Selig tätschele ich seine roten Bäckchen.
Fest und rund liegt er in meiner Hand. Ich rieche an ihm. Ich beiße hinein. Und schließe die Augen.
Ich erinnere mich an die beiden Apfelbäume, die hinterm Haus meiner Eltern standen. Die Gartenvögel saßen gern darin. Im Frühling waren sie voller weiß-rosa Rüschen. Im Spätsommer wuchsen viele kleine, säuerliche, nun ja, eher wirklich saure Äpfel an ihren knorrigen Zweigen. Eigentlich eigneten sich diese Äpfel vor allem für Apfelmus. Im Winter schätzten die Amseln sie. Ich aß sie dennoch gern. Ohnehin mit einer Vorliebe für Saures ausgestattet, biß ich vorsichtig Stückchen ab. Manchmal waren sie wurmstichig und bitter. Da lehrte die Erfahrung, lieber sachte vorzugehen.
Eines Tages mussten die Apfelbäume weichen. Ihre Wurzeln wollten dem Haus ans Fundament. Sie gibt es nun nur noch auf alten Familienfotos. Und in meiner Erinnerung.
Ich beiße in meinen Apfel und habe kurz den Geschmack von früher auf der Zunge. Es sind die ersten Elstar, die noch etwas quietschig-säuerlich schmecken. Mmm ..! Nun gibt es wieder Herbstäpfel, meinte die Obstbäuerin, als sie mir zusammen mit den Elstar-Äpfeln eine der letzten Papiertüten mit dem Sommerapfel Delba rüberreichte.
Essen weist über den Moment hinaus
Essen vermag uns mit der Vergangenheit, mit Erinnerungen zu verbinden, mit uns selbst, mit anderen und mit der Gegenwart, mit dem Hier und Jetzt. Ich lese in Doris Dörries Geschichten vom Essen: Die Welt auf dem Teller. Achtundvierzig Geschichten sind es, eine Sammlung von Zeitschriftenkolumnen aus den Jahren 2016 bis 2020. Es sind leichtfüßige Texte, manche an der Grenze zum allzu Alltäglichen, aber auch Texte, die einen entführen in andere Küchen, in andere Kulturen, in andere Zeiten und Gewohnheiten.
„Ich habe wieder eine neue Beziehung, obwohl ich eigentlich keine mehr wollte. Jedes Mal ging es schief. Meine Schuld. Keine Geduld, keine Disziplin – und bam. Ende. Aber dann doch wieder die Sehnsucht, es endlich zu schaffen. Ein neuer Versuch. Er heißt Hermann. Er heißt immer Hermann.”
Mein Hermann hieß Herr Professor und war kein Sauerteig aus Weizenmehl, sondern aus Roggenmehl. Mein Herr Professor vergammelte irgendwann auf dem Balkon. Der italienische Backofen der Marke Diva wurde nicht heiß genug für Brot – und im Kühlschrank war auch kein Platz mehr. Bam.
Wem gehört unser Essen?
Dass Essen aber nicht auf dem Teller beginnt, thematisiert Doris Dörrie in einigen dieser Texte. „Wem gehört unser Gemüse?” fragt sie am Ende ihrer Ode an die Kartoffelsorte Linda, um die es vor einigen Jahren Aufruhr gab. Wie lebt das Huhn, dessen Ei man mit Genuss verspeist? Was, wenn alle Tiere, die man in seinem Leben verspeist hat, plötzlich nach dem Tod mit vorwurfsvollem Blick vor einem stünden?
Ich finde neben all den schwelgerischen, fernwehsüchtigen, kritischen und lustvollen Geschichten viele verwandte Gedanken. Oder vielmehr: Ich erkenne mich in den Fragen nach dem Woher und Wohin wieder. Aufs Essen bezogen: Woher kommt, was ich esse? Wer hat es angebaut, gezüchtet, geerntet oder geschlachtet, verarbeitet? Und unter welchen Bedingungen?
In einer globalisierten Welt, in der Produktions- und Verarbeitungswege selten unkompliziert nachvollziehbar sind und in der die unsichtbar bleiben, die dafür sorgen, dass wir in Geschäften etwas zum Kaufen finden, ist der Handlungsspielraum mitunter erschreckend klein. Doch neben Forderungen und Fragen an die Politik sowie die Unterstützung von Initiativen für das Gemeinwohl kann man beim persönlichen Bedarf ansetzen.
Veränderung ist möglich
Seit fast drei Jahren ändere ich nach und nach immer mehr. So versuche ich, mich möglichst saisonal und regional zu ernähren, und direkt beim Erzeuger zu kaufen. Bei Produkten wie Obst, Gemüse, Fleisch und Molkereierzeugnisse geht das dank Marktschwärmer zumindest im urbanen Raum sehr gut. Niemand muss für einen Einkauf mit einem Auto zu verschiedenen Hofläden im Umland fahren, sondern die Marktschwärmereien funktionieren wie ein temporärer Hofladen in der Stadt. Für mich eine gute Ergänzung zum Ökomarkt, der einmal wöchentlich im Viertel stattfindet.
Landschaft auf der Zunge
Was sich für mich verändert hat und was ich so gar nicht erwartet hatte: Meine Verbundenheit zu der Region, in der ich lebe, ist enger geworden. Ich esse, was um mich herum aus dem Boden wächst oder auf dem Boden lebt. Ich spreche mit den Menschen, die sich um diesen Boden, die Pflanzen und die Tiere kümmern. Ich fahre an Feldern vorbei und weiß (auch dank Instagram), dass dort die Familie Trippen heute morgen die Kartoffeln aus der Erde geholt hat, die ich morgen mit nach Hause nehme.
Ich weiß, wer meinen Salat und mein Gemüse in die Kiste gepackt hat. Ich erfahre, warum die Möhren in diesem Jahr eher klein sind und wie sich der Grünkohl macht. Ich weiß, wo meine Äpfel wachsen. Den, in den ich vorhin noch hineinbiß. Wie war das Jahr bisher so? Ach ja, da gab es im späten Frühjahr nochmal Frost. Die Aprikosenernte fiel beinahe gänzlich aus.
Du bist, was du isst. Ich esse und habe den Geschmack meiner Umgebung auf der Zunge. Mich kümmert, wie es dem Boden geht, den Tieren, den Pflanzen, wie es denen geht, die mein Essen anbauen und damit ihr Geld verdienen. Denn es betrifft mich. Direkt.
Übers Essen sprechen
Kennt Ihr die etwas ermüdenden Gespräche über Rezepte bei Essenseinladungen? Oh, das ist so gut, du musst mir unbedingt das Rezept verraten! Ich weiß ja nicht. Mein Verdacht ist, dass es bei solchen Fragen oftmals eher darum geht, Nähe zu vermeiden, indem man sich ins Funktionale flüchtet. Viel schöner finde ich, sich darüber zu unterhalten, was einem dieses Essen vielleicht bedeutet. Woran es einen erinnert. Wo man es vielleicht zuletzt so oder so ähnlich gegessen hat. Sich mitteilen über Essen. Immerhin ist auch jedes Essen, das man für andere kocht, eine Frage – und ein Angebot. Schmeckt es dir? Was daran schmeckt dir? Fühlst du dich gut aufgehoben mit diesem Essen, willkommen, umsorgt?
Ich lese in Doris Dörries Geschichten vom Pflaumendatschi, von Petersilie, von Milch, von Holunder und von Pasta. Jede einzelne Geschichte liefert Stoff für Gespräche.
Eigentlich ein perfektes Mitbringsel, wenn man zum Essen eingeladen ist: Man verschenkt das Buch, dazu zwei, drei Nahrungsmittel aus dem Buch und der Abend wird sich möglicherweise mit vielen Erinnerungen füllen, an Essen in der Kindheit vielleicht, oder das auf Reisen. Oder den Trost von Essen in den vergangenen Monaten. Die Berge von Nudeln, die sich in verschiedenen Haushalten finden lassen müssten.
Während wir hier Kartoffelberge der Region abbauten. Denn durch die Schließung der Gastronomie blieben viele Kartoffelbauern und -bäuerinnen auf ihren Kartoffeln sitzen. Doch wir taten, was wir konnten, und futterten für den guten Zweck Pfanne um Pfanne köstlicher Bratkartoffeln.
„Was bedeutet das alles am Ende? Keiner weiß es. Wir sind, was wir essen, aber wir sind auch, wie wir kochen.”
Alle Zitate sind aus Doris Dörrie, Die Welt auf dem Teller. Inspirationen aus der Küche. Im Rahmen einer bezahlten Kooperation mit dem Diogenes Verlag darf ich mich diesen Geschichten und dem Buch von Doris Dörrie lustvoll hingeben. Der nächste Blogbeitrag dazu widmet sich dem Thema Essen auf Reisen.
Vor diesem Beitrag hier schrieb ich über die noch warme Baguette, Trostpudding und eine Schnitzelkönigin.