Es ist Zeit, aufzubrechen.
Es ist nicht so, dass ich nicht gern zuhause wäre. Doch ebenso gern bin ich tingeltangelnd unterwegs, bleibe hier und da für eine Weile und lasse mich dann weiter durch Landschaften und Orte treiben. Dafür scheint die Zeit nie auszureichen. Schnell reisen ist nie die Lösung, denn ich brauche meist ein, zwei Tage oder vielmehr Nächte, um anzukommen. Aber irgendwann drängt die Welt zuhause mit ihren Verpflichtungen. Und dann gilt es, alles zusammenzupacken und einen Weg gen Heimat zu finden.
Heimat. Zuhause. Darüber gab es viel nachzudenken in diesen Tagen. Denn während wir vor dem Regenwetter in der Mitte Frankreichs ans Meer geflüchtet waren, sorgte die Wetterlage zuhause für eine Flutkatastrophe. In etlichen Flussgebieten wurden aus sonst freundlich gluckernden Flüsschen brutale Ströme, die Häuser, Brücken und Bahnstrecken wegrissen. Über 220 Menschen starben und viele verloren ihr Zuhause. Die Nachrichtenlage war über Tage hinweg unklar und wir erfuhren erst nach und nach, wie es um Freunde und Bekannte stand.
Und so notierte ich am 19. Juli:
Es geht wieder nach Hause. Welches Glück, ein solches zu haben. Wohlwissend, wie wenig selbstverständlich es ist. Und doch bin ich traurig, dass es schon wieder heimwärts geht. Frankreich war gut zu uns.
»Ich fahre
nach Inseln ohne Hafen,
ich werfe die Schlüssel ins Meer
gleich bei der Ausfahrt.
Ich komme nirgends an.
Mein Segel ist wie ein Spinnweb im Wind,
aber es reißt nicht.
Und jenseits des Horizonts,
wo die großen Vögel
am Ende ihres Flugs
die Schwingen in der Sonne trocknen,
liegt ein Erdteil
wo sie mich aufnehmen müssen,
ohne Pass,
auf Wolkenbürgschaft.«
(Hilde Domin)
Zwischenstopp in Cambrai
Mit gemischten Gefühlen und den Gedanken schon daheim werfen wir einen letzten Blick auf die Wiese, auf der unser Zelt für drei Nächte stand. Noch sieht man den Abdruck, den unsere friedlich ruhenden Leiber im Gras hinterließen. Wir zelteten nicht lang genug, um das Gras gelb zu färben. Es wird nur wenige Stunden dauern, bis unsere Spuren verschwunden sind und bis auf ein paar plattgelegene Käfer und Ameisen nichts mehr an uns erinnern wird. Doch wir werden uns an diesen Ort erinnern. Ich erinnere mich, jetzt in diesem Moment.
Ich erinnere mich an eine Fahrt in belegter Stimmung. Wir nehmen die Autobahn, die in ihrer stumpfen Funktionalität und in ihrer physischen Brutalität kaum einen Blick in die Gegenden links und rechts gewährt. An diesem Tag fahren wir bis Cambrai. Die Gegend am nordöstlichen Rand von Frankreich war von jeher von kriegerischen Konflikte geprägt. Einst kreuzten sich hier römische Straßen, darunter eine, die von Boulogne-sur-Mer nach Köln führte. Während wir uns der Stadt nähern, lese ich im Internet nach, was ich über Cambrai finden kann. Oft der Ort für internationale Verhandlungen, die Schlacht von Cambrai im Jahr 1917 – und dann finde ich den Damenfrieden von Cambrai, über den unsere Freundin Maren Gottschalk ein ZeitZeichen gemacht hatte.
Wir finden einen Platz auf dem recht schmucklosen Campingplatz, der vor allem von Durchreisenden genutzt wird und für ein umstandsloses Rein und Raus von Wohnmobilen konzipiert ist. Aber da gibt es weitaus Schlimmeres. Unser Plätzchen ist von Hecken umsäumt und zu Fuß ist man rasch im Ort. Der präsentiert sich zunächst etwas abgewetzt. Die Stadt wirkt wie ausgestorben. Viele leere Läden. Umso mehr Autos.
Musik und mobile Heimbürokantine
Doch dann kommen wir um eine Ecke und treffen unvermutet auf ein Konzert im öffentlichen Raum: Eine Sängerin trägt Chansons vor. Menschen sitzen auf der Straße und nehmen Kaltgetränke zu sich. Wir jetzt auch. Und wir lauschen der Musik, während um den Platz herum Motorräder rattern, brausen und rauschen. Willkommen im Land der Sch’tis im Departement Nord, wo das „Weg von hier, aber mit Gebrüll“ stark zu sein scheint.
Trotz Konzert ist die örtliche Gastronomie geschlossen oder sagte uns nicht zu. Ein kleiner Carrefour Express ist auch sonntags geöffnet und rettet uns. So gibt es Improvisiertes In der #Heimbürokantine auf Reisen: ein Salat aus bunten Tomaten, Avocado, mangels frischem Basilikum Tiefkühlbasilikum, Zitrone, Mozzarella und Taboulé mit Gemüse aus dem Kühlregal. Gewürzt mit Balsamico, Olivenöl, Fleur de Sel und frisch gemahlenem Pfeffer. Dazu Baguette, frisch und gut.
Der Laden war klein, hatte aber eine erstaunlich große Kühleinheit mit Rosé und Weißwein. In Erinnerung an frühere Reisen ist ein Rosé vom Ventoux im Glas. Santé!
Der Blick wandert in diesen Tagen immer wieder aufs Smartphone. Als wir durch die Eifel fahren, scheint alles normal. Der Eindruck täuscht. Doch das ist eine andere Geschichte, die andernorts erzählt wurde und wird. Als ich im Mai 2022 mit dem Rad durch die Wallonie fahre, wird mir erst bewusst, dass auch Belgien stark betroffen war. Die Veränderungen des Klimas nehmen wir auf unseren Reisen noch deutlicher wahr als zuhause in der Stadt. Die Dürren. Die Waldbrände. Die immer heftigeren Wetterereignisse. Und bei allem ist es wesentlich, nicht den Kontakt zur Natur, zur Umwelt, zur Welt zu verlieren. Sich immer wieder bewusst zu machen, wie schön es auf der Welt sein kann und dass es darum geht, sie für uns Menschen ebenso lebenswert zu erhalten wie für die Tiere und Pflanzen, ohne die wir als Menschheit ganz schön aufgeschmissen wären.
Und so endet diese Reiseerzählung im Blog nachdenklich. Es gilt zuversichtlich zu bleiben. Mir hilft es, im eigenen Leben zu ändern, was mir sinnvoll erscheint, und politisch die zu unterstützen, die sich für Boden, Luft und Wasser einsetzen. Aber ich brauche auch gute Nachrichten und schöne Erlebnisse, um handlungsfähig zu bleiben. Hier etwa sind 66 gute Nachrichten, die 2022 vielleicht untergingen.
—
Während der rheinische Winter die Welt in müdes Grau taucht, mache ich im Blog eine Reise durch Raum und Zeit: Im Sommer 2021 ging es nach Frankreich.
Eine Reise, die nun erzählt ist. Und vielleicht geht es weiter? Denn da gibt es noch Bilder und Geschichten von vergangenen Reisen durch das große Nachbarland, die sich in Social Media verflüchtigt haben und hier ihren Platz finden könnten.
Teil 1: Ein fataler Knall und der Gesang der Frösche an der Loire
Teil 2: Ankommen im Périgord noir und Hoffnung fürs Fahrrad
Teil 3: Frankreich liegt uns auf der Zunge und ich fliege einem Postboten in die Arme
Teil 4: Von Wehrkirchen, Zisterzienserabteien und Eichenwäldern: Mit dem Rad unterwegs im Périgord
Teil 5: Französische Gartenkunst und eine unerhörte Begegnung
Teil 6: Auf dem Fernradweg La Vélomaritime in die deutsch-französische Geschichte
Teil 7: Ein Abdruck im Gras und unterwegs im Land der Sch’tis