Im Land der tausend Schlösser – oder sind es 1001?
Grüne, weite Hügel, schattenreiche Walnusshaine, dichte Eichenwälder und schroffe Kalkfelsen. Und außerdem das Land der tausend Schlösser und Burgen, heißt es. In Wahrheit, so lese ich, sind es wohl 1001 und auch das wird eher wohlwollend geschätzt. Zumal es so schön schmissig klingt.
In der Tat erspäht man auf der Reise durch die Region an jeder Ecke ein Türmchen oder gleich die ganze Pracht auf Hügeln und Felsen. Daneben sieht man Kirchen, die hoch aufragen und ungewohnt wehrhaft wirken. Typisch für den Südwesten Frankreichs sind die Bastiden: Ortschaften mit streng geometrischem Grundriss, einem zentralen Marktplatz und einem Saum aus Arkadengängen. Für eine gute Verteidigung sind die Bastiden oft höhergelegen und teilweise befestigt.
Der Hundertjährige Krieg (1337 – 1453) hat in der Region seine Spuren hinterlassen. Doch auch in den Jahrhunderten davor gab es in der Region viele Konflikte und kriegerische Auseinandersetzungen, insbesondere zwischen England und Frankreich. Es ging – natürlich – um Herrschaft und Macht. Das Bedürfnis nach Schutz und Zuflucht prägt die Architektur dieser Zeit: Burgen, Wehrkirchen und Bastiden. Mir kommt es so vor, als wirkten diese Bedürfnisse nach. Die Menschen im Périgord erlebe ich als unzugänglicher als etwa die im Burgund oder in der Provence. Vielleicht lag’s aber auch am Wetter und an der Weltlage.
Périgord noir?
Die Bezeichnung Périgord noir (schwarzer Périgord) hängt übrigens mit den dunklen Eichenwäldern zusammen. Man sieht viele Kastanien und Walnussbäume. Der Boden ist dunkel und fruchtbar. Dass die Gegend auch berühmt ist für seine schwarzen Trüffel ist eher Zufall. Das Périgord ist in vier Landstriche unterteilt: das Périgord noir, das Périgord vert (grünes Périgord), das Périgord blanc (weißes Périgord) und das Périgord pourpre (purpurnes Périgord). Klare Grenzen scheint es nicht zu geben. Manche Grenzen scheinen gefühlt zu sein. Vermutlich guter Stoff für lange Abende bei Wein und Pflaumenschnaps.
Die Streitigkeiten zwischen England und Frankreich um die Hoheit im Périgord sind indes längst beigelegt. Die Engländer*innen scheinen mir die Region aber auf andere Weise recht erfolgreich eingenommen zu haben: Verblüffend der gepflegte englische Rasen in vielen Gärten. Mir scheinen doch recht viele Häuser im Besitz der Nachbarn von den britischen Inseln. Auch Martin Walker, der Erfinder von Bruno, Chef de police ist ein Brite, der im Périgord lebt. Und so erblickt die geneigte Frankreichreisende überraschen viel Rasen und zurechtgeschnittenes Grün.
Expeditionen ins Tierreich
Nicht an unserer Ferienunterkunft, wie schön! Dort erwartet uns eine große Wiese voller Blumen und Kräuter. Wir fahren durch endlos wirkende Wälder und gewaltige Hügel, bis wir den winzigen Ort erreichen, an dem wir erstmal bleiben werden. Durch die Pandemie war lange niemand mehr im Haus, weshalb wir gründlich durchlüften, Wasser dort entfernen, wo keines sein sollte und Wasser in Gang setzen, wo es nützlich ist. Wir machen uns mit einer Handvoll freundlicher Hornissen bekannt, die in einem Fenstersturz emsig und konzentriert an einem Nest bauen. Wir werden für die Zeit unserer Anwesenheit gute Nachbarn und lassen uns gegenseitig in Ruhe.
Um ein Haar wäre es den Hornissen an den Kragen gegangen. Der knorrige Nachbar, der ein Auge aufs Haus hat und sich darum kümmert, dass ein allein gelassener Garten nicht herrisch um sich greift, hätte ihnen beinahe den Garaus gemacht. Er lacht über uns wunderliche deutsche Menschen aus der Stadt, die sich über das Naturerlebnis freuten, und senst noch rasch eine wunderbar wuchernde Lavendelecke ab, damit wir dort leichter an den Wasseranschluss kamen. Well.
Eine unglaubliche Stille liegt über dem Ort.
Einzelne Geräusche machen sie besonders deutlich. Ab und zu fährt ein Auto vorbei. In der Ferne bellt ein Hund. In der Nachbarschaft wohnt ein umtriebiger Hahn, der nicht nur bei seinen Hühnern für einen geregelten Tagesablauf und geordnete Bettzeiten sorgt. Fledermäuse sausen ums Haus. Auf der Wiese sind wohl auch manchmal Rehe zu Gast, die wir leider nicht sehen werden. Umso häufiger sehen wir ein flinkes Taubenschwänzchen im Garten, das geschickt jedem Foto-Versuch ausweicht.
Stille, schön und gut. Doch in mir rumort es. Aber wie geht es denn nun mit dem beschädigten Fahrrad weiter? Wir erinnern uns: Da gab es einen Knall bei Paris. Die Versuche, unterwegs in den Fahrradwerkstätten Hilfe zu finden, waren erfolglos. Doch das ist immerhin Europa im 21. Jahrhundert, oder? Tags drauf finden wir in Bergerac eine Werkstatt, die eine Reparatur zügig durchführen könnte – vorausgesetzt, wir schaffen es, an den Schalthebel zu kommen. Durch die hydraulischen Scheibenbremsen ist es ohne entsprechendes Werkzeug kaum möglich, die Reparatur selbst durchzuführen. Nun müssen die reitenden Boten es richten: Wir telefonieren die uns bekannten Fahrradläden in Köln ab, doch auch dort fehlt der benötigte Schalthebel. Am Ende wird der König aller Recherchen im Online-Shop eines Bonner Fachhandels fündig und bestellt das Ersatzteil ins Périgord. In den winzigen Ort abseits von allem. Lieferzeit: 2-3 Tage. Hmhm.
Es folgt das große Warten.
Während der Mann mit seinem heilen Rad die Umgebung erkundet, richte ich mich mit Buch und Tee aus Wiesenkräutern unterm Walnussbaum ein. Zu Fuß gehen wir in den nächstgelegenen Ort. Monpazier ist eine der Bastiden im Périgord. Im Jahr 1284 wurde sie von einem englischen Feldherrn gegründet und sie ist bis heute kaum verändert.
Lange dämmerte Monpazier unbeachtet vor sich hin, bis es wiederentdeckt wurde. Der Ort gilt als originalgetreu erhalten, aber kein Museum: man findet gut sortierte Lebensmittelläden mit regionalen Produkten, ein kleiner Supermarkt, eine Straße des Kunsthandwerks, eine Cooperative mit Wein, Käse und Gemüse aus der Region, hervorragende Metzger und Bäckereien und erfreuliche Gastronomie. Es gibt einen regelmäßigen Markt und täglich stehen die Pilz- und Trüffelsammler auf dem Marktplatz mit ihren Fundstücken aus den Wäldern ringsum. Die Balance zwischen Tourismus und Nahversorgung scheint ganz gut zu sein. Heute gilt Monpazier als eins der schönsten Dörfer Frankreichs, das von der touristischeren Dordogne aus auf dem Weg zum Château de Biron liegt.
Das prächtige Schloss – tja, oder ist es eine Burg?
Es vereint beides, aber auch hier erinnert der wehrhafte Charakter an die Zeiten, in denen man sich mithilfe von Mauern und Türmen vor anderen hüten und schützen musste. Das Château de Biron erzählt die Geschichte von 24 Generationen der Familie Gontaut-Biron, die es 800 Jahre lang besaß. Seit 1978 gehört es dem Département Dordogne und war Schauplatz zahlreicher Filme. Der Ort Biron schließt direkt an das Château an. Ein fantastischer Ort, der ordentlich die Phantasie ankurbelt. Dabei jedoch nicht unbewohnt: Etwa 150 Menschen leben dort.
Nicht weit entfernt gibt es guten Wein von der Domaine de la Tuque, der auch im Bioladen von Monpazier vertrieben wird. Dort gab es neben Wein auch grandiose Tomaten und – ach, das Essen. Essen und Trinken und Leben wie Gott in Frankreich. Das Klischee lebt. Aber darüber gibt’s dann was im nächsten Blogbeitrag. Und dann kommt hoffentlich auch irgendwann der reitende Bote mit dem Schalthebel an, oder?
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Während der rheinische Winter die Welt in müdes Grau taucht, mache ich im Blog eine Reise durch Raum und Zeit: Im Sommer 2021 ging es nach Frankreich. Eine Reise, die nun erzählt wird.
Teil 1: Ein fataler Knall und der Gesang der Frösche an der Loire
Teil 2: Ankommen im Périgord noir und Hoffnung fürs Fahrrad
Teil 3: Frankreich liegt uns auf der Zunge und ich fliege einem Postboten in die Arme
Teil 4: Von Wehrkirchen, Zisterzienserabteien und Eichenwäldern: Mit dem Rad unterwegs im Périgord
Teil 5: Französische Gartenkunst und eine unerhörte Begegnung
Teil 6: Auf dem Fernradweg La Vélomaritime in die deutsch-französische Geschichte
Teil 7: Ein Abdruck im Gras und unterwegs im Land der Sch’tis