Ich trete vor die Tür und finde zwölf Grad vor.
Ich bin zu warm angezogen und öffne bald schon meine Jacke, stecke die Mütze in die Jackentasche, ziehe mir das Tuch vom Hals.
Zwei schwatzende Schuljungens cruisen auf ihren Rollern haarscharf an mir vorbei und schlittern souverän über den Herbstglibsch auf der Ecke zur Grundschule. Aus einer Nebenstraße dröhnt ein Laubbläser. Kürzlich habe ich die Stadt noch gelobt, weil ich den Eindruck hatte, dass sie darauf zugunsten des guten alten Rechens verzichten. Dä. Der Unsinn wird noch verdoppelt, weil das Laub nach den Regentagen fest mit dem Boden verklumpt ist. Da kann der Laubbläser noch so laut brüllen, da bewegt sich kaum etwas.
Ich werfe der Welt ein Stirnrunzeln zu und widme mich dem Gang ins Heimbüro. Auf den Bänken liegen Geschichten von verlorener Wärme und dem Geist der vergangenen Weihnacht. An einem Fahrrad baumelt verloren eine leuchtendgiftgelbe Nilpferdraupe.
Ein lachender Postkasten mit fetten Ringen unter den Augen.
Warum nicht. Eine Freundin reist gerade durch Japan und ich staune, wie viele Einrichtungen im öffentlichen Raum Gesichter haben, am liebsten niedliche. Verstörend oder nett? Ich bin nicht sicher.
„Stadtgrün naturnah“ – über dieses Schild stolpere ich regelmäßig. Eine rote Ampel schenkt mir die Zeit, eine Weile auf den schmalen Streifen Wiese zu starren. In den Blühmonaten stehen hier Wildblumen, die von Insekten besucht werden. Wie viele davon wohl beim Hin- und Herfliegen von den vorbeibrausenden Autos zermatscht werden? Sicher, jedes bisschen Grün, jedes bisschen unversiegelte Fläche ist gut. Aber hier zweifelt die Passantin.
Am Anleger ist was los: Hochwasser. Der Rheinpegel liegt heute Morgen bei 7,05 Meter, Tendenz steigend. Es geht für mich also nicht unten am Ufer entlang, sondern eins drüber an der Rheinuferstaße.
Das schielende Haus, die krakigen Bäume, das fahle Novemberlicht.
Im Agnesviertel wird gelesen. Spuren davon zu finden stimmt mich zuverlässig froh. Bei Patricia Cornwell geht mein Hirn mit mir durch und ich verwechsele sie für einige Minuten mit Barbara Wood und ihren üppigen Australien-Romanen, die ich vor langer Zeit gelesen habe.
Bevor ich mein Hirn wieder einfangen kann, steigert es sich in die Welt gewisser historisch angehauchter Romane rein, wo die Männer stets schroff, aber verletzt und verletzlich sind, die Frauen widerspenstig, aber unschuldig und schutzbedürftig. Bestimmt gibt es noch einen Brief, ein Familiengeheimnis, gewiss. Es kommt zu Übergriffen, die romantisch gedeutet werden, ein paar saftige Stellen, an der Körperteile schwellen und wogen, das alles mit etwas historisch verbrämten Bling-bling – und kurz bevor ich brüllend vor Lachen in die Baumscheibe kippe, fällt mir ein, dass Patricia Cornwell die mit den Kriminalromanen war und, huch, hallo, Moin auch, kurz den Müllmann durchlassen. Aus der Tür, in der er auf der Jagd nach Papiermülltonnen verschwindet, tritt ein ein brauner Jagdhund, der seine Inhaberin ausführt. Er strahlt mich an. Ich strahle zurück und kriege mich wieder ein.
Zu meinen Füße eine Schlappe. Ob da jemand aus den Latschen gekippt ist, grölt mein Hirn. Was hat es nur heute, orrr?!!
Die Großbaustelle ist mächtig vorangeschritten.
Schon eigenartig, wie die Masse an Material die Gegend verändert. Man spürt förmlich körperlich das Gewicht von Beton, Stein, Sand, Metall, Glas, das sich einem da entgegendrängt, wo vorher Licht und Luft war.
Zu meinen Füßen ein Mikrobiotop. Der Referenzbaum ist halb entkleidet, andere stehen schon nackt da. Am Fort haben sich drei Sonnenhüte in den November getrotzt und ihr leuchtendes Gelb knallt mit dem herbstfarbenen Laub der Bäume um die Wette.
Und dann.
Und dann stehe ich vor der Haustür, vor der Wohnungstür, vorm Schreibtisch, vorm Internet. Will ein stimmungsvolles Gedicht zum November, zum Herbst, zum Regen, vielleicht, heraussuchen. Und fische aus meinen Notizen Rose Ausländers „Nicht fertig werden“ hervor. Ich denke an die trotzig wirkenden Sonnenhüte. Ja. Dies.
Die Herzschläge nicht zählen
Delphine tanzen lassen
Länder aufstöbern
aus Worten Welten rufen
horchen was Bach
zu sagen hat
Tolstoi bewundern
sich freuen
trauern
höher leben
tiefer leben
noch und noch
Nicht fertig werden
Ich sah heute morgen unter meinem Fenster einen Stadtarbeiter mit einem großen Besen Laub zusammenfegen und dacht: Hey, super, die Stadt hat die ätzenden Laubbläser entsorgt. Im Hinterhof wird der Garagenhof des Nachbarhauses regelmäßig mit einem Laubbläser von ca. 7 Blättern befreit. Das ist aber ein Privatmensch. 🙁
Ich habe zumindest den Eindruck, dass es weniger geworden ist. Gehofft hatte ich, dass sie den Quatsch lassen. Die Dinger gehören verboten.
Seit Jahren bemühe ich mich um Verständnis des Regiebetriebs meiner Vermieterin. Laubbläser dröhnen regelmäßig nach den ersten Frösten und sorgen für laubfreie Büsche und Wiesenflächen. Die armen Igelchen, die zu diesem Zeitpunkt im tiefschlaf liegen, haben keine Chance ihre schützende Laubschicht zu behalten. Rasenflächen werden dreimal monatlich gemäht, selbst wenn Trockenheit für null Wachstum sorgt.
Du schreibst herrlich lebendig und nachvollziehbar. ♥️
Danke, liebe Elke! Traurig, wenn Menschen überhaupt kein Verständnis für die Natur, die sie umgibt. Es ist so skurril, die eigene Vorstellung von „Ordnung“ der Natur aufzwingen zu wollen und sie dabei zu zerstören. Ich hoffe sehr, dass sich nach und nach durchsetzt, wie falsch das ist. Auch dank des beharrlichen Einsatzes von Menschen wie Dir!
Was für ein schöner Gang ins Heimbüro, habe es nun – am Abend – sehr gern gelesen. Und das Gedicht sickert in meine Welt, wunderschön.
…horchen was Bach
zu sagen hat
Tolstoi bewundern
sich freuen
trauern
höher leben
tiefer leben
noch und noch…
Danke fürs Mitnehmen!