Ich trete vor die Tür.
Ein kühler Morgen, goldenes Licht. Morgens Stiefel, mittags Flip-Flops. Seit einigen Tage riecht es nach Herbst. Dieser leicht modrige Geruch nach beginnendem Verfall, ein wenig pilzig und fruchtig im Abgang. Seit heute ist nun offiziell Herbst. In den von anhaltender Trockenheit gezeichneten Laubbäumen sieht man hier und da in der Sonne gülden leuchtende Blätter. Herbstsonne. Was fehlt, was schon lange fehlt, ist Regen.
„Eines Morgens riechst du den Herbst. Es ist noch nicht kalt; es ist nicht windig; es hat sich eigentlich gar nichts geändert – und doch alles.“ Kurt Tucholsky
Steifbeinig begebe ich mich auf meinen Weg ins Heimbüro. Mich plagt Muskelkater. Vorgestern wanderte ich nach längerer Zeit ein paar Kilometer vom Rhein ins Hinterland, über Wiesen, Felder, Wälder und an Äckern entlang. Zuletzt bin ich Anfang Juli gewandert, musste aber einsehen, dass mein damals lädiertes Knie Zu-Fuß-Dinge einstweilen nicht goutiert. Nach der Radreise war es aus anderen Gründen noch eine Weile knatschig. Aber nun geht es wieder, ich gehe wieder, wie schön. Aber natürlich: Muskelkater. Ein paar Höhenmeter mussten es sein, um zu probieren, ob ich denn wieder Wanderpläne machen kann. Ich kann. Gegen Muskelkater hilft ohnehin nur, sich zu bewegen. Wohlan. Ich wanke los. Au, autsch, aua!
Die Schatten werden länger.
An den Wegesrändern ein Sofa, ein Kühlschrank, ein Stuhl und ein Bügelbrett. Da scheint ein Malheur passiert zu sein: Im Bezug des Bügelbretts prangt ein schwarzes Loch. Angesichts der Altbauten ringsum können die Nachbarn vielleicht nur ahnen, dass sie irgendwann in der Vergangenheit mächtig Glück hatten.
Auf der Bank eine Lektüreempfehlung. Klaus Bednarz über seine Reise vom Baikal nach Alaska. Was macht eigentlich … oh, ich lese, dass Klaus Bednarz vor fünf Jahren gestorben ist. Ich kenne ihn noch als Moderator von Monitor, sah aber damals auch gern die Dokumentationen von ihm. Den Bildband lasse ich dennoch liegen. Man kommt momentan ohnehin schon wieder kaum mehr in die Wohnung vor lauter Bücher.
Am Anleger alles ruhig. Möwen in der Morgensonne wie kleine Skulpturen.
Allerlei Wunderliches finde ich auf meinem Weg durchs Agnesviertel.
In einem der Bäume am Rheinufer hat offenbar eine Wollmeise ihr Nest gebaut. Eine Schale, vielleicht ein Wandteller, aus einem innerlich immer ferneren Land, daneben eine Tasche mit Tweedmuster. Wandteller. Hängt man sich tatsächlich immer noch so etwas in die Wohnung? Womöglich ironisch, doch dann hängt es da und man muss es sich jeden Tag aufs Neue ansehen, ganz unironisch. So, wie man Trash-TV wahrhaftig guckt, selbst wenn es ironisch gemeint ist, und so, wie man bei einer Wahl seine Stimme vergibt, wenn man protestwählt. Es zählt, was man tut, nicht immer, wie man es gemeint hat.
Was sie tun, zählt auf jeden Fall: Die Kanalarbeiter stehen mit ernsten Mienen und gewichtigen Gesten um geöffnete Kanalschächte herum. Die Stadt stinkt seit Wochen. Es fehlt an Wasser. In dieser Straße fehlt es sogar sehr, denn ein Unternehmen zog weg, viele Häuser stehen nun leer und niemand spült, niemand zieht ab, die Leitungen fallen trocken. Um die geplanten Neubauten in dieser Straße ist übrigens Streit entbrannt.
Ich lasse die Herren in ihrem Tun zurück.
Ich quere eine der Haupteinfallstraßen von Köln, vielbefahren, der Geschmack auf der Zunge sauer. Doch der wilde Mohn hält sich wacker und schmückt den Unort. Dazu passend die Plakate, die allerorten im öffentlichen Raum auf den nächsten globalen Klimastreik aufmerksam machen. Vor einem Jahr waren allein in Deutschland 1,4 Millionen Menschen auf der Straße, um die Politik zum raschen Handeln in Sachen Klimaschutz aufzufordern. Weltweit waren es Millionen Menschen, die am Global Climate Strike teilnahmen. Ohne Fridays For Future wäre das nicht möglich gewesen. Eine starke Initiative, für die ich dankbar bin.
Die Klimakatastrophe ist durch die Pandemie ins Hintertreffen geraten, doch die sichtbaren Zeichen für die Notwendigkeit zu handeln, dürfte kaum mehr jemand übersehen können: sterbende Fichten- und Buchenwälder, versandende Böden, Waldbrände, trockenfallende Brunnen, Ernteausfälle. Mir erschließt sich nicht recht, wie Menschen glauben können, sie seien nicht davon betroffen. Köln hat in Deutschland die meisten SUVs, ich lese mit Staunen, wie Kolleginnen von ihren Flugreisen berichten und unser Verkehrsminister ist am wichtigsten, dass die Verbrenner vom Hof kommen.
Doch vielleicht ist es ein Leben, das ich mir gar nicht vorstellen kann, aus dem klimatisierten Einfamilienhaus durch die klimatisierte Garage in eins der klimatisierten Autos, damit in die klimatisierte Tiefgarage und mit Aufzug ins klimatisierte Büro und zurück. Womöglich glaubt man dann wirklich eines Tages, die Natur da draußen sei nur als Kulisse für komfortable Urlaube da, und Umweltschutz sei etwas für diese komischen und nervtötenden „Schulschwänzerinnen”, Radfahrer und „grüne Ökos”. Entfremdung. Dazu gab es in der letzten Zeit einige bemerkenswerte Radiosendungen, etwa diese hier.
Die Kreidezeit wird vermutlich demnächst mit dem ersten Regen enden. Ich finde ein Krankenhaus vor, aber man lächelt, da ist hoffentlich jemand gesund geworden.
Regen! Bei Twitter hat sich jüngst ein Regenmuseum gegründet, eine einzige Ode an das Nass von oben, ich bin entzückt. Regen und Sonne, beides so wichtig. Eins geht nicht ohne das andere. Doch am Regen fehlt es. Ich sehne Spaziergänge im Regen herbei, den Regen vorm Fenster, am Morgen und beim Einschlafen. Den sanften und stetigen Landregen über zwei, drei Tage, der so selten geworden ist.
Und während ich Regentänze niemandem zumuten möchte, suche ich nach Regenpfützen in der Literatur, nach Regengedichten, und ich stoße auf ein Gedicht von Selma Meerbaum-Eisinger. Mir sagt der Name nichts und ich lese in Wikipedia nach, dass sie eine deutschsprachige rumänische Dichterin war und nur achtzehn Jahre alt wurde. Gestorben an Fleckfieber in einem Zwangsarbeitslager der SS. Selma Meerbaum-Eisinger konnte vor ihrer Deportation einem Bekannten ihr Album mit 57 Gedichten zustecken. Es lohnt sich, den Beitrag zu lesen. Es gibt auch eine in die Jahre gekommene Website über sie. Wieder einmal wird einem bewusst, welches Leid Menschen zugefügt wurde. Und wieviel verloren ging.
Regen
Du gehst. Und der Asphalt ist plötzlich naß
und plötzlich ist das Grün der Bäume neu
und ein Geruch wie von ganz frischem Heu
schlägt dir in dein Gesicht, das heiß und blaß
auf diesen Regen wohl gewartet hat.Die Gräser, welche staubig, müd und matt
sich bis zur Erde haben hingebeugt,
sehen beglückt die Schwalbe, welche nahe fleugt,
und scheinen plötzlich stolz zu sein.Du aber gehst. Gehst einsam und allein
und weißt nicht, sollst du lachen oder weinen.Und hier und da sind Sonnenstrahlen, welche scheinen,
als ginge sie der Regen gar nichts an.Mai 1940
Eine Sammlung ihrer Gedichte wurde 2005 vom Verlag Hoffmann &Campe veröffentlicht. Es scheint noch lieferbar zu sein.
Ich sitze längst wieder am Schreibtisch.
Es ist später Nachmittag. Es sind rasche Tage, in mir Beunruhigung über steigende Infektionszahlen, Ärger und Sorge, die Arbeit seltsam zäh. Doch morgen ist ein neuer Tag, meint Scarlett. In einer anderen Übersetzung heißt es: Darüber will ich morgen nachdenken. Ein Satz, ein Leben zwischen Hoffnung und Prokrastination.