Da war es wieder.
Ein störrisches Rucken geht durch mein Rad, als ich Richtung Buchladen fahre. Bin ich irgendwo dran gekommen oder über irgendwas gefahren? Wenige Meter weiter zieht es den Lenker wieder ruckartig nach links. Da klemmt etwas? Es fühlt sich nicht gut an. Bis zum Buchladen fahre ich noch. Auf dem Rückweg schiebe ich sicherheitshalber. In den vergangenen Tagen war es lausig kalt. Ob sich durch den Frost etwas festgefressen hat? Bei näherer Untersuchung stellt sich dann heraus, dass mein treuer Esel tödlich verwundet ist: Ein Riss im Steuerrohr. Glück und Unglück gleichermaßen. Glück, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Noch im letzten Jahr trug mich das Rad samt Gepäck tausend Kilometer durch den Osten von Frankreich. Unglück, denn ich habe plötzlich kein Rad mehr.
Kein Rad mehr. Kein alltägliches Verkehrsmittel mehr. Keins, das mich zu Terminen fährt. Kein Gefährt mehr für Ausflüge und Reisen. Fast fünfzehn Jahre lang hatte mich dieses Fahrrad bei all dem begleitet und meine Metamorphose zur Radfahrerin ausgelöst. Ich erinnere mich noch gut, wie dieses Fahrrad in mein Leben trat.
Als damals mal wieder eine meiner alten Gurken geklaut wurde, begab ich mich auf Anraten eines einzelnen Herrn in einen Fahrradfachgeschäft. Eigentlich sollte es wieder ein gebrauchtes Rad sein. Dann stellte mir der geschäftstüchtige Fahrradfachhändler nach einem prüfenden Blick auf meine Anatomie eins der neuen Räder nur mal so zum Testen hin. Ich steig auf, fuhr los – äh, ja. Das war’s. Ich wollte nie wieder runter. Es saß wie angegossen und fuhr einfach, ohne dass ich viel tun musste. Nebenbei sah es auch noch extrem gut aus. Ich verließ den Laden also mit einer Neuerwerbung und gab erstmals in meinem Leben nennenswertes Geld für ein Fahrrad aus. Bereut habe ich das keinen einzigen Tag.*
Das Radfahren hat mein Leben verändert, um gleich mal angemessenen Pathos in die Angelegenheit zu bringen. Es verbindet mich mich mit mir und mit der Welt.
Radfahren macht unabhängig. Man kann einfach irgendwohin fahren, wenn man das möchte. Radfahren bringt einen in direkten Kontakt mit der Welt: Gerüche, Wind (Gegenwind!), Steigungen, Gefälle, der Weg oder die Straße und natürlich das eigene So-Sein. Radfahren lässt mich spüren, was für einen Tag ich habe, ob es mir gut geht, ob ich angespannt, müde oder tatendurstig bin. Radfahren lehrt mich, ähnlich wie Wandern und die Pferde, viel über Demut, Selbstzweifel und Selbstmitleid. Ebenso viel lerne ich darüber, zu was ich in der Lage bin und wie wunderbar es ist, mich aus eigener Körperkraft fortzubewegen und dahin zu sausen, die Nase im Wind − oder die Zunge in den Speichen.*
Ich zitiere an dieser Stelle die amerikanische Feministin Susan B. Anthony, die 1896 (!) über das Fahrrad sagte: „Ich denke, es hat mehr für die Emanzipation der Frau getan als irgendetwas anderes auf der Welt. Ich stehe da und freue mich jedes mal, wenn ich eine Frau auf einem Fahrrad sehe. Es gibt Frauen ein Gefühl von Freiheit und Selbstvertrauen.“ Gefunden in diesem Artikel über das Vehikel der Emanzipation.
Viele tausend Kilometer, …
… Fahrten bei allen Wettern, ein Sturz auf glattem Eis, ein gestohlener Sattel, verblüffend selten ein Platten. Leb‘ wohl, treuer Esel. Und nun? Der Schaden kam zur Unzeit. Nach einem Jahr mit deutlichem Verdienstausfall durch die Pandemie war mein Konto leer. Ein passender Augenblick für das Finanzamt, mir das Leben schwer zu machen und das Land NRW raunte von Rückzahlungen der vor einem Jahr als nicht rückzahlbar angepriesenen Soforthilfe. Ein Desaster.
Von diesem Desaster erzählte ich Julia Graff, Freundin, Kollegin und nun auch meine Verlegerin (aber davon ein andermal), als wir zusammen bei Instagram in einem Livetalk kochten. Was wir immer am letzten Montag im Monat machen: zwei Küchen, ein Gericht. Und Julie Gaff fackelt nicht lang: Sie stellte einen Sammelhut in das Internet und zwar bei Leetchi. Wir kennen uns lange. Und gut genug, dass sie wusste, dass ich niemals zugestimmt hätte, wenn sie mich gefragt hätte. Und gut genug, um zu wissen, dass ich ihr das nicht übelnehmen würde.
Hilfe anzunehmen fällt mir schwer. Um Hilfe zu bitten noch schwerer. Und doch beschloss ich, diese Hilfe anzunehmen und ich teilte Julias Initiative, mir zu einem neuen Fahrrad zu verhelfen. Und es geschah: In nicht mal 24 Stunden kam soviel zusammen, dass ich mir nicht nur mein Wunschrad kaufen konnte, sondern auch noch eine Lenkerrolle, eine neue Radhose, ein bombensicheres Schloss, ein Navigationsgerät und eine andere Kurbel fürs Rad, damit ich auch mit Gepäck besser die Hügel hinaufkomme. Unglaublich, diese Geschichte. Unfassbar viele Menschen waren bereit, mir unter die Arme zu greifen und mir etwas Gutes zu tun.
Das alles macht mich sehr dankbar und froh. Es ist nicht einfach, so etwas anzunehmen. Tatsächlich hat mich dieses Geschenk zunächst verstummen lassen. Überwältigt. Auf komische Weise schuldbewusst. Ja, auch beschämt. Und doch so froh. Die Freude überwog dann eines Tages. Mich traf keine Schuld, dass ich in der Situation war. Ich hatte selbst öfter Crowdfundings für Menschen in Notsituationen oder für gute Ideen unterstützt. Nun gab und gibt es Menschen da draußen, die wiederum mich großherzig unterstützen. Die sich für mich einsetzen. Man kann es schlimmer antreffen, oder? Nach einem Jahr, in dem es hauptsächlich schlechte Nachrichten gab, passierte unvermutet Gutes. Ich bin aber davon überzeugt, dass man etwas vom Glück weitergeben muss, wenn einem Freundlichkeit widerfährt. Daher habe ich einen Teil an den Raum für junge Frauen im benachbarten Bürgerzentrum gespendet.
Mein grünes Fahrradwunder
Das neue Rad habe ich in der Nachbarschaft in einem kleinen, engagierten Fahrradladen gefunden. Dort hatte ich mein altes Rad schon immer zur Inspektion und für Reparaturen hingebracht. Ich wurde beim Kauf bestens beraten und zu ausführlichen Probefahrten ermuntert. Ein neues Fahrrad zu kaufen und auch noch eins nach Wunsch: In Pandemiezeiten gar nicht so einfach, denn Fahrräder sind ein knappes Gut, was an der hohen Nachfrage, an fehlenden Teilen und an knappen Containern liegt. Binnen weniger Tage hatte ich verschiedene Läden abtelefoniert und Probefahrten vereinbart. Ein Gravelbike sollte es sein, ein flottes, wendiges Rad, mit dem ich ohne weiteres im Alltag zu Terminen, Besorgungen und Ausflügen fahren kann und mit dem auch längere Radreisen möglich sind. Es sollte ein Fahrrad sein, das mindestens ebenso lange hält wie mein treuer Esel. Und womöglich soll es sogar noch mehr aushalten, denn mein Fahrradfahren wird nicht weniger. Es wurde dann ein Crossfire Gravel 2000 von Centurion, einem schwäbischen Unternehmen, das seit 45 Jahren Fahrräder herstellt. Ich setzte mich drauf und es passte.
Es passt so unglaublich gut. Selbst wenn ich lange Strecken damit fahre, tut mir nichts weg. Die ersten tausend Kilometer haben wir nun miteinander zurückgelegt. Es fährt mich einfach überallhin und ich fühle mich gut aufgehoben.
Ich hatte Glück. Ich hatte in so vielerlei Hinsicht Glück. Denn auf das grüne Fahrradwunder folgten gleich weitere Wunder: Ich fand neue Auftraggeber:innen, für die ich pandemieunabhängig arbeiten kann. Und ich schreibe ein Buch, das im September veröffentlicht werden wird. (Dass ich jemanden an meiner Seite habe, der mich bei allem stets unterstützt, bleibt indes das größte Glück.)
Ich werfe ein großes Dankeschön in die Runde.
Das gute Gefühl, freundliche Menschen um mich zu wissen, begleitet mich bei jeder Fahrt auf dem Fahrrad. Demnächst geht es auf mehrere Fahrten, von denen ich auch hier erzählen werde. Immer mal wieder Bilder von Ausflügen, Dienstfahrten und Radreisen gibt es auch drüben bei Instagram.
Das Radfahren macht mir eine große Freude: Es ist wunderschön, ein bissl ermüdet und erhitzt sich irgendwo hinzusetzen und über die Sträucher, die Wiesen und Hügel hinzuschauen, und abends ist es sogar wunderschön, in den Straßen der Vorstädte zu fahren. (Hugo von Hofmannsthal)
*Auszüge aus meinem Text für die literarische Anthologie Vom Glück Fahrrad zu fahren, herausgegeben von Stefan Geyer und erschienen im Marix Verlag.
Ach Wibke, einem lieben Menschen wie Dir, hilft man doch gern! 🙂
Danke, liebe Christiane. ????
Da waren wir durchaus nicht ganz selbstlos. Aus Deine Radfahrberichte hätten wir nicht gerne verzichten wollen!
Was für ein großes Glück! ????
Ich wünsche Dir immer eine Handbreit Rückenwind hinterm Fahrrad (oder so ähnlich.) ????????????
Dankeschön! ???????????? Rückenwind ist ’ne super Sache.
Ein Buch!! Ich freue mich schon und stelle mir vor, dem grünen Fahrradwunder auch mal am Rhein zu begegnen. 😉
Dafür komme ich gern mal nach Düsseldorf gefahren!
Hallo,
was wurde aus dem alten Rad? Das beschriebene Fahrverhalten könnte ein defekter Steuersatz sein, den man noch reparieren könnte.
Grüße
Der Riss ist sehr deutlich und zieht sich über ca. 10 Zentimeter das Steuerrohr hoch. Werde demnächst mal nach einem anderen Rahmen gucken. Vielleicht lässt das Rad dann wieder neu aufbauen.
Liebe Wibke, so treffende Worte, du sprichst mir (mal wieder) aus der Seele.
Danke, liebe Ruth. Darüber freue ich mich! ????????
Ja, Fahrradfahren vermittelt ein unvergleichliches Gefühl von Freiheit, das habe ich schon als Kind gespürt.
Viel Freude weiterhin mit dem treuen Drahtesel !
Herzlichen Dank, Henrike! ????????
Liebe Wiebke,
Deine Freude, Dein Dank, dass Du diesen teilst, Dein Mut, das Geschenk anzunehmen, all das berührt mich sehr.
Und Dein Texte dazu sind für mich eine wunderschöne Folge daraus und motivieren für das Miteinander. Dankeschön!
Ich habe von dem Crowdfunding erst erfahren, als Du deine neuen 2-rädrigen Begleiter auf fb, vorgestellt hast. Danke im Übrigen @Julia Graff für Deine Initiative.
Aber an Raum für Frauen kann ich auch jetzt noch spenden. 😉
Ich danke Dir, Marietheres. ????????????
Wunderbar, Dein Bericht und ich freue mich für Dich, so ein gutes Rad erstanden zu haben. Stimmt, Hilfe annehmen ist nicht leicht, aber gut, dass Du es gemacht hast, Du gibst ja wohl auch sehr viel. Und wieviel Freude es macht zu geben, wissen wir alle.
Mein Trekker heißt „Kumpel“, seit 5 Jahren fährt er mich treu alle meine Wege – wirklich alle. Und hat mich noch NIE im Stich gelassen. Da baut man doch irgendwie eine Beziehung auf zu diesem Stahlross 🙂 , manchmal rede ich mit ihm! Unvorstellbar, wenn ich auf ihn verzichten müsste!
Ich wünsche Dir noch viele, viele wunderbare Touren mit lieben Begegnungen und mir wünsche ich noch viele schöne Berichte von Dir!
Liebe Grüße und alles Gute,
Margit
Herzlichen Dank, liebe Margit, für Deine Worte, für Deine guten Wünsche. Dir wünsche ich auch noch viele erfreuliche Fahrten mit Deinem Kumpel! Auf bald und liebe Grüße, Wibke