„Arbeiten Sie da gleich?“
Ich dachte, ich höre nicht richtig, als mich der Taxifahrer fragt, ob ich gleich in dem Brauhaus arbeiten würde, an dem gegenüber er mich absetzen sollte. Er hatte mich schon meine zwei schweren Rucksäcke zum Taxi schleppen lassen, das ich zum Krankenhaus bestellt hatte. Junge, Junge. Ich machte ihm klar, dass ich gerade entlassen worden sei und froh wäre, wenn ich gleich zuhause sei.
„Oh.“
Ja, oh.
Nicht dass er mir dann bei Ankunft mit dem Gepäck geholfen hätte. Aber es reichte für ein „Gute Besserung“. Immerhin.
Klar, ich wirkte nun wirklich nicht offensichtlich krank oder verletzt. Dass mich das Entlassungsprozedere gestresst hatte und ich sorgenvoll auf mein verändertes Leben blickte – nun, das alles machte mich in den Augen des Taxifahrers nicht zu einer hilfsbedürftigen Person. Dass ich mich zu fragil fühlte, um ihn um Hilfe zu bitten. Mein Pech.
Die Wohnungstür klappte hinter mir zu. Zuhause.
Es war nun genau eine Woche her, nachdem mich mein Hausarzt in die Notaufnahme geschickt hatte. Es war nun genau eine Woche her, dass mich die Diagnose Diabetes geschockt hatte. Es war nun auch für Herrn Hoffmann genau eine Woche her, dass er plötzlich eine chronisch kranke Frau hatte. Wie würde das werden? Wie würde sich der Diabetes auf unseren Alltag und unser Miteinander auswirken?
Viele Fragen und manche Antwort würden sich im Laufe der Zeit noch finden müssen. Alles wird sich finden? Ja. Vielleicht nicht alles. Für den Anfang warf ich mich erstmal begeistert unter die Dusche. Frisch geduscht sah die Welt schon gleich ganz anders aus. Kein Gepiepe mehr von den Klingelrufen an den Bettstellen der anderen. Der vertraute Anblick der befreundeten Bücher vom Bett aus. Der vertraute Geruch. Die vertraute Geräuschkulisse im Hinterhof. Aber auch kein Essen zu festen Zeiten, das fix und fertig ins Zimmer kam. Kein sich durch Zauberhand nachfüllender Wasserkasten. Niemand, der meine Vitalwerte prüfte und medizinisch auf mich aufpasste. (Auch meine Verfasstheit wurde dokumentiert, wie ich später sah.)
Nun war ich verantwortlich für mich und mein Wohl.
Eigentlich so wie vorher, oder?
Ich war krankgeschrieben und alle Auftraggeberinnen wussten Bescheid. Ich durfte mich ganz und gar meiner neuen Lebenssituation widmen. Nun ja, im Hintergrund liefen die Vorbereitungen für die Trauerfeier für meine Mutter. Ich musste mich damit beschäftigen, wie dieser Tag für mich ablaufen könnte. Aber das alles fand doch auch innerlich recht weit von mir entfernt im Sauerland statt. Auto fahren oder ein Tagesausflug mit der Bahn war ohnehin nicht drin: Im Krankenhaus hatte ich ein Dokument unterschrieben, dass ich zwei Wochen lang nicht aktiv am Straßenverkehr teilnehme. Nicht Auto fahren war leicht – wir haben ja keins. Nicht Fahrrad fahren empfand ich als schwierig, weil ich viele Termine in Arztpraxen und zur Nachsorge im Krankenhaus wahrnehmen musste. Aber gut, es gibt einen ÖPNV. Es gibt Füße.
Ich legte also viele Kilometer zu Fuß zurück, bepackt wie ein Esel: Blutzuckermessgerät, Insulintasche, Traubenzucker, Käsebrot, Apfel, Müsliriegel – aus lauter Angst, überraschend zu unterzuckern, schleppte ich alles mit, um das zu vermeiden. Ziemlich viele Menschen schleppen ziemlich viele Sachen in ziemlich großen Taschen mit sich herum. Naja, ich bisher nicht so. Da reichte in der Vergangenheit die kleine Tasche im DIN-A5-Format völlig, in der nicht viel mehr als ein Portemonnaie, Schlüssel, Telefon, ein Stift und eine FFP2-Maske waren. (Okay, und ein Zettel mit einem Gedicht für seelische Notfälle.)
Ich hatte den Eindruck, für alle möglichen Betätigungen wahnsinnig viel Zeit zu brauchen. Die Tage waren blitzschnell vorbei. Von einem Alltag war ich noch weit entfernt. Der war auch zu Fuß nicht zu erreichen. Eine in vielerlei Hinsicht unbeschwerte Phase in meinem Leben war vorbei.
Kochen beruhigte mich. Immer noch?
Zutaten fürs Essen zu besorgen, Gemüse zu betrachten und zu befühlen, zu schnibbeln und aus allem etwas Gutes zum Essen auf den Tisch zu bringen, beruhigte mich immer ungemein. So entstanden die Geschichten aus der Heimbürokantine (lässt sich übrigens hier auch signiert und auf Wunsch mit Widmung bestellen). So entwickelte sich auch die Kleingartenkantine mit all dem Gemüsen, den Kräutern, Wildkräutern und Salaten sowie dem Obst, das bei uns in Bad Kleingarten sprossen. Selbst Gemüse anzubauen erfüllte mich mit ebenso viel Freude wie das Kochen und Essen selbst. Würde das nun anders sein?
Nicht jede Diabetes-Diagnose führt in die Notaufnahme oder gar auf die Intensivstation. Manchmal wird die Erkrankung früh erkannt und es gibt eine lediglich ambulante Behandlung. Ich empfand es als positiv für mich, dass ich einige Tage im Krankenhaus war. Nicht nur, um gründlich untersucht und dann richtig diagnostiziert zu werden. Nicht nur, um meinem Körper aus seiner Not zu helfen. Nein, ich fand es auch beruhigend, dass ich verfolgen konnte, was man mir zu essen gab. Und wie viel. Gut, das Krankenhausessen war nicht unbedingt als ideal zu bezeichnen. Aber ich nahm es mir als Richtschnur in Sachen Zusammensetzung und Menge.
Im Unterschied zu Diabetes Typ 2 lässt sich Typ 1 nicht durch veränderte Ernährung und mehr Bewegung heilen. Aber Nahrungsmittel und Bewegung wirken auf den Blutzucker eines jeden Menschen. Ich empfand es bisher als hilfreich und stabilisierend, meine Ernährung zunächst an den Insulinplan aus dem Krankenhaus anzupassen. Eines Tages werde ich die benötigte Menge Insulin an meine Ernährung anpassen (und mache das auch jetzt bereits etwa beim Speisen außer Haus). Aber alles, was mir momentan Sicherheit gab, war mir willkommen. Ein Plan gehörte dazu.
Das innere Pferd füttern
Ich lernte, was Hafer für ein geniales Wundergetreide ist. Nicht nur, dass es heimisch ist und nicht aus einem fernen Lummerland importiert werden muss. Isst man Hafer, „bildet sich durch den löslichen Ballaststoff Beta-Glucan eine zähflüssige Masse im Darm. Diese bewirken, dass der Abbau gegessener Kohlenhydrate im Dünndarm und die anschließende Wirkung auf den Blutglukosespiegel langsamer verlaufen. Deshalb schnellt der Blutzucker nach dem Genuss gesunder Haferprodukte nicht so stark in die Höhe wie bei anderen kohlenhydrathaltigen Lebensmitteln.“ (Quelle) Sogenannte Haferkuren sind eigentlich vor allem für Diabetes Typ 2 interessant, aber auch mir geht’s als Typ 1 besser, wenn mein Blutzucker nicht zu rasch rauf und runter springt.
Frühstück war immer schon meine problematischste aller Mahlzeiten, weil ich von Kindheit an zu früher Uhrzeit nicht viel runterbekam. Nun bin ich bei recht schmucklosen Overnight Oats gelandet, also über Nacht in Milch eingeweichten kernigen Haferflocken. Schmeckt mir, am liebsten mit frisch geschnibbeltem Apfel oder ein paar Beeren und Nüssen. Ich bin bis mittags satt und fühle mich gut. Als Pferdemensch finde ich es durchaus amüsant, nun morgens bei Hafer und Apfel zu sitzen. Danach ein bisschen auf die Koppel? Au ja!
In der Not indes frisst der Teufel, nun, nicht Fliegen, sondern Gummibärchen.
Ich neigte von jeher dazu, glücklich machende Kohlenhydrate nach Lust und Laune in mich hineinzuschaufeln. Das funktionierte so nun nicht mehr – Insulin und Kohlenhydraten müssen passen. Und da ich mich erstmal an den Insulinplan hielt, musste ich Kohlenhydrate reduzieren. Tat mir ganz gut. Gerade in den letzten Monaten gierte mein Körper verblüffend oft nach Nahrung wie Kuchen oder Süßkram, sogar Schokolade. Danach hatte mich nie verlangt, weil mir im Anschluss schon immer flau bis hin zu richtig schlecht wurde. Es mag noch der Bann des Neuen sein, aber mich plagen momentan keine Gelüste auf Süßkram oder Heißhunger.
Inzwischen fluppt die Heimbürokantine wieder. Ich taste mich neu an vertraute Gerichte heran. Ich starre verblüfft auf den so geliebten Reis, der leider einen wahnsinnig hohen Glykämischen Index hat, also den Blutzucker hochjagt. Ich freue mich, dass Joghurt und Nüsse wiederum ziemlich super sind. Gemüse sowieso. Wie mein Lieblingsobst, der Apfel, wirkt, bekomme ich schnell heraus. Auch Essen auswärts hat bisher ganz gut geklappt. Dass ich es dann während der Buchmesse hinbekommen habe, beim Italiener zu wenige Kohlenhydrate zu essen und dann spät am Abend im Hotelbett mit Traubenzucker den Unterzucker behandeln musste, tja.
Diabetes für mich kein Schicksalsschlag, wegen dem man mich gramgebeugt auf der Buchmesse erwartete, wie ich erstaunt hörte. Es ist auch interessant. Lernen ist einfach was Großartiges, mein schützendes Superheldinnen-Cape. Ich habe in den letzten Wochen so wahnsinnig viel Neues hinzugelernt, über die Abläufe in meinem Körper, über medizinische Erkenntnisse und Therapien, über die Wirkweisen von Nahrung und körperliche Aktivität. Erstmals nahm ich auch den Nobelpreis für Medizin wahr, wow, super Sache, was da in der Forschung passiert. Gärtnern, Radreisen, Zelten, Wandern, all das wird auch weiterhin gehen.
Der Diabetes ist da.
Ich werde einen Umgang damit finden.
Das alles klingt womöglich gelassener, als ich mich manchmal fühle.
Am Samstag noch erfasste mich die Panik, weil ein unstrukturierter Tag Insulin und Mahlzeiten durcheinanderkegelte und ich falsch reagierte. Ich war panisch und teilte mich nicht mit. Fehler passieren. Aber es ist unklug, sie zu verbergen. Eingangs stellte sich mir die Frage, wie sich der Diabetes auf unseren Alltag und unser Miteinander auswirken würde. Ich bin so froh, jemanden an meiner Seite zu haben, der sich um mein Wohl sorgt und sich in den Diabetes hineindenken, der verstehen möchte. Für den ich nicht weniger wert bin, nur weil sich durch meine Erkrankung für uns Beide etwas ändert. (Und bei dem ich mich auch hier innigst fürs So-Sein und Da-Sein bedanke.)
Aber ich werde offener sein müssen, wenn es mir nicht gut geht.
Es ist in so vielerlei Hinsicht ein neuer Lebensabschnitt. Neun Wochen sind es nun, seitdem mein neues Leben mit Insulin begann. Vor neun Wochen starb meine Mutter. Erst vor kurzem haben ich erfahren, dass sie die Nachricht von meiner Diagnose noch kurz vor ihrem Tod erreicht hat. Ich hätte nicht gewollt, dass sie es erfährt. Und die Gründe dafür haben viel damit zu tun, warum es mir nicht leichtfällt, mich mitzuteilen, wenn es mir nicht gut geht. Als es auf die Trauerfeier zuging, fasste ich den Beschluss, mich an diesem Tag von einigen unguten Muster zu verabschieden.
Hat das eigentlich geklappt?
Was zuvor geschah:
Mein neues Leben mit Diabetes (1): Ab in die Notaufnahme
Mein neues Leben mit Diabetes (2): Es geht um Leben und Tod
Mein neues Leben mit Diabetes (3): Lauter erste Male
Mein neues Leben mit Diabetes (4): Essen muss der Mensch

				
				
				
				
				
				
				
				
				
				
				
				
❤️❤️❤️
Liebe Wibke,
es kommt mir fast so vor, als würde ich Tagebucheinträge von Dir lesen und ich bin ganz verwundert, wie offen Du hier berichtest.
Ich komme mir vor wie ein Gast, der gar nicht eingeladen wurde, aber durch den Garten ins Wohnzimmer kam.
Es ist interessant wenn ein Körper, den man lange zu kennen glaubt, plötzlich „Neuigkeiten“ für einen hat.
Du hörst Dich zwar noch etwas überrollt an, aber ich finde Du hast Dich mutig und engagiert aufgemacht in Dein „neues“ Leben.
Finde gar nicht, dass Du das als Makel sehen muss.
Du weißt schon… „special effects“ und so…
Ganz liebe Grüße,
Sandra
Willkommen in meinem Wohnzimmer, Sabine. Vielleicht beruhigt es Dich zu wissen, dass ich hier nicht alles offenbare. Aber zum Einen ordnen sich meine eigenen Gedanken und Gefühle, wenn ich von diesen Ereignissen ins Internet schreibe. Zum anderen wäre ich vielleicht eher auf Diabetes Typ 1 gekommen, wenn ich bei jemandem im Blog gelesen hätte, was es damit auf sich hat und das man sehr wohl auch als deutlich mittelalte Erwachsene daran erkranken kann. In einem Blog, das nicht allein auf das Thema spezialisiert ist.
„Special effects“ finde ich super! Danke Dir für diese tolle Bezeichnung.
Liebe Grüße:-)
Liebe Wibke,
auch ich bin aus dem Garten (Fedivers) plötzlich in deinem Wohnzimmer gelandet. Mir geht es wie dir. Ich bin dankbar über jeden, der über seine Erfahrungen (aller Art) schreibt. Etwas bleibt immer hängen (da hat doch jemand mal was geschrieben).
Akdo Danke, für das Teilen deiner Erfahrungen!