Ich trete vor die Tür.
In den letzten Tagen schimmerte das Agnesviertel gülden, heute hat es einen matten Silberglanz. Herbst, eindeutig. Eine gewisse Montagsmattigkeit ist hier auch nicht zu verleugnen; ich bin da ganz beim Wetter. Ich gehe ins Heimbüro, die gleiche Runde wie immer. Nie ist es dieselbe. Gleich zu Beginn treffe ich den Veedelsbuchhändler, ein kleiner Schwatz. Auf dem Weg zum Rhein fällt mein Blick auf einen Röhrenfernseher, den jemand ausgesetzt hat. Glotzkiste. Kann man zu den Flachmännern nicht mehr sagen, die nun in den Wohnungen stehen. Auf die passt auch keine Häkeldeckchen mehr, auf dem wiederum eine Etagere platziert ist – ist gut jetzt, Hirn, woher kommen diese Bilder? Es klingt, als sei ich in Loriots Wohnzimmer aufgewachsen.
Ich schüttele die inneren Häkeldeckchen ab und blicke auf ein Arrangement aus Frauen und Männern und signalorangefarbener Ganzkörperkleidung: Eine Ampelanlage wird umgebaut und nun steht man erstmal gemeinsam mit ein paar Rudeln Absperrbarken herum. Ich erreiche den Rhein.
Am Anleger ist was los.
In der Luft ein intensives Aroma aus Frittenfett und Diesel. Ein belgischer Vergnügungsdampfer liegt vor Anker. Das Flusskreuzschifffahrtengeschäft läuft offenbar wieder gut. Schöner wird es dadurch am Rheinufer nicht. Schön hingegen ist der in allen möglichen Rottönen leuchtende Vorhang aus Herbstlaub an der Mauer zur Rheinuferstraße. Leuchtend, obwohl das Licht kaum hilft. An sonnigen Tagen ist das in seiner Intensität vermutlich kaum auszuhalten. Ich tätschele das rote Blattgold kurz und verabschiede mich Richtung Hundewiese.
Mein Weg führt mich an der Großbaustelle vorbei. Die Bagger schweigen sich an. Männer in bunter Kleidung stehen nebeneinander herum. Das Herumstehen scheint mir eine wesentliche Angelegenheit zu sein, ein gemeinschaftliches Innehalten, bevor etwas um- oder neuerbaut wird, bevor man abreißt, aufbaut, umschichtet. Ein Herr im Blaumann nimmt Aufstellung links von mir. Auch er schaut auf die Baustelle. Wir stehen ein Weilchen herum. Er beißt in ein Butterbrot. Profi für Leck- und Leitungsortung, lese ich auf seinem Kastenwagen. Wir nicken uns unmerklich zu. Er widmet sich seiner Stulle. Ich gehe weiter.
An der Hundewiese gibt es nichts zu sehen. Links von mir aus den Gärten höre ich lautes Schimpfen der örtlichen Vogelbevölkerung. Ist Katzengetier unterwegs? Über den Zäunen und Hecken sehe ich lauter gelbe Blüten in den Himmel ragen. Das Schimpfen hält an. Ein Amsel sehe ich sichtlich ungehalten davonfliegen. Nun, ich halte mich da raus.
Das erste Herbstlaub raschelt zu meinen Füßen.
Pfützen. Oktober. Das Jahr kommt mir wieder irrwitzig rasch vorbei zu sein. War vorhin nicht noch Sommer? Und auch der kam so plötzlich in diesem Jahr. Hoppla! Zerdrückte Fruchtbecher der Kastanien machen den Weg glibschig. Kastanien sind indes keine zu sehen. Alle weggesammelt. Kastanien sind heiß begehrt im Agnesviertel. Sie werden zu Kastanienmännchen oder landen statt Waschmittel in der Waschmaschine. Mir hingegen fehlt noch meine alljährliche Taschenkastanie, die mich handschmeichelnd durch den Winter bringt. Aufmunternd blicke ich zur Kastanie über mir, doch sie behält ihre restlichen Kastanien einstweilen für sich.
Bevor ich die Wohnungstür erreiche, begegne ich noch einer Kollegin, Buchhändlerin aus dem Buchladen. Für uns beide ungewohnt, uns an dieser Stelle zu treffen. Mitunter eigenartig, wenn man sich an unvermutetem Ort trifft, ohne die Schale des vertrauten Ladens. Kurz denke ich, dass wir selbst gerade wie aus der Schale gefallene Kastanien wirken, noch schön glatt und sauber für den Tag, der uns nun sammelt und in die Tasche steckt.
Wohlan!
P.S. Kein Herbst ohne Gedichte. Bitteschön, eins von Charlotte von Ahlefeld. Sie war eine deutsche Schriftstellerin und lebte von 1781 bis 1849. Das klingt immer so fern, aber beim Überfliegen ihrer Biografie blieb hängen: heftige Liebesbeziehung, unglückliche Ehe, schriftstellerischer Erfolg und damit materielle Selbstständigkeit, Kontakte mit Goethe und Charlotte von Stein.
Wie mit Flor bezogen ist der Himmel,
Graue Nebel sinken feucht und schwer,
Und der Raben hungriges Gewimmel
Zieht auf Stoppelfeldern hin und her.
Blätter rauschen auf den öden Wegen,
Die ich froh und glücklich einst betrat;
Rauhe Lüfte hauchen mir entgegen,
Und durchschaueren die Wintersaat.
Ringsumher ist jede Spur verschwunden
Von des Sommers Lieblichkeit und Lust.
Nur in tiefen, unheilbaren Wunden
Regt sich noch sein Bild in meiner Brust.
Nur die Hoffnung hebt durch frische Farben
Die verblichne, freudenleere Welt;
Sammelt auch auf öden Fluren Garben,
Die sie in der Zukunft Felder stellt.
Und der Schwermut schauerliche Nächte
Hellt uns oft ihr goldner Himmelsschein;
Freundlich führt uns ihre milde Rechte
In das Reich der Fantasieen ein.
Tön‘ auch mir mit Deinem Schmeichelworte,
Hoffnung, Frieden in das bange Herz;
Kränze windend um der Zukunft Pforte,
Deute Du der Sehnsucht ihren Schmerz.
Und wenn einst der Sommer wiederkehret,
Lass in seinem frischbelebten Grün
Jede Freude, die mein Herz entbehret,
Mir im Glück des Wiedersehens blühn.