Ich setze den Stift an.
Ich lege die Finger auf die Tastatur.
Ich drücke mit meinem Finger den ersten Buchstaben in das Mobilgerät.
Ich schreibe.
Manchmal ist das Schreiben getragen von einer Idee, einer Botschaft, einer Erkenntnis, die in die Welt hinaus muss. Manchmal geschieht dies im Auftrag anderer. Manchmal ist es lediglich halblautes Nachdenken. Manchmal sind es Wörter oder Sätze anderer, die mich zum Schreiben bringen, drängen, geradezu zwingen, manchmal Dinge, wie damals die Stachelbeeren. Doch seit einer Weile dehne ich an Tagen im Heimbüro den Weg an den Schreibtisch über die drei Schritte über den Flur von Küche zu Arbeitszimmer aus und nehme einen Arbeitsweg hinaus durch die Wohnungstür, in mein Viertel, an den Strom und an der Hundewiese vorbei und durch den Rosengarten zurück. Am Schreibtisch angekommen setze ich mich hin und schreibe: Ich trete vor die Tür.
Ich schreibe auf, was auf diese Tat folgte, was ich sah, erlebte, im Inneren wie im Äußeren, der immergleiche Weg wie der Refrain eines vertrauten Liedes. Das Gehen und das Schreiben erleichtert mir den Übergang zwischen der Nacht- und der Tagwelt. Im Gehen sortiere ich mich, im Schreiben finde ich den Klang, den Rhythmus für den Tag.
Alles andere als Tagebuch
Tagebuch schrieb ich nie – oder nur kurz. Das Schreiben, ob digital oder mit der Hand, kam erst durch das Veröffentlichen im Internet, durch Twitter und durchs Bloggen, wieder zu mir zurück. Alles andere als ein Tagebuch, dessen Inhalte allein für mich bleiben.
Und nun lese ich. Über das Schreiben. Über das Schreiben, wie Doris Dörrie es lebt und erlebt. Sarah Royal aka Pinkfisch machte mich auf Dörries Schreibratgeber aufmerksam, der in diesen Tagen beim Diogenes Verlag erscheint: Leben. Schreiben. Atmen. – Eine Einladung zum Schreiben. Sarah wiederum und der Diogenes Verlag luden mich und einige andere Blogger*innen ein, uns mit Doris Dörries Anregungen auseinanderzusetzen. Eine Schreibnacht folgt am Ende dieser Woche (Link zu Facebook).
Ich lese also Doris Dörries Einladung zum Schreiben – und begegne mir selbst. Nach den ersten Seiten lege ich das Buch irritiert zur Seite. „Schreibend erforsche ich die Welt. Meine Welt. Was beeindruckt mich? Was merke ich mir? Was erschüttert mich? Was erheitert mich? Was begeistert mich? Woran erinnere ich mich?”, schreibt Doris Dörrie. Und weiter: „Schreibend erinnere ich mich an mich selbst. Was ist in meinem Gehirn an Bildern und Tönen gespeichert, was für Erinnerungen an Menschen, Orte, Tiere, Gefühle? Jeder von uns ist einzigartig. Niemand hat genau die gleichen Erinnerungen an dieselbe Begebenheit. Das ist doch verrückt! Unglaublich! Ich möchte es aufschreiben, bevor es wieder gelöscht wird. Jedes Detail. Alles, was ich gelesen habe, gehört, geschmeckt, ertastet, gerochen, gefühlt habe. Die Welt in mir als Echo und Inspiration. >Spirare< – atmen. Schreiben heißt, die Welt einatmen.”
Das Schreiben als Kitt
Ich fühle mich ertappt. Erwischt. Denn genau so fühlt sich für mich Schreiben an. Dieses Schreiben, das ich durchs Gehen und das darauffolgende Freilassen meiner Gedanken und dem innerlich Erlebten entdeckte. Und dann erwähnt sie noch die Einkaufszettel anderer, dieses (Auf-)Sammeln der Welt, die Verbindung mit der Welt durch das Nachspüren und Aufschreiben. Mich überläuft es heiß. Seltsam beschämt. Zugegebenermaßen erwische ich mich bei dem Gedanken, wie banal das doch klingt. Auf die kritischen, zerstörerischen Gedanken geht Doris Dörrie übrigens auch kurz ein. Ich lache. Und ich beschließe, ermutigt zu sein.
Indem ich mich erinnere, ob nun an eine Begebenheit vor langer Zeit oder eine vor wenigen Momenten, und darüber schreibe, verbinde ich mich mit der Welt. Vielleicht ist es von Kindheit an immer dieselbe Frage, die mich treibt: Wo ist mein Platz in dieser Welt? Was bedeutet sie mir, was bedeute ich ihr? Was genau machen wir da eigentlich miteinander? Durch das Schreiben über Erlebtes, Erfühltes, Erdachtes schaffe und erhalte ich mir meine Sicht auf die Welt. Ich lege sie zu dem Erlesenen, Gesehenen und Überlieferten anderer und kann sie miteinander vergleichen. Es ist eine stete Auseinandersetzung mit mir selbst, den anderen und der Welt, die zulässt, dass ich hinzulerne, ohne mir zu entgleiten. Das Schreiben ist der Kitt zwischen mir selbst und der Welt.
Das Hin und Her des Besens
Just in diesem Moment höre ich durch das weit geöffnete Fenster jemanden fegen. Ein ruhiger Rhythmus, unverkennbar. Ich erinnere mich an die Kämpfe als Kind mit dem viel zu langen Besenstiel, die Füße immer im Weg, die Blätter und das Gras wie eine wildgewordene Ponyherde, die sich meinem Fegen trotzig widersetzte. Mit acht dann das erste Mal zwei Wochen lang auf dem Ponyhof, auf dem viel und ohne Unterlass gefegt wurde: Die Stallgassen, der Hof, die Wege, morgens, mittags, abends, die Blasen an den Händen wichen Schwielen und der Rhythmus des Fegens wurde zum Takt des Atmens. Oder war es umgekehrt?
Im Fegen kehrte Ruhe ein. Seitdem, in all den Jahren, fegte ich viele Stallgassen und Höfe, lernte die einen Besen zu schätzen, die anderen zu verfluchen, und fand im Fegen Zuflucht. Wer fegt, hat zu tun, ist nicht abrufbar, man ist für sich und kann im Hin und Her des Besens seinen Gedanken nachhängen. Auf meinen Handflächen kann ich exakt auf die Stellen weisen, an denen die Blasen erscheinen werden. Und später die Schwielen, die mich eine Hand ernstnehmen lässt. Nachdenklich fühle ich über meinen weichen Handflächen. Ich sollte mal wieder … Das Fegen vorm Fenster stoppt und katapultiert mich ins Jetzt.
Leben.
Schreiben.
Atmen.
Zum Buch und über die Einladung zum Schreiben, der Schreibnacht und der Möglichkeit durch ein Gewinnspiel, an einer Schreibwerkstatt mit Dors Dörrie teilzunehmen, lest Ihr alles bei Sarah Royal: #LebenSchreibenAtmen von Doris Dörrie – Wir laden euch zum Schreiben ein!
+++ Hinweis: Ein Exemplar des Buches wurde mir vom Diogenes Verlag zur Verfügung gestellt. +++
NACHTRAG: In der ersten Version dieses Textes verwendete ich das Hashtag #LesenSchreibenAtmen. Nun ja, Lesen. Leben. Das kann man wohl mal verwechseln! 😀
Liebe Wibke,
danke für deine Besprechung. Das hört sich nach einem Buch an, das ich gerne verschenken will. Hab da sofort jemanden im Kopf, die ich damit anregen will, sich wieder mit dem Schreiben zu beschäftigen. Nein, ich meine nicht mich selbst! Obwohl das Buch auch etwas für mich sein könnte.
Ich mag dein Schreiben sehr, vor allem die Gänge ins Büro. Und die allmählich Verfestigung der Gedanken … ich sehe das Schreiben auch genau so, immer einen Impuls aufnehmend. Und dann kommt einfach auch die Liebe zur Sprache, zu den Worten hinzu. Denn Aufzählen und Berichten kann jeder. Schreiben will eben auch gelernt sein. Aber jeder kann es lernen und sich da auch verbessern. Ich liebe ja bekanntermaßen Schreibrezepte jeglicher Art. Es hilft mir zumindest, diese kleinen Trainingseinheiten in meinem Alltag einzubauen.
In diesem Sinne …
Ganz herzliche Grüße von Anke
Liebe Anke,
danke Dir für Deine Worte. Das ist bestimmt ein schönes Geschenk. Gerade, weil sich Doris Dörrie sehr persönlich mitteilt und dadurch einen vertrauensvollen Raum schafft, in dem man sich selbst zulassen kann. Und Letzteres – das scheint mir doch das Schreiben überhaupt erst zu ermöglichen, also das Schreiben, das Verbindung ermöglicht. Und gerade freue ich mich sehr darüber, dass das Schreiben uns miteinander verbindet. Denn mir geht es ganz ähnlich, wenn ich Deine Texte lese: Ich fühle mich gemeint, da spricht ein Mensch, ein Mensch, der erlebt, fühlt, denkt. Und dann macht es einfach Freude, mich von Deinen Sprachbildern und Wortschätzen mitnehmen zu lassen, wohin auch immer.
Sehr herzlich, Wibke