zunehmendem alter ruhiger werde – deine worte helfen dabei! liebe grüsse!