Ich erinnere mich.
An die noch warme Baguette in meiner Hand. Auf dem Weg zum Zeltplatz breche ich das Knäppchen ab und schiebe es mir in den Mund. Gewürzt mit einem Hauch schlechten Gewissens schmeckt es gleich nochmal so gut. „Kannst du nicht warten?“ meint eine Stimme in meinem Kopf. Woher kommt die eigentlich?
Ich erinnere mich an endlos scheinende Sonntagvormittage.
Nach dem Frühstück liege ich im Bett und lese. Von unten aus der Küche höre ich es zischen. Der Duft nach Angebratenem zieht durchs Haus. Wenig später höre ich, wie ein Deckel auf den Topf kommt. In den nächsten Stunden wird mir das Wasser im Munde zusammenlaufen. Mein Magen wird immer beharrlicher knurren. Deck‘ schon mal den Tisch. Warte, bis wir alle am Tisch sitzen.
Ich erinnere mich daran, wie ich meiner Mutter in der Küche helfe.
Gemüse schnibbeln. Etwas aus dem Keller holen. Kräuter im Garten schneiden. In der Küche zu helfen, bedeutet auch: Probieren. Abschmecken. Nicht warten zu müssen. Rohe Kartoffelstücke ergattern zu können. Sowieso: das Gemüse am liebsten roh. Aber keine grünen Bohnen. Der Duft des gebratenen und geschmorten Fleisches, aber lieber nur die Soße. Der See aus Bratensoße in der Landschaft aus Stampfkartoffeln. Erbsen und Möhren sind die Bäume. Meine Oma: Mit Essen spielt man nicht.
Ich erinnere mich an Fiebertage im Bett.
Alles tut weh. Die Nase zu. Husten. Meine Welt ein Jammertal. Selbst lesen geht nicht. Nur liegen. Der Dackel liegt mit. Zwischendurch rennt er bellend ans Fenster oder runter, an die Tür. Kranke hüten und das Haus, er hat zu tun. Zwischendurch schläft er im Oberbett. Bunte Frotteebettwäsche. Meine Mutter kommt und bringt mir Vanillepudding. Noch warm. Hier, Kind, iss‘ was, damit du wieder gesund wirst.
Ich erinnere mich an Österreich, an Kärnten.
An Familienurlaub im Tal der Gail. Ich bin nach drei Wochen Schnitzelkönigin. Zuhause ist es beinahe unmöglich, Fleisch in mich hinein zu bekommen. In Österreich verspeise ich jeden Tag dasselbe: Rinderbouillon mit Nudeln, Schnitzel mit Fritten und Salat. Urlaub für Urlaub in all den Jahren, die wir dort als Familie getreulich hinreisen. Ein Bauernhof mit eigener Schlachtung. Wir wohnten in Fremdenzimmern, so nannte man die damals. Angeschlossen eine kleine Gastwirtschaft.
Den Geschmack des Essens dort habe ich immer noch auf der Zunge. Ich koche ihm hinterher. Der Salat kam aus dem eigenen Garten. Erst als ich irgendwann meinen Mietacker hatte, entdeckte ich die Salatsorte, die es damals gewesen sein muss: ein zarter, köstlich grün schmeckender Eisbergsalat mit fransigen Blättern, der nichts, aber auch gar nichts mit diesen geschmacksneutralen Wasserköpfen aus den Supermärkten zu tun hat.
Ich esse und erinnere mich an vergangene Speisen, an vergangene Zeiten.
Du bist, was du isst, sagt man. Essen ist Erinnerung. Ein Geschmack auf der Zunge vermag wie ein Geruch in der Nase Erinnerungen wecken. Manche sind schön, andere schmerzlich. Sie sind ein wesentlicher Teil dessen, was wir sind. Oder was wir zu sein glauben? Ich habe irgendwo gelesen, dass wir beim Erinnern unsere Erinnerungen so erzählen, dass sie dem Bild entsprechen, das wir von uns haben.
Die Welt auf dem Teller
Seit heute ist das neue Buch von Doris Dörrie in den Buchhandlungen: Die Welt auf dem Teller. Doris Dörrie schreibt darin über das Essen und Kochen, in ihrer Kindheit, auf ihren Reisen und aus ihrer Küche. Mit wenigen Sätzen vermag sie mich in den Bann zu ziehen.
Ich erinnere mich an die Schreibwerkstatt mit Doris Dörrie auf der letzten Buchmesse. Damals erschien ihre Einladung zum Schreiben: Leben Schreiben Atmen. Ungefähr 500 Menschen saßen dicht an dicht (heute kaum mehr vorstellbar) im Schauspielhaus Frankfurt, und eine der Aufgaben an uns lautete: Schreibe zehn Minuten lang und du beginnst mit „Ich erinnere mich an Essen in meiner Kindheit …“ Durch Doris Dörries selbstverständliche und menschliche Präsenz war die Atmosphäre so, dass ein Handmikro rumgehen konnte und einige Menschen erzählten, worüber sie geschrieben haben. Das war sehr berührend.
#LebenSchreibenAtmen: Begegnung mit mir selbst und der Welt. Darüber schrieb ich damals, kurz vor der Buchmesse. Und wie gut sich das neue Buch zum vorherigen fügt.
Essen verbindet.
Nicht nur, wenn man gemeinsam kocht oder zusammen am Tisch sitzt. Auch wenn man sich gegenseitig Geschichten vom Essen erzählt.
Ich freue mich, dass ich mich hier einstweilen im Rahmen einer bezahlten Kooperation mit dem Diogenes Verlag diesen Geschichten und dem Buch von Doris Dörrie hingeben darf.
Da möchte man direkt weiterlesen, liebe Wibke. Dem Geschmack hinterherkochen…so herrlich beschrieben. Nicht nur eine Koch- auch eine Schreib- und Empfindungskunst. Freue mich auf die weiteren Geschichten.
Lieber Damian, ich danke Dir! Und freue mich. 🙂