Tournai!
Als wir überlegten, wohin uns in diesem Jahr die #KultourWallonie führen könnte, war diese Stadt unweit der französischen Grenze auf meiner Wunschliste ganz oben. Vielleicht war es einfach der Klang ihres Namens oder dass Tournai eine der ältesten Städte Belgiens ist? Ich hatte große Lust, die Hauptstadt der Provinz Hennegau zu besuchen. Um auch die Umgebung besser erkunden zu können, nahm ich mein Fahrrad mit in die Bahn. So ging es von Köln aus durch die vielfältigen Landschaften und Orte der Wallonie über Lüttich und Brüssel nach Tournai.
War der Bahnhof noch recht schmucklos und der kurze Weg durch eine Baustelle bis zum Fluss Escaut (uns besser bekannt als die Schelde) vom suchenden Blick auf den Stadtplan bestimmt, kam ich auf einer Brücke wie vom Donner gerührt zum Stehen: die Kathedrale. UNSECO-Weltkulturerbe, ohne Frage. Ein mächtiges Bauwerk mit fünf imposanten Glockentürmen, das mir im etwas milchigen Licht dieses Tages wie eine Fata Morgana erschien. Gleich in der Nähe ragt recht keck der älteste Belfried Belgiens schlank in die Höhe. Tournai, natürlich. Doch der Name leitet sich nicht einfach aus den Türmen ab, sondern ich stoße auf einen herrlich nerdigen Artikel über die Toponymie von Tournai.
Wo der Dom ist, ist das Zentrum.
Als Kölnerin weiß man das. Irgendwo dort werde ich mein Hotel finden. Über Kopfsteinpflaster hopse ich mit dem bepackten Rad durch die Straßen. Tournai ist eine Stadt mit vielen geparkten und übers Pflaster bretternden Autos und erinnert mich sofort an Cambrai, nicht weit weg in Nordfrankreich. Die wirtschaftlichen Umbrüche und der demographische Wandel sind grenzüberschreitend spürbar. Der Kontrast zwischen vergangenem Wohlstand und prachtvollen Bauten zur Gegenwart macht sich überall bemerkbar. Viele tausend Jahre Geschichte sind in Tournai sichtbar. Bernard, der mir später die Stadt zeigen wird, machte mich auf die Häuser am prominenten Grand Place aufmerksam: jedes einzelne aus einer anderen Epoche.
In den Gassen finde ich mein Hotel, wo ich mit großer Gastfreundlichkeit aufgenommen werde. Das Hôtel d’Alcantara kann ich insbesondere Radreisenden sehr empfehlen. Nachdem die Abstellmöglichkeiten für mein Fahrrad mir nicht ganz zusagten, konnte ich es problemlos mit in mein Hotelzimmer nehmen. Es lag nicht an den Abstellmöglichkeiten: ich bin eine Helikopermutti in dieser Hinsicht und schlafe auf Reisen am besten, wenn ich mein Fahrrad in Sichtweite habe. Alles an diesem Hotel mochte ich.
Selbst wenn ich immer empfehlen würde, nach einem B&B Ausschau zu halten. Es kommt mir auch beim Lesen etwa der Erfahrungen von Anke und mit Blick auf meine eigenen im vergangenen Jahr so vor, als seien diese Unterkünfte in der Wallonie unschlagbar in Sachen Gastfreundlichkeit und Bewirtung. Aber manchmal darf und muss es ein Hotel sein. Dann bitte eins wie das Hôtel d’Alcantara in Tournai, wo ich von meinem Zimmer aus einen schönen Blick auf den Glockenturm von Saint-Jacques de Tournai hatte.
Am Tag meiner Ankunft traf ich mich im Touristenbüro von Visit Tournai mit meinem Guide: Bernard Deraedt, dessen „Gruppe“ ich sein durfte. Auf Anhieb gab es viel Sympathie. Bernard schätzt die deutsche Sprache sehr und spricht sie auch noch ausgezeichnet. Die Vielsprachigkeit der Menschen in der Wallonie finde ich immer wieder beeindruckend. Bernard etwa spricht gleich mehrere Sprachen. Für alle Fälle hatte er ein eigens erstelltes Konvolut im DIN A5-Format dabei, mit Fakten, aber auch mit deutschen Sätzen und Begriffen. Bernard war so reizend, mir diese Sammlung am Ende zu überlassen. Das war für mich überaus hilfreich, denn so konnten wir uns aufeinander konzentrieren und ich kann für meinen Beitrag auf sein Wissen zurückgreifen.
Wir stromerten also miteinander durch die Stadt und vor allem in die prachtvolle Kathedrale. Die Cathédrale Notre Dame de Tournai ist ähnlich wie der Kölner Dom von weitem und aus beinahe der ganzen Stadt zu sehen.
So überwältigend der Anblick von außen, so sehr rührte mich das Innere des mächtigen Baus. Es gibt ein romanisches Hauptschiff aus dem 12. und einen gotischen Teil aus dem 13. Jahrhundert. Man kann ganz gut die verschiedenen Entwicklungsstufen zwischen Romanik und Gotik erkennen. Während das romanische Hauptschiff seit fast neun Jahrhunderten fest in der Welt steht, ist alles, was gotisch ist, instabiler. Teilweise liegt das an unterschiedlichen Fundamenten, auf denen gebaut wurde. Einer der Türme ist nicht nur in sich gedreht, sondern auch geneigt. Ein Tornado im Jahr 1999 drückte überdies den gotischen Teil ein, weshalb der Chor zu großen Teilen von Stahlgerüsten gestützt wird. Während der Arbeiten wurden unter der Kirche aufregende archäologische Funde von einem Bau von vor über zweitausend Jahren gemacht. Auch ein Taufbecken aus dem 6. Jahrhundert wurde entdeckt. Daneben stehen Plastikstühle für die Gläubigen – abermals ein überwältigendes Nebeneinander von Damals und Jetzt. Die alten Stühle kamen irgendwann abhanden. Mangels Geld griff man zu pragmatischen Lösung.
Von Tournai aus blickt man auf die Restaurierung von Notre Dame in Paris: in der Wallonie fehlt das Geld, um das Kulturerbe wieder herzurichten. In der Diözese in der wallonischen Provinz wiederum blickt man auf Notre Dame in Tournai, wo viel von dem wenigen Geld hinfloss. Und so kann man in Tournai einen guten Blick auf eine wahrhaft bewegte Geschichte und die Frage nach der Bewahrung von Geschichte werfen. Hier wird vielleicht weniger ehrfürchtig gestaunt als in Paris, sondern eher gelebt mit dem, was man hat. Improvisation ist eine Spezialität der Wallonie.
Es ist durchaus etwas Besonderes, mit dem Bernard durch die Kathedrale zu gehen. Ihn kennt hier jeder. Wie sich später herausstellt, ist er sogar mit dem Bischof von Tournai befreundet. Auf dem Weg durch die Stadt gibt es immer wieder großes Hallo von allen Seiten.
Es gab auch einen wundervollen Moment der Stille: am darauffolgenden Feiertag war ein Orgelkonzert geplant. Der Organist pustete alle Pfeifen nochmal ordentlich durch und spielte eine Weile auf der Orgel, während Bernard und ich im Kirchenschiff saßen. Dieses Glück wird mich auf immer mit Tournai verbinden. Gut, und das schöne Gespräch mit Bernard im Anschluss bei einem wallonischen Bier auf der Grand Place.
Der Belfried, die Halle aux Draps, das Rathaus, Rogier van der Weyden, der Heilige Damian, die mutige Philippe-Christine de Lalaing – neben den Sehenswürdigkeiten waren es vor allem die kleineren Erzählungen von Bernard am Rande, die Tournai für mich mit Leben füllten. Rogier van der Weyden führte mich direktemang zurück in mein Studium der Kunstgeschichte. Dass einer der berühmtesten Maler des 15. Jahrhundert in Tournai geboren wurde, war mir aber neu. Neben der Kathedrale wird er mit einer Statue gewürdigt, die ihn beim Malen von Maria und dem Jesuskind zeigt.
Eine ungewöhnliche Statue der kühnen von Épinoy, Philippe-Christine de Lalaing, steht auf der Grand Place. Sie griff zur Verteidigung das calvinistischen Hochburg Tournai in die Auseinandersetzung während der Religionskriege im 16. Jahrhundert tatkräftig ins Geschehen ein. Am Ende musste die Stadt vor den katholischen Spaniern kapitulieren, aber ihr Einsatz für Tournai ist nicht vergessen. Die Stadt war oft Zankapfel zwischen Königen und Kaisern: Tournai wurde von den Franzosen unter Ludwig IVX., von den Habsburgern unter Karl V. und von den Engländern unter Heinrich VIII. beherrscht.
Die wallonische Stadt war ein wichtiges Zentrum für Keramik und eine bedeutende Textilstadt: in der Tuchhalle, der Halle aux Draps, wurden Stoffe gehandelt. In der Stadt wurden Wandteppiche hergestellt – eine Tradition, die übrigens die Liebe zum Comic hervorbrachte. In der Stadt ist der Verlag Casterman ansässig, der unter anderem „Tim & Struppi“ von Hergé veröffentlichte.
Historische Wandteppiche vom 15. Jahrhundert an bis hin zu zeitgenössischer Textilkunst kann man in Tournai im TAMAT besuchen. Eine nicht allzu große, interessante Ausstellung, die Gegenwart und Vergangenheit kongenial miteinander verbindet, dazu ein Zentrum, das neben einer Werkstatt für Restauration und Konservierung auch seit vierzig Jahren ein „Artists in residence“-Programm hat und Künstler*innen Raum und Zeit zum Experimentieren gewährt.
Einzig der Museumsshop hätte für mich etwas üppiger ausfallen dürfen. Ein paar besonders schöne Karten jedoch landeten im Walloniebüggel, den wir demnächst bei den Herbergsmüttern verlosen.
Das TAMAT besuchte ich übrigens am Tag darauf ohne Bernard, nachdem ich in Lessines war, der Stadt Magrittes und der Ort, an dem eins der ältesten Krankenhäuser Europas zu besichtigen ist. Davon erzähle ich dann im nächsten Beitrag.
Ist Tournai geprägt von den vielen Konflikten in den Jahrhunderten? Mir kommt es so vor. Auch die Pest hatte der Region sehr zugesetzt, was sich in Lessines und auch in Mons wiederfinden wird. Es mag auch sein, dass es am Strukturwandel liegt, dass der Stadt etwas Grimmiges anhaftet. Der Vergleich zu Mons wird ein interessanter sein.
Aber vorab: Ich habe sehr gut gespeist in Tournai und bin ausnahmslos freundlichen Menschen begegnet. Mein herzlicher Dank an Bernard, der mir nach unserer schönen Stadtführung noch einen Haufen „Hausaufgaben“ mitgab – nicht alles habe ich in den nicht mal zwei Tagen geschafft. Zwischendurch musste ich einfach ein bisschen im Parc Georges Brassens sitzen und bestaunte dort den erstaunlichen Ginkgobaum, der gepflanzt wurde, lange bevor Goethe sein berühmtes Gedicht über den Ginkgo schrieb.
Gut essen
Corto Malté
Ein gemütliches Restaurant mit Tapas und mediterraner Küche. Ich hatte ein Pastagericht, aber nachdem ich gesehen habe, was da an Tapas rausging, würde ich beim nächsten Mal mutiger bestellen. Es gibt hier Bier der vorzüglichen Bio-Brauerei Brunehaut, nahe bei Tournai.
Aufmerksam geführtes Restaurant mit solider Küche. Tatsächlich erinnere ich mich besser an die ausgesprochen nette Wirtin, die ein Herz für alleinreisende Frauen hatte, als an das, was ich auf dem Teller hatte. Dafür trank ich das örtlich gebraute Tournay, das ich sehr gut fand.
Gut schlafen
Bequemes Bett, freundlich und schlicht gestaltetes Zimmer, ein dem Gast sehr zugewandter Service – ich fühlte mich sehr wohl. Das Frühstück war nicht außergewöhnlich, aber gut.
Tournai gut begleitet entdecken
Eine Führung mit Bernard Deraedt kann ich nur wärmstens empfehlen. Bei Visit Tournai könnt Ihr ihn Euch wünschen.
Informationen bei Visit Wallonia, die Euch auch gern bei Fragen zu Tournai oder der Wallonie weiterhelfen.
Weiterlesen: #KulturWallonie 2023 (wird laufend ergänzt)
Anke war in Louvain-La-Neuve und im Musée L unterwegs, um sich dann zwischen Poesie und Waterloo einzufinden. Erinnert Ihr Euch ans Maison Losseau? Das konnte Anke als Jugendstilexpertin im Unterschied zu mir ordnungsgemäß würdigen.
Es ist Liebe: auf #KulturWallonie im Hennegau
Transparenzhinweis
Die Reisekosten wurden von Visit Wallonia, dem Tourismusverband Belgien-Tourismus Wallonie übernommen, inklusive Anreise und Auslagen. Herzlichen Dank fürs Organisieren und das unkomplizierte und herzliche Miteinander!