Ich trete vor die Tür und betrete den November.
Es ist an der Zeit, die Gänge ins Heimbüro wiederaufzunehmen, die mir in diesem Jahr abhanden kamen. Dieser Montag ist perfekt dafür, meine übliche Runde zu drehen: es ist kühl. Es regnet. Noch hängt etwas Laub in den vom Regen dunkel gefärbten Ästen, auf den Wegen liegt es klatschnass auf Haufen oder vereinzelt herum. Von den Straßen das Schmatzen der Autos.
Menschen tragen Regenschirme durchs Viertel. Und während ich selbst Regenschirme nicht tragen mag und deshalb lieber mit Mütze und Kapuze rausgehe, freuen mich besonders die bunten Schirme. Die Frau vor mir trägt eine dottergelbe Übergangsjacke dazu und klemmt sich unter den Regenschutz. Keine Freundin des Novembers, vermute ich. Die Weißenburgstraße ist in Sepia getaucht, die Autos sind in Schwarz-Weiß. Kinder und Hunde werden an Händen und Leinen vorangezerrt, zur Schule, zum Gassi, zum Jetztaberschnell. An der Kunstlitfaßsäule mache ich Halt. Immer noch die schönste Kunst im öffentlichen Raum, finde ich. Momentan ist dort Ruth Weigands Arbeit The River runs zu sehen, die mit Fundstücken aus dem immer fließenden Rhein zum Innehalten und zum Unterbrechen der eigenen Bewegung einlädt.
Eine Straßenecke weiter spiegelt sich die rote Ampel im Spiegel der nassen Straße.
Menschen auf dem Rad sind in bunte Regenhüllen gekleidet und behaupten sich stoisch gegen die absurd hektisch drängelnden Leute in ihren Autos. Ein städtisches Gebäude, das leer steht. Hinter den Gittern der Absperrung eine prachtvoll blühende Rose. Einige Schritte weiter ein weiteres, schon lange leerstehendes Bürogebäude. Büros stehen leer, Wohnungen fehlen. Pssssst.
Am Anleger alles ruhig.
Vater Rhein führt viel Wasser. Die Flusskreuzfahrtschiffe haben sich für ihren Winterschlaf in ihren Nisthöhlen zurückgezogen. Das Laub der Uferbäumchen färbt sich und fliegt mit den Kranichen davon.
An der Böschung spiegelt sich mein veränderter Blick. Ein halbes Jahr Kleingarten und anderthalb Jahre intensive Beschäftigung mit dem Thema Garten zeigen schockierende Wirkung: ich erkenne extrem viele Pflanzen. Es sind extrem wenige Arten. Es sind vor allem invasive Neophyten, die andere Pflanzen verdrängen. Wie die Kanadische Goldrute oder das Einjährige Berufkraut. Aber ich sehe auch Strauchefeu, einer der Guten, die noch spät im Jahr allen möglichen Insekten Nahrung bieten – und den Vögeln und anderen Tieren Unterschlupf.
Und schön denke ich wieder an den Garten. Gestern pflanzten wir zwei Apfelbäume, was ich als ungemein beglückend empfinde. Ein Kontrapunkt der Zuversicht angesichts einer Weltlage voller Gewalt und Verzweiflung und dem angesichts einer globalen Katastrophe erratisch wirkenden Verhalten der Menschheit.
Rot wie Blut leuchtet mit der Baum von der anderen Straßenseite entgegen.
Am Gitterzaun blüht dazu eine Kletterrose. Und während ich im Garten meine Liebe zu Rosen entdeckte, finde ich zu Hortensien keinen Zugang. Aber ihre Farben im Verblassen mag ich sehr. Schöner sind nur Tulpen in ihrem Vergehen und Verwelken.
Sterntaler! Ich winke der Fremden in der Anderwelt der Pfützen zu, lege den Kopf in den Nacken und fange zwei Regentropfen mit der Zunge und viele Regentropfen auf meinen Brillengläsern auf.
Vorm Referenzbaum bleibe ich kurz stehen, um mit dem Taschentuch die Brille wieder benutzbar zu machen. Kaum wieder sehend bietet sich mir ein ulkiger Anblick: Eine Frau spurtet mit organroten Kackbeuteln zwischen ihren Hunden hin und her, die entschlossen und beinahe zeitgleich in die Wiese häufeln. Ohne Hund und in dunkler Kleidung ist man zu früher Morgenstunde ja gleich verdächtig, dem Ordnungsamt anzugehören. Daher bin ich auch nicht sicher, ob das allzu herzliche Lächeln und Grüßen der Inhaber*innen mit ihren Hunden an der Leine nicht eher diesem Verdacht gilt. Vielleicht haben sie mich aber auch vermisst, die einsame Wanderin im Regen, ohne Hund bei Fuß, die in die Gegend starrt, alles mögliche abknipst und vor sich hinmurmelt?
… acht, neun, … zehn … Ich zähle die Regenschirme und springe über Pfützen. An dem Fenstersims an der Ecke zur Agneskirche, der immer passend zum Anlass geschmückt ist, ist alles leer. Ein altes Ehepaar lebt dort. Oder lebte? Keine Tannenbäumchen, keine Lichter. Innerlich ein stiller Gruß.
Ich streife den Bücherschrank und freue mich über die Barbapapas. Meine Lieblinge als sehr kleines Kind. Barbabo war mein Liebling, der Künstler der Familie mit struppigem Haar. Erinnert Ihr Euch noch an die bunte Bande? Meine Rolle als Patentante des Bücherschranks habe ich im Sommer übrigens aufgegeben. Es wurde dann einfach zu viel und ich wollte schlicht in jeder freien Minute im Garten sein.
Der Garten. Bad Kleingarten.
Demnächst erzähle ich das mal ausführlicher hier. Aber: „Lerne von der Geschwindigkeit der Natur: ihr Geheimnis ist Geduld“ Ralph Waldo Emerson
Nun erreiche ich die Haustür, trete ein, Wohnungstür, klapp. Jacke aus, Schuhe aus. An den Schreibtisch. Wohlan.
Ich nehme deine Wanderungen mal als Anregung, auch wieder vermehrt rauszugehen. Ich sehne mich nach dem Durchatmen. Und gerade bei Regen ist es ein besonderes Erlebnis. Die Gartengeschichten mag ich auch sehr. Toll, wie du dich da reinliest und immer mehr Expertise ansammelst.
Danke für diesen schönen Gang mit dir, der ein bisschen die grauen Wolken weiterschiebt.