Ich trete vor die Tür.
Ich nehme einen tiefen Atemzug von der kühlen, frischgewaschenen Luft voller Novemberregen. Das Agnesviertel steht voller Pfützen und man sieht die Menschen ulkig tänzeln und hüppen, um ein Nasswerden zu vermeiden. Singin‘ in the rain, dancin‘ in the rain. What a glorious feeling, während ich mit meinen Allwetterschuhen durchs herbstbunte Nass platsche. Mittendurch statt drumherum. Etwas später als üblich wird das Büdchen aufgeklappt. Später werden dort wieder die üblichen Verdächtigen hier ihren Kaffee in den Kopp schütten (Triggerwarnung: Karnevalslied). Ein Morgen wie ein Medley, mein Hirn spielt ein Lied nach dem nächsten an, es gibt solche Tage. Am Kiosk eine Straße weiter ist schon fröhliche Weihnacht, überall. Mit Blinki-blinki am Zaun, die arme Nachbarschaft.
In diesem Moment verabschiedet sich mein Mobilgerät.
Ich hatte erfolgreich verdrängt, dass es bei kühlen und feuchten Wetterbedingungen zum Ende des Akkus schnell schwächelt. Kurz kann ich es nochmal wecken, dann sehe ich die Akku-Prozente runterzählen: …7, 6, 5 … aus. Keine Bilder also von der Hochwassersperrung am Rhein (Pegel bei Köln: 5,56 m), von den gelben Ahornblattsternen auf dem schwarzen Gehsteig, keins von der Baustelle, wo alles ruht und man telefonierend in den Himmel blickt. Auch kein Bild von den bunten Regenschirmen. Die scheinen im matten Licht dieses Novembermorgens durch die Straßen zu schweben, während ihre Inhaber in ihren Herbstbekleidungstarnfarben mit dem Hintergrund verschwimmen.
„NEIN!“
Erschreckt fahren meine Hand und die Hundenase kurz vor der Berührung auseinander. Wen genau die Inhaberin des netten schwarzen Hundes ermahnt hat, lässt sich nicht recht klären. Sie guckt uns beide wütend an. Schon gut, niemand berührt hier irgendwen. Nun hat sie die Leine in der Hand und hätte ihren Hund leicht ranholen können. So lässt sie die Situation entstehen, um – ja, was, uns beide zu erziehen? Verdattert schweige ich und gehe weiter. Natürlich fallen mir erst einige Minuten später passende Sätze verschiedener Couleur dazu ein. Schlagfertig sind Menschen eigentlich immer nur in Filmen, wenn sie das sagen können, was ihnen Menschen in den Mund legen, die auch immer nur im Nachhinein schlagfertig sind.
Der Referenzbaum trägt noch ein schmales Rüschenröckchen.
Auch die jüngeren Bäumchen, die wie eine Can-Can-Tanzformation am Weg stehen, haben noch untenrum puschelige Laubröcke. Kein Bild. Ich denke an die Spaziergangswissenschaft von Lucius Burckhardt und seinen Überlegungen zur Erfindung von Landschaft. „Am Schluss, nach Hause zurückgekehrt, erzählt der Spaziergänger, was er gesehen hat. […] Dabei beschreibt er keinen der durchquerten Orte, den Wald, das Flusstal, schon gar nicht die Fabrik oder den Müllplatz, sondern er beschreibt integrierte Landschaftsbilder. Die Wahrnehmung beruht auf dem kinematografischen Effekt des Spazierengehens.“
Promenadologische Überlegungen
Ich erzähle mir und Euch von meinem Bild einer bestimmten Gegend von Köln. Ich erzähle von dem, was ich wahrnehme. Es ist gefärbt davon, wie ich etwas wahrnehme, wie meine Haltung zur Welt ist, wie meine Tagesverfassung und alles, was ich vorher gesehen, gelesen und gehört habe. Wenn ich immer denselben Weg wähle, erkenne ich etwa an den von mir gewählten Referenzpunkten, dass dieser Weg zwar stets derselbe, aber nie der gleiche ist. Die Bedingungen verändern sich laufend durch die Lichtverhältnisse des Jahresverlaufs, das Wetter, die Jahreszeiten und ihrer Phänologie, die Pflanzen und Tiere, aber auch durch die Menschen, die hier leben oder arbeiten und sich durch die Straßen bewegen.
Das Unmittelbare und das Hinzugesponnene vermischen sich.
Schon bin ich zurück an der Agneskirche und sehe wie schon erwartet die, die immer hier stonn, also die Kaffee trinkenden Nachbarn, die sich unter dem schützenden Vordach des Büdchens zusammendrängen. Beinahe so ordentlich wie die frisch sortierten Bücher gleich nebenan im Öffentlichen Bücherschrank, der heute drei Jahre alt wird. Herzlichen Glückwunsch! Nachher bringe ich noch ein paar Geschenke vorbei, die aus dem Bücherregal ausziehen in die Welt.
Ich betrete das Haus, die Wohnung, die Küche und mache mir innerlich eine Notiz, dass ich meiner Winterjacke eine Auffrischungsimprägnierung gönnen sollte.
Zum Tag ein Schnipsel aus den Gedichten der großen Inger Christensen:
Unruhige tauben überall
und die angst um das gedicht,
das verschreckt
auffliegt
bei der geringsten
bewegung.
Legt brotkrümel aus,
damit die wörter sich still
setzen.