Lesen, ey. Eine wilde und wunderbare Sache, unerklärlich im Grunde, was beim Lesen mit einem passiert. Ohne wäre diese Welt nicht meine Welt, so viel ist sicher. Ohne Lesen wäre aber auch ich eine andere in der Welt.
Das notierte ich in diesem Jahr, als ich ein paar Sachbücher aus dem Buchregal sammelte, um ein Foto zu machen. Ganz klar ist: Ohne Bücher keine Wibke. Von Kindheit an und bis ans Ende aller Tage. Die Bücher in der Hand, in Stapeln neben dem Bett, der Ausblick beim Aufwachen. Gegenstände, die mithilfe dieser wunderlichen Kulturtechnik Lesen zum Leben erwachen. Wie viel mir Bücher und das Lesen bedeuten, ist mir in diesem Jahr einmal mehr bewusst geworden.
Ich habe mich dem Lieblingsbuchladen an den Hals geworfen und er hat mich zurückumarmt. Nun bin ich dort nicht mehr nur Digitalfee, sondern stundenweise auch in meinem erlernten Beruf der Buchhändlerin zugange. Ich liebe es sehr. Das alles ist natürlich eine Finte, um noch mehr Zeit an diesem Ort zu verbringen und mit Menschen über Bücher sprechen zu können. Es hört nicht auf, dass ich mich irrsinnig freue, wenn jemand besonders gemochte Bücher kauft. Nein, keine Sorge, meistens wird’s nicht peinlich, ich bin in der Lage, mich auch innerlich zu freuen. Und verkaufe auch Bücher, die nicht meine Lieblinge sind, ich bin ja eine Professionelle, ne?
Das Lesen und der Tod
Lesen kann man ohnehin nicht alles, deshalb sind die Gespräche im Buchladen über Bücher so wertvoll, aber auch die in diesem Internet. Und so kommt man auf Bücher, auf Autor*innen, auf Verlage, die man vielleicht vorher nicht so im Blick hatte. Im Buchhandel sind immer ganz wichtig die Leseexemplare, denn was da ist, wird mitgenommen und gelesen, das ist eine recht einleuchtende Angelegenheit. So fiel mir auch damals „Die Infantin trägt den Scheitel links“ von Helena Adler in die Hände.
Es war sicher eine der traurigsten Nachrichten gleich zu Beginn von 2024: Helena Adler ist gestorben. Sie hinterlässt ein schmales, außergewöhnliches Werk. Ich erinnere mich gut, wie unsicher ich war, als ich das Leseexemplar damals gelesen hatte und komplett aus dem Häuschen war. Ich traute meinem Urteil nicht und äußerte mich im Buchladen vorsichtig positiv. Als es dann ruckzuck nach Erscheinen für Furore sorgte, freute mich das sehr für dieses brutal schöne Buch und diese bemerkenswerte Autorin. Nach ihrem Tod erschien mit Misere ein Band mit drei letzten Texten, darunter der, mit dem sie eigentlich beim Bachmannwettbewerb hätte lesen wollen.
Alle ihre Bücher stehen für sich. Sie schrieb förmlich um ihr Leben, mit Wucht und Witz und tiefschwarz leuchtender Sprache. Es ist eine Tragödie, dass sie nur 40 Jahre alt werden durfte. Wer mit ihr in Kontakt stand, weiß, was für ein großer Verlust ihr Tod in jedweder Hinsicht ist.
Man sucht sich nicht aus, um wen man trauert. Und es ist eigenartig, dass ich derart berührt war von dem Tod eines Menschen, mit dem ich im digitalen Dorf zwar hin und wieder einen Schwatz über den Gartenzaun hielt, aber dem ich mich nie jenseits des Digitalen traf. Nähe ist möglich, auch wenn man sich physisch fern ist. Und sie hatte die Gabe, andere mit ihrer Kunst zu berühren. Das vermag auch Jo Frank, Schriftsteller, Verleger und Übersetzer, doch ihn kenne ich auch außerhalb des Internets schon seit nunmehr zwölf Jahren (glaube ich?). Sein Essay TRAUER hatte mich zwar schon vorher erreicht, aber ich schlich drumherum, wohlwissend, dass ich – naja, ich drückte mich irgendwie, doch Anfang dieses Jahres las ich dann. Alles, was Jo schreibt und tut, trägt Poesie in sich – und eine Dunkelheit, die mal scharfe Klinge ist, mal weicher Samt.
Beide Menschen und ihre Bücher passen nicht in die Dokumentation des Jahres. Sie stehen für sich.
Januar
Das Jahr begannen wir in Cuxhaven, wo wir ein paar sehr entspannte Tage hatten. Lesen, Essen, Schlafen, Radfahren, Herumlaufen, Schiffe gucken. Schön. In Köln gab’s Schnee und das war Anlass genug, um im Podcast über die weiße Pracht zu sprechen. Und Musik mit dem RMS JazzOrchester bei Osters Rudi und Konzert in der Philharmonie.
Ein Ausflug führte mich zum fabelhaften Haus Bollheim, einem beeindruckenden landwirtschaftlichen Betrieb mit sinnstiftender Kreislaufwirtschaft, einem spürbar gutem Miteinander und gelebter Biodiversität, die sich an den vielen Strukturen am Hof selbst und in der Umgebung ablesen lässt. Die reiche Vielfalt sorgt für mehr Stabilität im Klimawandel mit extremem Wettererscheinungen – und für stabile Arbeitsverhältnisse. Ein guter Ort für Mensch und Tier. Landwirtschaft MIT der Natur und nicht dagegen. Donnerstags auf dem Markt meine Anlaufstelle für Gemüse, Pilze, Obst, Eier und Käse – und zwischenzeitlich erprobte ich mich in diesem Jahr als Makrtfrau. Eine gute Erfahrung, wenn auch kein Job auf Dauer daraus wurde.
Kristine Bilkau, Nebenan
Es war Zufall, dass ich in einer Buchhandlung in Cuxhaven zu „Nebenan“ von Kristine Bilkau gegriffen habe. Nun werde ich ihre anderen Bücher lesen müssen. 2025 erscheint ein neues Buch von ihr. Ich freue mich darauf!
Kristine Bilkau erzählt von Frauen (und ein wenig auch von Männern) verschiedener Generationen und Lebenssituationen, die durch das eigenartige Verschwinden einer Familie, aber auch durch das Verschwinden von Leben in der nahen Kreisstadt zusammengeführt werden. Sie leben in einem Dorf am Nord-Ostsee-Kanal leben, der zwar Nordsee und Ostsee miteinander verbinden, aber in der Gegend selbst ein brutaler Riss ist. Eine kleine Fähre schippert Menschen bei Bedarf hin oder her. Nur ganz am Rande kommt diese Fähre vor, aber sie scheint mir für die Augenblicke des Kontakts zwischen den Menschen zu stehen, die zwar in Nachbarschaft, Freundschaft oder Verwandtschaft verbunden sind, sich aber selten erreichen.
Leerstände, Leerräume, Leerstellen – und das Leben dazwischen und mit ihnen. Vieles wird nur angetippt und im Weggelassenen ergänzt man selbst (mitunter trügerische) Zusammenhänge. Unscheinbar fühlte es sich an, dieses schmale Taschenbuch, als ich es in der Buchhandlung in die Hand nahm. Ein großes Buch, weiß ich nun.
Jaap Robben, Konturen eines Lebens
Berührendund gut erzählt. Eine alte Frau wird im Pflegeheim von ihrer Geschichte eingeholt. Als unverheiratete junge Frau wurde sie wie viele in der Zeit ungewollt schwanger – in den 1960er vor Pille und sexueller Revolution. Das große Schweigen, Vertuschen und Verachten, das ein Leben lang sein Gift verströmt.
Dass Jaap Robben strikt aus der Perspektive von Frieda, Elfrieda, Ida erzählt, mochte ich sehr. Und vor allem auch die Entwicklung zwischen Frieda und ihrem Sohn. Beider Leben wird durcheinandergewürfelt durch einen plötzlichen Tod und Friedas notwendigen Umzug ins Pflegeheim. Allein die Geschichte der Beziehung zwischen diesen Beiden lohnt das Lesen.
Ich schätze die Güte und die Freundlichkeit im Erzählen von Jaap Robben. Beschönigt wird nichts, aber dennoch liegt Trost darin. Ich bin heilfroh, dass wir zumindest in weiten Teilen unserer Gesellschaft inzwischen weiter sind. Sehen wir zu, dass es nicht nur so bleibt, sondern alle Menschen weniger Angst haben müssen.
Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann.
Februar
Der Februar ist stets eine Herausforderung. Der kurze Monat kommt mir beinahe doppelt so lange vor wie der ohnehin schon zähe Januar. Jeder Tag zählt, ohne Frage, aber diese Zeit hat ihre Längen. Der Garten mildert die Wintermüdigkeit etwas, das Lesen ohnehin. In der Küche ist der Februar die berühmte Saure-Gurken-Zeit. Gedanken an die Zeit, wenn es wieder Grünes aus der Region gibt. Und aus dem Garten. Dort wuchs indes schon Wald-Schaumkraut heran, das ich als essbar und überaus köstlich entdeckte.
Annalena MacAfee, Zeilenkrieg
„Sie hatte sich stets auf das Nötigste beschränkt, in der Liebe wie im Leben. Mehr als Handgepäck war nicht drin.“
Ich mochte ja Annalena MacAfees „Zurück nach Fascaray“ sehr, insbesondere wegen der Schilderungen dieser rauen Insel in Schottland (die Menschen störten ein bisschen). Ihren Debütroman: „Zeilenkrieg“, aus dem Englischen von Pociao, habe ich irgendwann abgebrochen. Selbst wenn ich den Anfang sehr mochte: Zwei Journalistinnen treffen aufeinander, die eine 80, die andere keine 30. Ein Sittenbild der Medienwelt kurz vorm letzten Jahrtausendwechsel. Doch als die Figuren eingeführt waren, wurde es zäh. Es schlicht sich ein lästernder Ton ein, der mich ermüdete.
Jo Frank, Trauer
„Trauer.
Trauer greift in mich hinein und sticht.
Nothing now can ever come to any good.“
Lange umkreiste ich dieses Buch. Furchtsam. Es schmiegt sich mit dem warmen, rauen, schmiegsamen Karton vertraulich in meine Hand. Eher ein Heft als ein Buch, leicht wiegt es und doch weiß ich: Der Inhalt ist es nicht. Wenn Jo Frank schreibt, liegt meine innere Haut draußen und das Herz als rohes, hämmerndes Fleisch in meiner Hand.
Trauer.
Von Trauer sprechen?
„Sprechen, wenn keine Laute Mund verlassen, wenn keine Worte hinter Stirnstein greifbar.“
Es gibt keinen Trost. Trauer ist. Körperlich. Gedichte können Komplizenschaft bieten. Der Essay von Jo ist es, ein Verbündeter, Verbundenheit, Verwundetheit. Tief greift er in meine unausgesprochene, unausgedachte Trauer. Nicht überwinden. Verbinden. Sich mit ihr. Die Worte mit dem Körper.
Danke, Jo. Abermals.
Erschienen im immens geschätzten Verlagshaus Berlin in der feinen Edition Poeticon, in der noch weitere fabulöse Essays erschienen sind. Falls irgendjemand mal nach einem Geschenk für mich sucht: Das Lyrik-Abo.
März
März, für mich der wahre Wonnemonat, der Monat des Wechselvollen, der Gemüsesuppen und des Frühlingsanfangs. Es wird grün – zumindest in Köln. Mehr Licht, Vogelkonzerte, auf den Feldern im Umland wachsen Radieschen und Spinat heran. Gut gelesen, gut gespeist, gut zu tun. Zwischendurch ein Ausflug in die Hauptstadt des quicklebendigen Nebeneinanders von Alt und Neu: Lüttich.
Mely Kiyak, Dieser Garten
Was für ein Glücksfall, was für ein Juwel der Gartenliteratur: „Dieser Garten“. Mely Kiyak erzählt von den erfindungsreichen, umtriebigen Nonnen der Abtei Fulda, die Pionierarbeit im ökologischen Gärtnern betrieben haben. Zugleich ein feministisches Manifest und bemerkenswertes Stück Nachkriegsgeschichte. Was für einen Unternehmerinnengeist die Damen hatten (und haben).
Landete auch als eine meiner Empfehlungen im diesjährigen Weihnachtsprospekt des Buchladens.
Die Schriften der Abtei Fulda sind ja auch fester Bestandteil in unserer wachsenden Gartenbibliothek.
Elizabeth Strout, Am Meer.
Die Enttäuschung des Jahres. Elizabeth Strout geleitete mich bislang zuverlässig aus jeder Leseflaute. Selbst wenn ich ihre Lucy Barton überhaupt nicht leiden kann – auch nicht im vierten Buch mit ihr. Aber das spielt gar keine keine Rolle. Strout schreibt so fabelhaft. Soweit meine Vorschußlorbeeren damals. Und dann fand ich eine schrecklich larmoyante Geschichte vor. Strout scheint ihr Schreib-Mojo verloren zu haben. Ich fürchte, auch mich als Leserin.
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Roth.
Rüdiger Bertram, Hummer to go
Mit Rüdiger ging es in die Bretagne. Wetter, Hummer, Liebe und Ringelpullis – ich moderierte die Lesung in Buchladen. Mit Humor tue ich mich bekanntlich schwer. Man kann mir nicht gut Witze erzählen und ich blicke skeptisch auf Bücher, Filme und Musik, die ich witzig finden soll. Rüdiger Humor hingegen erreicht mich, das stelle ich auch bei seinen Kinderbüchern fest. Er lässt genügend Raum, damit sich ein Prusten von innen heraus entwickeln kann.
Rüdiger lässt seinem Personal ihre Würde und man lacht mit ihm, nicht über es. Seine Liebeskomödie in der Bretagne machte mir beim Lesen einfach gute Laune. Rüdiger selbst ja sowieso, er ist einfach ein feiner Mensch und Autor, Und so war es auch ein schöner und lustiger Abend mit Frankreichweh. Und Cidre. Cin cin!
April
Im April
Der „richtige“ Frühlingsmonat – zumindest in Köln Apfelblüte = Vollfrühling laut phänologischem Kalender. Und im geschützten Hinterhof blühte die Kastanie. Der April zog so dahin und Sorgen machten, dass ich nur am Rande mitbekam, dass die Welt um mich herum bunter wurde. Manches davon machte der Frost wieder fahl und knusprig. Doch das Leben ließ sich nicht lange aufhalten und dann waren auch die Sorgen ausgeräumt.
Lou Zucker, Eine Frau geht einen trinken. Alleine.
Mit Originaldruckgraphiken und beiliegendem Plakat von Josephin Ritschel. Die Hefte aus dem maro Verlag sind allesamt empfehlenswert. Fantastisch und mit Liebe gemacht, unbequem, inspirierend. Hier das Heft fordert die Nacht auch für Frauen. Alleine in die Kneipe – mancherorts undenkbar. Habe ich früher immer gern gemacht, aber man sammelt schon recht unterschiedliche Erfahrungen. Reclaim the Night! Lou Zucker über das Patriarchat im Dunkeln. Maro-Hefte kann man auch abonnieren. (Falls nach dem Lyrik-Abo noch jemand nach einem Geschenk für mich sucht – haha!)
Gilles Clément, Gärten, Landschaft und das Genie der Natur
Inspiriert durch einen Radiobeitrag über Gartenkunst besorgte Arthur unter anderem dieses Bändchen des französischen Gartenbau-Ingenieurs und Gärtners, das ich gern gelesen habe. Gilles Clément hat unter anderem den schönen Park André Citroen in Paris entworfen, in dem ich mich sehr wohl gefühlt habe. Wer einen Garten anlegt, entwirft sein Wunschbild der Welt. Und so geht es um ein Miteinander im und mit dem Garten, um ein ökologischeres Bewusstsein beim Gärtnern.
Mai
Der Mai ist ein einziger überwältigender Frühlingsrausch. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen mir dieser Ausbruch von Farben und Diesonnescheintdumusstraus aufs Gemüt schlug. Zu gern hätte ich mich weiter im Dunkel des Tages verborgen, in den Geschichten von anderen lesend. Dann änderte ich alles und nun gehört der Mai zu einem von zwölf Lieblingsmonaten, nun ja, wobei, der Mai, diese prallgefüllte Wucht von einem Monat, ist mir doch deutlich lieber als Januar und Februar. Zumal es im Mai erneut in die Wallonie ging, jippie! Ich wurde auf dem Rad so nass wie selten zuvor. Und wie sich im Laufe des Jahres herausstellte, sollte noch viel Regen folgen.
Jacqueline Kornmüller/Kat Menschik, Das Haus verlassen
„Die nicht, sagte das Haus. Okay, sagte ich.“
Das Haus verlassen, das will die Erzählerin in diesem Buch. Sie will es verkaufen, dieses alte, eigenwillige Haus, mit dem sie in beredter Zwiesprache steht. Hier wohnt nicht nur jemand, hier lebt jemand. Und in diesem Leben entstehen Verbindungen, ob zum Garten (oh ja), zur Gegend (schön), zu den Nachbarn (schwierig). Wie will man wohnen, wie leben – wo leben?
Hier vielleicht nicht mehr. Und so schaltet die Erzählerin eine Anzeige. Es kommen Menschen, um das Haus zu besichtigen. Und manche, um das Leben darin zu besichtigen. Das Haus bleibt nicht stumm, selbst wenn sich das nicht allen Menschen, die es betreten, erschließt. Ein großer Text von Jacqueline Kornmüller in einem kleinen Buch, das durch die Illustrationen von Kat Menschik zu einem wundervollen Kleinod wird.
Ein wenig irritiert der Goldschnitt, der mich ein wenig ans Gotteslob erinnert. Aber prompt empfahl ich es auch für den Weihnachtsprospekt des Buchladens, denn es ist durch und durch ein Kleinod.
Felicitas Prokopetz, Wir sitzen im Dickicht und weinen
Als ich von dieser Geschichte hörte, merkte ich auf. Mehrere Generationen Frauen, miteinander als Mütter und Töchter verstrickt. Verschiedene Lebensentwürfe und der oft eigenartige Bruch zwischen Selbstbild und Fremdbild. Aber wirklich zünden wollte es dann nicht. Es gibt diese Bücher, bei denen die Konstruktion wie bei einem mit zu dünnem Papier bespannten Holzflugzeug durchscheint. Mich lenkt das ab, denn ich frage mich die ganze Zeit, ob die Hülle reißen wird.
So ganz verstanden habe ich auch nicht, warum zwischendurch Dialekt mit rein muss, der dann in Fußnoten übersetzt wird. Dafür spielte Sprache eine zu geringe Rolle, selbst wenn sie ein interessanter Aspekt für Klasse und Herkunft hätte sein können. Das blieb mir aber zu ungefähr. Ich kam auch mit den Figuren durcheinander, den Charlottes, Christinas und Marthas, ihren Männern.
Vielleicht hätte das Buch noch ein bisschen Zeit gebraucht. Was aber passierte: Ich dachte nochmal intensiver über die Leben der Frauen nach, die in den Generationen vor mir lebten und leben. Und ihre Bedingungen, unter denen sie Kind waren und heranwuchsen, ihr Leben wählten – oder deren Leben für sie gewählt wurde. Und das ist doch etwas, was für dieses Buch spricht.
Scott Alexander Howard, Das andere Tal
Ein Buch, das leider etwas unter ging im Handel und dadurch auch bei den Leser*innen. Was schade ist, denn der Roman ist außergewöhnlich. Eine Geschichte mit fantastischen Elementen und einem faszinierenden Gedankenspiel. Sie zieht einen sofort in ihren Bann: Täler, die nebeneinander liegen und einander aufs Haar gleichen. Doch sie sind um zwanzig Jahre zeitversetzt. Die Grenzen passieren darf man nur mit Genehmigung, etwa im Trauerfall. Wir lernen Odile kennen, die eine Entscheidung treffen muss.
Ja, es ist im letzten Drittel nicht ganz rund und auch das Ende – aber es ist ein tolles Debüt des kanadischen Autors. Ins Deutsche übersetzt von Anke Caroline Burger.
Juni
„Und Schlag auf Schlag!
Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!“
Der Juni war zumeist im vom Sturmwind wehenden Regen-Poncho unterwegs, was auch unseren Urlaub ein wenig anders machte als geplant: weniger Radreise, mehr Herumlümmeln. Ein paar Sommertage gab es aber für uns und zum Lesen kam ich auch.
Saša Stanišić, Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
„Dass die Zeit stehengeblieben war, hatte Dilek lange gar nicht mitbekommen, und das ärgerte sie im Nachhinein. Weil, wenn die Zeit schon mal stehenbleibt, dann willst du das ja effektiv nutzen, statt weiter das zu tun, was du bei normal laufender Zeit getan hättest, Heizung abzustauben, jetzt Dilek konkret.“
Das neue Buch von Saša Stanišić macht mit seinen ganz eigenen Sound und seinem freundlichen, aber ganz sicher nicht anbiedernden Ton viel Freude. „Mir kann er ja alles erzählen“, sage ich immer. Mit jedem Buch wird Saša besser. Dieses hier, ein Buch über Entscheidungen, Erwartungen, Hoffnung und die Kunst zu leben, habe ich in diesem Jahr oft empfohlen und werde das weiterhin tun.
Richard Osman, Der Donnerstagsmordclub
Ferienlektüre aus dem Fundus in der Ferienunterkunft. Längst ein Bestseller mit Folgebänden und vermutlich habt Ihr es alle längst gelesen. Vergnüglich, von einer leicht betulichen, aber schönen Warmherzigkeit, raffiniert, doch nicht allzu komplex. Ein sehr englischer Kriminalroman in der Tradition von Agatha Christie. Ich fühlte mich gut unterhalten. Vom Donnerstagsmordclub habe ich später im Jahr noch den zweiten Band gelesen.
Géraldine Dalban Moreynas, An Liebe stirbst du nicht
Flotte Lektüre zwischendurch, auch aus dem Fundus in der Ferienunterkunft. Ein Buch wie ein französischer Film. Alle betucht, jung, sexy, gesund, schön und überwältigt von Leidenschaft. Liebe als Deko-Artikel. Mich lässt sowas dann doch ziemlich kalt. Aus dem Französischen von Sina De Malafosse
Mariana Leky, Kummer aller Art
Ich liebe den Sound von Mariana Leky. Dieses hier, eine Sammlung ihrer Kolumnen, hatte ich schon als Hörbuch gehört. Kann aber alle ihre Bücher jederzeit immer wieder lesen und hören. Und so war mir der Fund in der Ferienunterkunft höchst willkommen.
Juli
Dieser Monat ist Fachmann für Sommerangelegenheiten. Den Garten finden wir nach unserem Urlaub im Juni außer Rand und Band vor – himmlisch schön! Die Stadt ist ferienleer, die Gemüsebeete locken mit reicher Ernte, die Tage sind im Nu vorbei.
Sarah Winmans, Das Fenster zur Welt
„Ja. Diese schrillen Schreie, das sind Mauersegler.“ Sie lehnte sich zurück, wobei sie ein fürchterliches Geräusch von sich gab, das nicht im Geringsten nach dem Schrei eines Mauerseglers klang. Nachdem zwei ganz unterschiedlich lesende Buchladenkolleginnen mir von Sarah Winmans „Das Fenster zur Welt“ erzählten und das Leseexemplar frei wurde, lese ich es. Das Buch ist eine Hommage an E.M. Forsters „Zimmer mit Aussicht“. Die ersten 50 Seiten nahmen mich sehr fürs Buch ein. Seltsam, aber schön altmodisch, bedient meine Vorlieben – ich betrachtete mein Vergnügen daran mit leisem Misstrauen. Will mich die Autorin zu sehr in vertraute Gefilde entführen?
Zack. Das Buch verliert mich mit verblüffender Geschwindigkeit. Das Buch verpufft von Seite zu Seite. Sagenhaft. Woran liegt es? Die Autorin öffnete mit drei grandiosen Figuren, die aufeinandertrafen. Wow. Darin lag das Versprechen auf eine große Geschichte. Spannung. Knistern auf allen Ebenen.
Aber dann. Eine Figur tot (ey?), eine erstmal raus, die andere ergeht sich in erschöpfenden Nichtigkeiten. Schade. Das werde ich abbrechen – und vorher das noch das Ende lesen. Da kommt nämlich wieder die eine Figur ins Spiel, die eigentlich interessanteste, die gleich nach dem starken Anfang weg war. Ich ja dann auch.
Aus dem Englischen von Elina Baumbach.
Helena Adler, Miserere
Drei letzte Texte von Helena Adler. Vor einem halben Jahr starb sie, so schmerzlich früh. Ihr Buch „Die Infantin trägt den Scheitel links“ hatte mich damals wie ein brüllender Sturmwind erfasst, ihre Sprache umwerfend komisch und brutal. Ihr Verlag schreibt: „Mit überschäumender Sprachlust, mit unbändigem Wortwitz, auf Leben und Tod und mit Hohn und Spott und Zähnen und Klauen“. Dass sie um ihr Leben schrieb – es war leider wahr. Einen der Texte in „Miserere“ hätte sie beim Bachmannwettbewerb im vergangenen Jahr lesen wollen, doch es kam anders.
Wie kostbares schwarzes Gold schimmert das schmale Buch in meiner Hand.
Mathijs Deen, Der Retter
Ein Wiedersehen mit Liewe Cupido und Xander Rimbach. Die ersten beiden Bände dieser Krimireihe von Mathijs Deen mochte ich sehr. Der dritte Band ist für alle, die gern Kriminalroman lesen, sicher super. Ich hörte nur Gutes. Ich lese nicht gern genug Krimis nur wegen der Fälle. Die Einführung der Figuren und den Schauplätzen fand ich großartig in „Der Holländer“ und „Der Taucher“. Nach wie vor eine Leseempfehlung. „Der Retter“ langweilte mich ein bisschen, aber das liegt am Genre.
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke. (Der Übersetzer wird mir im Laufe des Jahres an überraschender Stelle wiederbegegnen.)
Lena Kampf/Daniel Drepper, Row Zero. Gewalt und Machtmissbrauch in der Musikindustrie
Über den Buchladen landete dieses Buch bei mir, denn ich moderierte die Veranstaltung mit nvestigativ-Journalistin Lena Kampf. Das Buch geht weit über die Vorfälle und um die Band Rammstein hinaus und deckt auf, wie zumeist junge Frauen in der Musikbranche benutzt und missbraucht wurden und werden. Beklemmend und erhellend zugleich.
Maren Gottschalk, Jenseits der Ngong-Berge
Das Buch würde im Herbst erscheinen, aber ich las es bereits vorab im sommerlichen Garten. Das hätte Tania Blixen sicher gefallen, denn ihre Liebe zu Gärten und Blumen vermittelt sich in dieser wunderbaren Romanbiografie von Maren. Mein Blick war erst verstellt vom der übermächtigen Verfilmung von Blixens Buch „Jenseits von Afrika“, der einzige Film, der mich zuverlässig zum Taschentuch greifen lässt. Aber wie viel mehr gibt es doch über Tania Blixen zu erzählen.
Maren Gottschalk zeichnet das Bild einer Frau, die in einer Zeit nach Selbstbestimmung und Freiraum strebt, als das eher Männern vorbehalten war, die zu leben und zu lieben wusste und die zwischen Schwarz und Weiß alle Schattierungen sah. Maren wird ja von Buch zu Buch auch immer besser, finde ich. Und nun werde ich mehr von Tania Blixen lesen, soviel ist sicher.
August
Ein Monat, der mich zuverlässig etwas stresst. Die Jahresmitte ist deutlich überschritten. Der August kommt immer mit einem gravitätischem Schritt daher und blickt mich aus schmalen Augen an: So, das ist also aus all dem geworden, was du dir für dieses Jahr vorgenommen hast, hm? Etwas … mager? Nun ja. In der Tat.
Aber es war auch der Monat, in dem ich dem Buchladen noch ein Stück weiter zuwuchs. Denn ich durfte meinen einzigen, richtig erlernten Beruf der Buchhändlerin im Laden selbst einbringen, nachdem ich ja nun schon länger als Digitalfee und fallweise als Moderatorin im Einsatz bin. Was passierte? Ich hüpfte fröhlich durch den August und fand es herrlich! So herrlich, dass ich über den gefragten Zeitraum hinaus im Einsatz bin und jetzt gerade auch im Weihnachtsgeschäft Teil des fabelhaften Buchladenteams bin. Schön.
Julja Linhof, Krummes Holz
„Ich atme tief ein. Es riecht nach nassen Schuhen. Und nach diesem Phantomgeruch, den eigentlich nur Fremde wahrnehmen. Bis man selbst fremd wird. Da erkennt man nach Jahren plötzlich: So riecht Zuhause.“
Es gibt Gründe, warum ich verzwackte Familiengeschichten sehr gern lese. Der Debütroman von Julja Linhof landete als Leseexemplar bei mir – der Titel tat es mir an, dann auch noch eine Geschichte, die an meine Heimat grenzt.
Und dann mochte ich es sehr. Der Ton der Autorin und ihr Personal taten es mir an. Jirka, der aus dem Internat zurückkehrt auf den heimischen Hof. Heimisch ist dort aber nichts mehr, oder wenn, dann auf ungute Weise. Die feindselige Schwester, die demenzkranke Großmutter, die aber schon vor ihrer Erkrankung kein Zuhause bot, nur Leander, der Sohn des letzten Verwalters, ist vielleicht Zuflucht. Ich lese mich noch an die Ereignisse eines Damals heran, das zu dem Jetzt führte.
Später im Jahr wurde es ausgezeichnet mit dem aspekte Literaturpreis.
Arno Frank, Seemann vom Siebener
Das Freibad. Für mich Inbegriff des menschengemachten Grauens und einer der letzten Orte, in die man mich freiwillig bekommt. Außer vielleicht in Hallenschwimmbäder. Dorthin womöglich noch weniger. Das Gute an Büchern: Man kann sich entspannt an solche Orte begeben, ohne dorthin zu müssen. Köpper in die Geschichte von Bademeister Kiontke!
„Es war zwar nicht seine Schuld, schon klar. Aber was, wenn doch? Wenn ein Grauen in der Welt ist, dann braucht es eine Ursache. Das macht es leichter zu ertragen. Wo eine Ursache ist, ist auch Schuld. Und Schuld darf nicht in der Welt bleiben, sie muss irgendwo hin. Warum also nicht auf die Schultern des einzigen Menschen, der so seltsam unberührt wirkte von der ganzen Scheiße?“
Was für ein wunderbares Buch. Ich hätte noch ewig weiterlesen wollen über diesen Mikrokosmos und seinen miteinander verwobenen Figuren.
Nora Schramm, Hohle Räume
Ich machte Wareneingang im Buchladen und dieses Buch fiel mir in die Hände. Eins der drei Exemplare schnappte ich mir sogleich für mich. Funktioniert schon super, das Buchhändlerinnendasein. „Ich erinnere mich, dass ich müde werde, wenn ich bei den Eltern bin, wie unter einem leichten Stoff.“
Die Tochter besucht ihre Eltern in ihrem schonimmerbewohnten Einfamilienhaus. Nach 40 Jahren lassen diese sich scheiden. Besitzstände werden gesichtet, Habseligkeiten und Unausgesprochenes sortiert. Eine Familie und ihre ganz eigenen Sprachlosigkeiten – ein Thema, das meins ist. Schöne Sätze und Passagen, außerdem.
„Wie die Tiere verschwinden nach und nach die alten Leute, die die Tiere geklopft haben und ihnen Namen gegeben, als seien es Erwachsene, Monika, Katharina, Jürgen. Ihre Höfe sind schon abgerissen und die Grundstücke verkauft, an Familien, die lieber selber bauen, als zu renovieren, die gerne selber bestimmen wollen, wie die Raumaufteilung ist, und alle dieselbe Raumaufteilung wählen.“
Etwas eigentümlich, dass die Autorin zumindest zu Beginn einen Liedtext von Herbert Grönemeyer als Soundtrack mitlaufen lässt. Ich habe ungefähr zu dem Zeitpunkt zum letzten Mal was von Grönemeyer gehört, als die Autorin geboren wurde. Das muss zum Ende der Schulzeit gewesen sein. Dieses Lied („Mensch“) wurde später, vor 22 Jahren, veröffentlicht, sagt die Suchmaschine. Vielleicht höre ich es mir mal an. (Hm, naja, ganz vielleicht, Grönemeyer war nie und ist immer noch nicht so meins.)
Anfang Dezember freute ich mich dann über die Nachricht, dass Nora Schramm für ihren Debütroman den Mara-Cassens-Preis erhält. Mit 20.000 Euroist er der höchstdotierte Preis für einen deutschsprachigen Debütroman. Er wird von einer ehrenamtlichen Leserinnen- und Leserjury des Literaturhauses Hamburg vergeben. Toll!
Roisin Maguire, Mitternachtsschwimmer
Und plötzlich fand ich mich bei Grace, Luca, Abbie, Becky und Evan an der irischen Küste wieder, wischte mir das Salzwasser aus der Stirn und in die verstruppten Haare, tief ins zerzauste Innere, wo es in alten und jungen Wunden brennt. Ein Buch, das ich im Verlauf der Geschichte immer lieber las. Alles daran mochte ich. Mit spürbarer Freude an diesem Text aus dem Englischen von Andrea O‘Brien übersetzt.
Es gibt eine irritierende Stelle, aber die verzeihe ich dem Buch gern. Was man wissen muss, ist, dass zugunsten der Naturbeschreibungen an Details zu den Figuren gespart wird. Es bleibt recht viel offen. Meiner Meinung nach entspricht das der Zugeknöpftheit des Personals und der überwältigenden Präsenz der Natur selbst.
Joséphine Nicolas, Das Haus am Meerufer
„Weil alles um mich herum lärmte, war ich still.“
Ein Buch, das ich rasch abbrach, das mich aber zurück ins Kino führte. Joséphine Nicolas erzählt von der Interiordesignerin und Architektin Eileen Gray und ihrem legendären Haus E.1027 an der französischen Riviera, das sie in den 1920er Jahren entworfen und gebaut hat. Mir Barbarin sagte ihr Name bis dahin gar nichts – dass das auch Le Corbusier zuzuschreiben ist, der dem Haus und insbesondere Gray Ungeheuerliches zufügte, erfuhr ich vorhin, als ich mich im Internet nach ihr umsah. Die Geschichte hätte mich sehr interessiert, aber Nicolas‘ Stil fand ich ganz schrecklich. Sie schreibt, als sei sie bemüht, so zu schreiben, wie sie glaubt, das man als Autorin so schriebe. Die Formulierungen haben etwas Kunsthandwerkliches und zugleich Steifes, das mich das komplett ablenkte.
Im November kam dann ein Film über Eileen Gray ins Kino: E.1027 – Eileen Gray und das Haus am Meer. Für mich das erste Mal seit 2019, das ich ins Kino ging. Und es war großartig. Wie der Film selbst, der irgendwo zwischen Biopic, Dokumentation und Kammerspiel liegt. Ich dachte, ich sei mit dem Kino durch. Aber ich vergaß die wundervollen Programmkinos wie das Filmhaus gleich ums Eck. Kein Käsenacho-Gestank, angenehme Größe, nicht überheizt, feste Sitze, angenehmes Publikum, das nicht laut rumquatscht.
Stefanie Sargnagel, Iowa
Stefanie Sargnagel in einer Kleinstadt in Iowa, wo sie inmitten von Maisfeldern Kreatives Schreiben unterrichtet. Mit dabei: Christiane Rösinger, den Älteren unter uns durch die legendären Bands Lassie Singers und Britta bekannt. Das buch machte mich auf ulkige Weise übermütig und bestens gelaunt. Das Ganze beginnt in Rösingers Schrebergarten, also, von da aus schreibt sich Sargnagel ein Jahr zurück, begleitet von Bemerkungen Rösingers in den Fußnoten. Wien trifft Berlin im Mittleren Westen der USA.
Das Buch fand ich super, solange ich mit diesen Beiden im amerikanischen Nirgendwo unterwegs war. Mit Rösingers Abreise war auch das Buch für mich abgereist. Daher las ich es nicht zuende. War dann auch gut.
September
Ab September sausen die Tage für ich traditionell davon: die Buchmesse naht, die Woche unabhängiger Buchhandlungen, das Weihnachtsgeschäft im Buchhandel. Über allem und zwischen allem eine Phase des Umbruchs, in der mich neue berufliche Perspektiven erreichten. Ich durfte bei einer Lieblingsbuchhändlerin aus meinen Geschichten aus der Heimbürokantine lesen, was mich sehr freute. Peter und ich sprachen in unserem Podcast über Heimat.
Nina Kunz, ich denke ich denk zu viel
„Es kommt häufig vor, dass ich todmüde bin, aber just in dem Moment, in dem ich den Kopf aufs Kissen lege, wieder hellwach werde.“
War mal Dorothees Buchtipp: „Nachdenklich, witzig, intelligent: Nina Kunz schreibt über den Irrsinn der Gegenwart.“ Ich lese immer mal rein und es ist ein Buch, das ich gern griffbereit auf dem Nachttisch liegen habe.
Petra Pellini, Bademeister ohne Himmel
„Die Welt wird stillstehen und endlich wird es jemand aussprechen: Das Mädchen braucht Hilfe!“
Nachdem ich schon so viel Gutes über den „Bademeister ohne Himmel“ von Petra Pellini gehört hatte, wurde es Zeit, das Buch zu lesen. Zumal wir im Buchladen ahnten, dass es für die Auszeichnung Lieblingsbuch der Unabhängigen in Frage kommen könnte, die von über tausend unabhängigen Buchhandlungen vergeben wird. Ich weiß zwar nicht, was seit zwei, drei Jahren alle mit dieser Schwimmbad-Welt (Hölle!) haben, aber bitte. In Büchern bin ich nicht wasserscheu.
Es ging dann aber auch gar nicht sehr ums Schwimmen oder um Freibäder, wie ich anfangs annahm. Petra Pellini hat ein wunderbares und anrührendes Buch geschrieben. Heftige Themen wie Demenz, Sterben, Suizidgedanken, Pflege, alleinerziehende Mütter und Gewalt in der Familie sind mit leichter Hand und in einem warmen Ton geschrieben. Und mit einem Humor, der mich erreichte.
Das Buch hat durchaus etwas Märchenhaftes. Die 15-jährige Linda ist vielleicht eine Spur zu altklug, um real zu sein. Aber hey, es IST Fiktion, die darf das.
(Die unglaublich sympathische Autorin war übrigens selbst lange in der Pflege demenzkranker Menschen tätig. Ich habe viel gelernt, selbst wenn dieses Buch nirgendwo belehrend ist.)
Bart van Loo, Burgund. Das verschwundene Reich. Eine Geschichte von 1111 Jahren und einem Tag
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke – da ist er wieder, der oben schon mal erwähnte Übersetzer der Bücher on Mathijs Deen!
Kommen wir nun zu etwas völlig anderem. Burgund. Eine Region, die ich sehr liebe. Aber es war einst ein mächtiges Reich. Bart van Loo erzählt lustvoll, kenntnisreich und überaus vergnüglich die Geschichte Burgunds über den sagenhaften Zeitraum von 1111 Jahren und einem Tag – und in einem Zug auch davon, wie die Niederlande und Belgien entstanden.
Und das kam so mit dem Buch und mir: Ich fiel müdigkeitsbedingt in ein Loch mit historischen Serien über Frauenfiguen der englischen Geschichte: The White Queen, The White Princess und The Spanish Princess. Jo, naja. Mich wundert dann doch oft, wie sehr solche Serien gelobt werden, wenn man dann vor allem Seifenoper mit Sexszenen sieht. Im Unterschied zu historischen Serien, in denen Männern im Mittelpunkt stehen, gibt’s zwar weniger Gewaltporno und Schlachtenszenen. Bei weiblichen Figuren im Zentrum gibt’s dann nackte Haut und Intrigen. Ach, Leute. Naja. Ich hatte also nach einigen verplemperten Stunden vorm Bildschirm das dringende Bedürfnis nach gut erzählter Geschichte. Und da fiel mir im Buchladen das Buch von Bart van Loo in die Hände.
Es ist so gut. Ich liebe es. Nicht von ungefähr wird Bart van Loo mit Barbara Tuchman verglichen. „Der ferne Spiegel“ werde ich einfach auch nochmal lesen. Aber erstmal verfolge ich gebannt und in kleinen Happen die grandios geschilderte Geschichte Burgunds.
Daniela Krien, Mein drittes Leben
Eine 17-jährige Radfahrerin wird von einem LKW-Fahrer getötet. So traurig, so alltäglich in Deutschland. Zurück bleiben die Eltern, die an dem Tod ihrer Tochter zerbrechen. Aber Trauer ist bei jedem Mensch anders und so wendet sich der Vater eher wieder dem Leben zu als die Mutter. Die Frau findet für sich und ihre geradezu rücksichtslose Trauer Zuflucht in einem eher schäbigen Gehöft. Der Mann sucht das Leben bei einer anderen Frau, bleibt aber präsent.
Die Wucht der Trauer, die alles andere zurückstellt, schmerzt und ging mir auch zeitweise ziemlich auf die Nerven. Was mich nachdenklich machte, denn Daniela Krien hat da durchaus einen Punkt. Trauer wird wenig Zeit und Raum gegeben in einer Gesellschaft, in der es ums Funktionieren und Leisten geht.
Oktober
Der Oktober raschelte wie die Blätter der Bücher und die unter den Füßen. Herbst. Mit Buchmesse, Preisverleiungsmoderation, Schubidu und Rumrennen. Und ich hielt in der Stadtbilbiothek Bielefeld meinen ersten Vortrag über Bad Kleingarten und den Weg zu einem naturnahen Kleingarten. Das hat mir viel Freude gemacht!
Alina Bronsky, Pi mal Daumen
Temporeich und mit viel Wärme erzählt – Alina Bronsky kann es einfach.
Diesmal ist es eine Geschichte zweier verschrobener Außenseiter, die sich im ersten Semester Mathematik an der Uni begegnen. Ein 16-jähriger, schnöseliger Überflieger aus begütertem Hause und eine 53-jährige Chaotin mit verblüffenden Fähigkeiten und geradezu erstickenden Familienpflichten. Das Buch strotzt vor Menschen mit Spleen, allesamt stets nah am Scheitern. Und dass keiner abstürzt, liegt daran, dass von unvermuteter Seite jemand seine Hand reicht oder kurz mal stützt*. Eine wunderbare Geschichte, wie Menschen vorschnelle Urteile überwinden und in aller Gegensätzlichkeit Freundschaft schließen. Und nebenbei eine Liebeserklärung an die Mathematik.
Alina Bronsky beherrscht die ganz seltene Kunst, wirklich witzig eine Geschichte zu erzählen, die mich an geliebte britische Sozialkomödien im Film erinnert. Eigentlich alle bekloppt, aber mit Herz. Die Umstände haarsträubend, aber nicht ohne Hoffnung. Wurde dann auch Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen.
(*Wie in der Bahn der nette mitteljunge Mann neulich, der mal eben seinen Arm ausstreckte und verhinderte, dass ich beim überraschenden Ruckeln mein Gleichgewicht verlor. Immer noch dankbar.)
Laura Spence-Ash, Und dahinter das Meer
War auf der Shortlist für das Lieblingsbuch der unabhängigen Buchhandlungen. „Ein echtes Wohlfühlbuch, wunderbar altmodisch und anrührend. Damit behalten Sie den Sommer und die Sonne im Herzen.“ Das schreibt meine Buchladenkollegin Christiane über das Buch im Weihnachtsprospekt. Ich habe es immer noch angelesen neben dem Bett liegen. Was das Lesen für mich erschwert: Es ist wahnsinnig klein gedruckt. Als stark Kurzsichtige ist das am Ende eines sehreichen Tages echt anstrengend. Christiane hat es übrigens als elektronisches Leseexemplar gelesen … Liebe Verlage, ich weiß, Papier ist teurer geworden, aber bitte macht es willigen Leserinnen nicht so schwer.
Aus dem amerikanischen Englisch von Claudia Feldmann.
November
Die wilde Jagd gen Jahresende, Galopp! Der November reist wie gewohnt mit voll gepackten Koffern ab. Darin ein Geburtstag, eine Aktionswoche, eine Moderation, eine schöne Essenseinladung, Lesungen, Gelesenes, Arztbesuche, Planänderungen, Dies, Das. Und schon vorbei.
Paul Lynch, Das Lied des Propheten
„Sie hält ihn in den Armen, versucht, für ihren Sohn flüsternd die alte Welt der Gesetze, die zerbrochen zu seinen Füßen liegt, wiederherzustellen, denn was ist die Welt für ein Kind, wenn der Vater ohne ein Wort verschwinden kann?“
Eigentlich lese ich keine Dystopien. Die Welt ist mir Dystopie genug. Es braucht dringend Utopien, denn nur wenn der Mensch glaubt, etwas verbessern zu können, kommt er ins Handeln.
Aber alles, was ich über „Das Lied des Propheten“ von Paul Lynch las und hörte, zog mich zum Buch. Beklemmend nah an der Gegenwart und längst Wirklichkeit in Ländern wie Syrien oder Afghanistan. Eine Frau findet sich mit ihrer Familie nach einer Wahl in einem autoritären Staat wieder. Kein ferner Staat, sondern Irland. Sie arbeitet als Wissenschaftlerin, ist mit einem Gewerkschafter verheiratet, sie haben vier Kinder. Eilish kümmert sich um ihren an Demenz erkrankten Vater. Die Familie lebt wie viele von uns in dem Vertrauen darauf, gewisse Grundrechte als Mensch und Bürger*in zu haben.
Doch was, wenn eine demokratisch gewählte Regierung diese Rechte auflöst? Widerstand regt sich und schon bald ist Krieg. Ihr Mann verschwindet gleich zu Beginn, verhaftet, vielleicht tot. Eilish ist auf sich gestellt. Was tun? Was mir richtig gut gefällt: Die Geschichte wird aus dem Alltag heraus erzählt. Ein Baby muss versorgt werden. Die Pubertät nimmt keine Rücksicht. Als „normal“ angenommene Dinge laufen weiter, ob Zähneputzen, Einkaufen oder Schule. Aber sie verändern sich, manche drastisch, manche unmerklich.
Paul Lynch ist für diesen Roman mit dem Booker-Preis ausgezeichnet worden. Ich hörte Interviews mit ihm und mein Wunsch wuchs, das Buch zu lesen. Es ist gut. Es ist ein so wichtiges Gedankenspiel in Zeiten, in denen die so selbstverständlich hingenommene Demokratie in der westlichen Welt akut bedroht ist.
Aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Dezember
Während ich Herrn November noch nachblickte, schmiss hinter mir der Dezember den Glitzer in die Luft, die Kerzen flackerten ob seines Rumwirbelns, lautstark grölte er Weihnachts-Medleys, natürlich nur die Refrains: Sti-hill, sti-hill, still, it‘s beginning to look a lot like Last Christmas, pa rum pum pum pum, klingelingeling!
Ein umtriebiger Monat. Same procedure as last year? „Same procedure as every year, meine Gute. Und jetzt schwing‘ deinen Hintern hierher, ich zähl‘ bis vier und dann ist hier Weihnachten!“
Etwas anders war der Monat dann doch, denn ich verstärkte das Team Weihnachtsgeschäft im Buchladen. Lesen blieb da auf der Strecke. Zumal ich dann auch noch kurz krank wurde. Ich entdeckte einen ganz wundervollen Kanal bei YouTube und schaute zwei ausgesprochen freundlich wirkenden, kreativen und tatkräftigen Menschen zu, wie sie ein altes Gehöft in Norditalien zum Leben wiedererweckten: Stories from the cascina. Da verbrachte ich dann Stunde um Stunde, während der Körper sich den Bazillen widmete.
Im Garten derweil das letzte Geblüh, die letzte Salaternte und viel Vorfreude aufs Kommende.
Mely Kiyak, Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an
„Mein Vater geht wie eine betrunkene Ballerina. Weder trinkt er, noch kann er tanzen. Er versucht, beim Laufen einfach nicht umzukippen.“
Als ich für den wundervollsten Adventskalender überhaupt, den von Maren Gottschalk, das sehr gemochte Buch über die gärtnernden Nonnen von Mely Kiyak empfahl, erwähnte Maren das Buch der Autorin über ihre Vater: „Herr Kiyak dachte, jetzt fängt der schöne Teil des Lebens an“.
Na, das lag doch hier schon bereit und will gelesen werden! Ein Buch von Verlust und Abschied, von „Vaterliebe und Tochterangst“, wie Mely Kiyak selbst es beschreibt. Ich liebe es schon jetzt, nach dem Lesen der ersten Seite, die Sätze voller zärtlicher Liebe und Trauer. Und erfüllt von der Fähigkeit, auch kummervollen Zeiten eine wärmende Heiterkeit zu verleihen.
Es sind die Geschichten, die bleiben. Glücklich die Töchter, denen ihre Väter von sich erzählen. Und so lese ich auch ein wenig wehmütig. Und weiter in den kommenden Tagen.
Gartenliteratur
Tja. Mit der Kompostfibel fing es an. Inzwischen wächst die Gartenbibliothek mit den Publikationen der Abtei Fulda stetig. Ich lese das Buch über Schwester Christas Mischkultur und notiere eifrig. Irgendwann fahre ich nach Fulda. Lieblingsratgeberin Schwester Christa von der Abtei Fulda und Gartenjournalistin Jutta Langheineken haben ein wunderbar hilfreiches Buch über biologisches Gärtnern in Mischkultur geschrieben. Voll mit dem über Jahrzehnte gesammelten Wissen der Klosterfrauen, Pionierinnen im Biogärtnern in Deutschland.
Was ich sehr schätze: Man spürt, dass Schwester Christa niemandem etwas beweisen muss. Und so fehlt das Technokratische, das Drängende, das die Lektüre so mancher Gartenratgeber etwas mühsam macht. Ich mag den ruhigen, freundlichen Ton, die stille Hingabe ans Tun, die sich mitteilt.
Wie schon im letzten Jahr habe ich haufenweise Gartenliteratur gelesen. Und selbst ziemlich viel geschrieben, womöglich ein nächstes Buch. Zur Gartenliteratur wird es einen eigenen Beitrag geben.
Das Lesen geht weiter, so viel ist sicher.
Heute geht’s erstmal in meinen letzten Einsatztag im Buchladen, bevor ich unter den Weihnachtsbaum sinke.
So.
Danke für die interessanten und aufschlussreichen Hinweise! Meine Lese-Liste wird immer länger!📜
Den Stanisič fand ich richtig gut.
Das Buch von Sarah Wimans „Das Fenster zu Welt“ fand ich auch vollkommen belanglos bis ermüdend und kann mir seinen Erfolg nicht erklären.
Paul Lynchs „Das Lied des Propheten“ fand ich toll geschrieben und extrem bedrückend.
Und Marens Buch über Karen Blixen liegt schon für die Feiertage bereit. 🤗
Herzliche Grüße aus Berlin und schöne, frohe Feiertage! 🎄🍾🎉
Danke Dir, wie schön, ich freue mich! Und wünsche Dir fröhliche und friedliche Festtage. 🎄🍾🤗
Danke für Deine Leseliste und die schönen Empfehlungen! Da hab ich einiges entdeckt, dass mich jetzt noch interessiert! Wir lesen uns im neuen Jahr! ❤️
Liebe Maren, wie schön, ich freue mich, auch aufs Wiederlesen und Wiedersehen im neuen Jahr!