Wer hat an der Uhr gedreht? Paulchen Panther irrlichtert einmal von rechts nach links durchs Bild und ist auch schon wieder weg. Wie das Jahr. Vorhin blieb ich in den Fotoalben hängen und mich wundert nun gar nicht mehr, dass mit das Jahr so lang wie kurz vorkam. Ein in vieler Hinsicht katastrophales Jahr: das zweite Jahr in der Pandemie, in der man zwar in Echtzeit zusehen konnte, wie Impfstoffe, Behandlungsmethoden und Heilmittel gefunden werden, aber verstörend seltsame Leute wie Fettaugen auf der Suppe nach oben schwammen und alle Hoffnungen auf eine rasche Überwindung der Pandemie trübten.
Die Klimakatastrophe wurde in den letzten Jahren nicht nur durch Dürren, Waldsterben, Wassermangel und Waldbrände, sondern in diesem Jahr durch träge gewordene Tiefdruckgebiete mit Starkregen auch in unserer Nachbarschaft miterlebbar. Die Eifel wurde schlimm getroffen, ebenso andere Teile von NRW. Es wird Jahre dauern, bis manche Orte wieder instandgesetzt sein werden. Und einiges wird nie wieder gut.
Es gab Zeiten, in denen mich all die schlimmen Nachrichten auch aus anderen Teilen der Welt sehr niederdrückten. Aber bei näherer Betrachtung stelle ich fest, wieviel Gutes mir das Jahr gebracht hat. Eine gute Gelegenheit, abermals auf dieses erhellende DLF-Feature über Ambiguitätstoleranz hinzuweisen. Oder hier, SWR 2Wissen über den Mut zur Mehrdeutigkeit. Verinnerlicht man dieses Aushalten von Ambiguität, wird das Leben nicht unbedingt einfacher, aber aushaltbarer. Ja, dieses katastrophale Jahr brachte mir Gutes. Es erinnerte mich in Worten und Taten daran, wie sehr ich mit Liebe, Freundschaft und Glück gesegnet bin.
Aber bevor das hier ein sentimentaler Jahresrückblick wird, mache ich eine Notlandung in den Büchern. Ich mochte sehr, wie Florian Valerius sein Jahr 2020 in Büchern erzählte. Am Ende wurde es dann doch mehr als das, denn während ich mich an die Bücher erinnerte, die ich gelesen habe, waren diese auch oft mit Erlebnissen und Begegnungen verknüpft und verbunden mit dem Jahr – und mir. Es ist also wie so oft: Es beginnt, weil man über Bücher sprechen möchte und prompt landet man im Leben selbst.
Januar: Tschüss, Schwitters. Hallo, trinkende Frau!
Wenn ich auf mein Lesejahr zurückblicke, bin ich ein wenig schockiert, dass ich recht viele Bücher mittendrin abbrach. Es begann gleich mit Schwitters von Ulrike Draesner. Vielleicht war es schlicht nicht der richtige Zeitpunkt. Das Buch steht im Regal und wartet auf eine Wiedervorlage. Im Januar befanden wir uns mitten im Winterlockdown und wir nahmen die Corona-Wanderreisen wieder auf, Gänge durch selten begangene Kölner Stadtviertel und die nähere Umgebung. Ich freute mich über Elisabeth Raethers Die trinkende Frau, ein Tipp von Dorothee Junck, Freundin und Inhaberin vom Buchladen Neusser Straße. Elisabeth Raether schreibt sehr tolle kulinarische Kolumnen für das ZEIT Wochenmagazin. Die trinkende Frau widmet sich dem alkoholischen Genuss aus weiblicher Sicht. Ein großes Vergnügen, auch wenn ich eins monieren muss: Das Buch ist zu kurz.
Februar: Ausgesetzte Zeilen und eine Wiedervorlage
Manche Lektüren, die ich im Fotoalbum finde, brach ich also ab. Andere finden sich gar nicht. Meist fotografierte ich mittwochs und samstags, was ich gerade las oder zu lesen begann. Denn jede Woche ist #Lesemittwoch und Samstage beginnen meist mit Lesen und Kaffee im Bett. Die Bettlektüre. U
nd so finde ich ein Foto mit einem Buch, das ich in meinem Leben schon öfter gelesen habe als irgendein anderes: Der Herr der Ringe. Seitdem ich es mit 15 oder 16 Jahren für mich entdeckte, lese ich es einigermaßen regelmäßig wieder (natürlich in der Übersetzung von Margaret Carroux). Wenn ich meinem Mitzählen trauen darf, dürfte das nunmehr das siebzehnte Mal gewesen sein, nicht mitgerechnet das ungezählte Anhören von Hörspiel und Hörbuch. Inzwischen blicke ich etwas unzufriedener auf das Epos. Aber die Lieblingsstellen lese ich zwischendurch öfter mal. Es dient der Beruhigung der Nerven.
Viel las ich Straßenlaternen, denn eine gute Seele setzte im Frühling Sätze aus Texten und Gedichten aus.
Irgendwann in diesen Tagen wurde ich als Patentante des öffentlichen Bücherschranks in unserem Viertel aufgenommen. Hier gibt es eine Karte mit allen öffentlichen Bücherschränken in Köln.
Man trug noch Stoffmasken. Karneval fand statt und doch nicht. Peter und ich nahmen die bislang erfolgreichste Folge unseres Podcasts auf: Agnes trifft Karneval. Einige Tage später gab es den im Livestream übertragenen, bewegenden Gottesdienst am Rosenmontag aus St. Agnes mit einer fulminanten Predigt von Kabarettist Jürgen Becker. Heidewitzka, Herr Kapitän.
März: Auf ins Belfast der 1980er
Ein Monat, der auf einem neuen Fahrrad begann. Die Geschichte vom grünen Wunder erzählte ich hier. Es war eine der Taten, die dieses Jahr für mich in aller Wärme leuchten lässt. Und die anderes nach sich zog, etwa auch neue Arbeit mit sich brachte. Derart versöhnt mit der Welt durfte es dann beim Lesen auch mal wieder als Kontrast ein Krimi sein. Ich folgte Adrian McKinty zum zweiten Mal nach Belfast und während ich dies schreibe, mache ich mir einen Knoten ins Taschentuch, dass ich mir ganz gut einen weiteren Band besorgen könnte. Denn der zweite Band dieser Reihe um einen katholischen Polizisten im protestantischen Belfast der 1980er Jahre gefiel mir sogar noch besser als der erste. Im März begann ich, an meinem Buch zu schreiben. Ein Besuch im Skulpturenpark Waldfrieden in Wuppertal. Nach und nach plöppten Testzentren im Stadtbild auf. Ich machte meinen ersten Corona-Schnelltest, den ersten von vielen, die folgen werden.
Eins der Bücher, die ich in diesem Jahr am häufigsten zur Hand genommen habe: Kohlrouladen & Krautwickel von Petra Kolip.
April: In bayrischer Einöde und ein Jahr ohne Sommer
Im April war ich bei meiner Haarschneiderin, entnehme ich dem Fotoalbum. Traditionell muss ich ein Vorher-Nachher-Foto machen, was aber hier keine Rolle spielen soll. Mutter Natur färbte sich grün und gelb und weiß. Das erste Grün landete auf dem Teller: Radieschen, Spinat und früher Kopfsalat, was für eine Freude! Ich diente mich beim frisch aufgestellten Bücherschrank als Patin an. Ende April fand am Welttag des Buches, der in Barcelona mit Rosen und Büchern als Sant Jordi gefeiert wird, eine schöne digitale Veranstaltung statt, die ich moderierte.
Bei den Herbergsmüttern ging es im Auftrag des Instituts für Moderne im Rheinland wieder um #KunstLebenUtopie. Ich fasste den Beschluss, den Wanderweg der Kalltalgemeinschaft vom Bahnhof Zerkall nach Simonskall nachzugehen. Aber eine Mischung aus verregneter Sommer und pandemiebedingter Erschöpfung ließ dieses Vorhaben nach 2022 rutschen. #StadtLandDüssel, ein gemeinsames Projekt von Herbergsmüttern und dem Kulturamt Düsseldorf und ausgewählten städtischen Kultureinrichtungen startete. Ein Projekt voller Erkenntnisse und Überraschungen, das in diesem Jahr seine Fortsetzung findet.
Es gab viele Radausflüge. So ließen wir uns an einem Tag von der Bahn nach Mönchengladbach bringen und fuhren über Klöster, Kirchen und Käffer zurück nach Köln. Die Gastronomie hatte noch wegen Lockdowns geschlossen, einzig ein Eis auf die Hand gab es im Kloster Knechtsteden.
Ich las ein Buch, das vermutlich alle außer mir bereits gelesen hatten: Tannöd von Andrea Maria Schenkel. Richtig gut. Außerdem fing ich unter anderem mit Fräulein Nettes kurzer Sommer zu lesen. Ich mochte, wie süffisant Karen Duve die Welt damals beschrieb, insbesondere die ungeheuer von sich eingenommenen Herren der Zeit. Ich las staunend vom Jahr ohne Sommer nach einem Vulkanausbruch im fernen Indonesien. Die junge Annette von Droste-Hülshoff indes wuchs mir binnen kurzem zu sehr ans Herz, um die Geschichte des Verrats an ihr weiterlesen zu wollen. Mittlerweile ist das Buch verliehen. Sollte es den Weg zurück zu mir finden, lese ich es womöglich weiter.
Mai: Abendflüge und ein wundersames Taxi bringen mich nach Hause, zurück zu mir
Wandern, mit dem Rad herumfahren, draußen sein – der Mai war schön. Einmal fuhren wir mit der Bahn nach Kall und von dort aus mit den Rädern über Monschau nach Aachen. Was für ein herrlicher Tag! Und in Raeren, das zu Belgien gehört, konnte man sogar in einem Biergarten ein Getränk einnehmen. In dem Moment wurde mir bewusst, wie lange der Lockdown schon bestand, wie lange die Gastronomie und die Geschäfte in Deutschland schon durchhalten mussten.
Im Mai kamen zwei Bücher zu mir, die sich als große Lieblingsbücher des Jahres entpuppen sollten: Abendflüge, die Essays von Helen MacDonald, und Hey, hey, hey, Taxi! von Saša Stanišić & Katja Spitzer. Labsal auf ganz eigene Weise, alle beide. Helen Macdonald hat einen Blick für das Verborgene in der Natur und nimmt einen in ihrer Liebe zu Flora und Fauna mit, voller Neugier und akribischer Wissbegier. Dabei ist ihr Ton liebevoll, nachdenklich, manchmal wehmütig und immer voller Achtung für das Leben, das uns umgibt. Ein Buch wie eine Wunderkammer. Ein wahrer Schatz.
Wie auch das Taxi-Buch. Klug, wärmend, getragen von Saša Stanišićs ganz eigenem von enormer Freundlichkeit und Gutmütigkeit geprägten Humor, in den sich stets auch Staunen über die Welt und Freude an der Sprache mischt. Ein wunderwärmendwuseliges Buch für durch die Pandemie und die Weltlage abgewetzte Gemüter. Und am Ende jede Geschichte fährt einen das Taxi zurück nach Hause, zurück zu dir.
Juni: Nichts Besonderes tun und tagträumen – wie so eine Ever Given im Panamakanal
In diesem Monat fuhr ich zum ersten Mal komplett mit dem Fahrrad von Köln ins Sauerland zu meiner Mutter. Eine Reise durch Raum und Zeit. Eine Weltenreise, die mein Denken über Fortbewegung nochmals veränderte.
Es ist seltsam, dass es inmitten dieser Pandemie so schwerfällt: Das Ausruhen. Das Buch von Claudia Hammond kam wie gerufen: Die Kunst des Ausruhens. Kein Ratgeber, Gott sei Dank. Auch keine optimierungssüchtige Vereinnahmung trotz „wir“. Stattdessen das Beleuchten von dem, was Ruhe verleihen kann – und warum. Nichts Besonderes tun und tagträumen sind nur zwei Dinge davon. Inspirierend und beruhigend zugleich.
Auch ein Buch über Lieferketten erreichte mich. Umso interessanter, nachdem ebendiese durch die Havarie eines Containerschiff im Panamakanal weltweit ins Stocken gerieten. Die Container waren gefüllt mit Fahrradteilen und Verlagsprodukten wie Bücher und Spiele – zumindest waren das die ausbleibenden Nachschübe, von denen ich erfuhr. Alles andere berührte meine Welt offenbar nicht allzu sehr, aber dass an der bestehenden Lieferkettensituation und Produktion vieles nicht sinnvoll sein kann, wurde nicht nur mir bewusster. Wenngleich einen die Komplexität dieses Themas schier umhaut. Umso hilfreicher ein einordnendes Buch dazu.
Juli: Ein Sommer und das Wasser
Es gab Urlaub und eine Reise nach Frankreich. Die Planungen und Gedanken dazu waren beinahe so komplex wie die Lieferkettenfrage. Am Ende aller Überlegungen waren wir im Périgord und zum Schluss noch ein wenig in der Normandie. Erst die Flüsse Dordogne und Vézère, dann der Ärmelkanal. Ich kam aus verschiedenen Gründen mehr zum Lesen als gedacht. Der große Sommer passte ausgezeichnet. Und auch wenn mir Alte Sorten besser gefallen hatte, ist Ewald Arenz auch hier wieder ein ganz wunderbares Buch gelungen. Auch hier Wehmut und Wärme im Ton, ein angenehm wenig an Spektakeln interessiertes Erzählen.
Eins meiner Bücher des Jahres ist Der Rhein. Biografie eines Flusses von Hans Jürgen Balmes. Ein Buch für das Jahr, aber ein Buch, dass darüber hinaus bleibt. Eine Reise entlang des Rheins mit William Turners Skizzenbüchern und viel Flußsehnsucht im Gepäck. Eine poetische Natur- und Kulturgeschichte über den Rhein und die Seele einer Landschaft. Darin werde ich noch oft lesen.
Überschattet wurde die Reise von den schlimmen Nachrichten aus der Heimat: Die Eifel und viele Regionen in NRW und Rheinland-Pflanz wurden von Starkregen und Überflutungen schwer getroffen. Menschen kamen ums Leben und verloren alles, viele vertraute Gegenden sind auf immer verändert. Und so zeigte dieser Monat in aller schmerzhaften Gleichzeitigkeit, wie schön und wie schaurig das Element Wasser wirken kann.
August: Das Drinnen ins Draußen bringen
Ich las mein erstes Buch von Elizabeth Strout. Nachdem ich von vielen Menschen Begeistertes hörte und las, deren Lektüren oft auch bei mir etwas berühren oder bewegen, widmete ich mich Mit Blick aufs Meer. Ich schrieb schon nach den ersten Sätzen, dass mich diese Art von genau beobachtenden, das Innere wie das Äußere umschließende Erzählen immer ganz ruhig und wach zugleich macht. So blieb es während des ganzen Buches und ich werde weitere Geschichten dieser Autorin lesen. Mit Blick aufs Meer wurde übrigens mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet. Hier kann man die Begründung nachlesen.
Ich schrieb viel, ich kochte oft. Ersteres klemmte etwas, meine Ansprüche standen mir im Weg herum, während alle Zweifel mit ihnen Bockspringen machten. Das Kochen ging mir leicht von der Hand, zusätzlich angespornt durch das Kochen in der Heimbürokantine auf Reisen. Wir fuhren mit Zelt und Wanderschuhen an die Sieg, landeten für eine Nacht auf einem Campingplatz des Grauens, um für die folgende Nacht im Paradies für Zeltende zu landen. Zurück in Köln fiel mir das Phänomen der Wetterpilze zu, für die ich in diesem Jahr eine Radtour basteln möchte. Denn Köln ist die Welthauptstadt der lustigen Bauwerke, wie man auf dieser Seite lesen kann.
Für Kerstin Giers neues Buch Vergissmeinnicht fuhr ich hier und da ins Bergische Land und wir sammelten Material für die sozialmediale Begleitung der großen Signieraktion beim Buchladen. Ein Buch voller Wärme – wie die Autorin selbst.
Ich begann, Schutzzone von Nora Bossong zu lesen. Habe ich es eigentlich beendet? Die erste Hälfte fand ich richtig gut, das Thema (Friedensmissionen der UN in Krisenregionen, Völkermord von Burundi) sehr interessant, um dann irgendwann den Anschluss an die seltsam überspannten Figuren und deren Geschichte zu verlieren.
September: Kostbare Tage
Ein Sommerfest! Wie schön war das. Die gesellschaftlichen Anlässe waren rar in diesem Jahr, so dass das Fest doppelt schön war. In diesem Monat besichtigte ich die neue Zentralbibliothek der Stadtbüchereien Düsseldorf. Wer mal eine wohldurchdachte städtische Kultur- und Bildungsreinrichtung für die Stadtgemeinschaft erleben möchte, sollte dorthin pilgern. Es ist ein guter Ort. #JetztKunstPflanzen, eine Kooperation von uns Herbergsmüttern mit der Kunsthallte Karlsruhe begann. Vier Wochen beglückende Inspiration und Erforschung des Kunstvollen in der Natur nebst einem beglückenden Besuch in der Kunsthalle auf meiner Radreise.
Denn ich brach auf in den Süden: Ich reiste mit Bahn, Rad und Zelt ins Ländle, nach Schwaben, zum Hädecke Verlag, um dort das erste Exemplar meines Buches in Händen zu halten. Über diese Reise gibt es schon bald einen eigenen Blogbeitrag. Ich war neun Tage lang unterwegs und es gab haarsträubende Erlebnisse und wundervolle Begegnungen. Das erste, wirklich eigene Buch anzufassen, so ausgesprochen schön vom Verlag gestaltet, hat mich umgehauen. Am Neckar ging es zurück und ich traf unterwegs famose Menschen. Im Buchladen gab es eine geschlossene Gesellschaft zur Feier meines Buches – und ein ganzes Schaufenster für mich. Umwerfend schön.
Auf der Reise habe ich mit Kostbare Tage von Kent Haruf begonnen. Ein Lieblingsautor, der ähnlich wie Elizabeth Strout über das Leben mit all seinen Fährnissen und Glücksfällen und vor allem dem dazwischen schreibt.
Richtig gut fand ich dann den Debütroman Junge mit schwarzem Hahn von Stefanie vor Schulte. Außergewöhnlich, wie ein düsteres Märchen, ein Plädoyer für Menschlichkeit in finsteren Zeiten. Es scheint mir außerordentlich gut in diese Gegenwart zu passen, selbst wenn es eine Begebenheit in längst vergangenen Zeiten schildert. Nun, vielleicht, weil es das tut. Als Mensch der Gegenwart fühlt man sich doch so gern allem, was vorher war, überlegen. Vermutlich frage nicht nur ich mich, ob wir in mancher Hinsicht nicht schon mal weiter waren. Nicht in jeder, das ist gewiss. Aber ich habe von Politik und Gesellschaft doch mehr erwartet und erhofft. Auch von mir? Ja. In mancher Hinsicht.
Oktober: Was bleiben wird?
Ich war auf der Buchmesse. Meine Gefühlslage war äußerst gemischt, als es hieß, dass wir von der Woche unabhängiger Buchhandlungen die Auszeichnung Lieblingsbuch der Unabhängigen in Frankfurt verleihen werden. Denn die Pandemielage entwickelte sich nach einem entspannten Sommer erwartungsgemäß unerfreulich. Aber es war vor Ort wirklich schön, einige Menschen nach langer Pause mal wiederzusehen, selbst wenn die Reise nach Frankfurt wegen des Sturms Ignatz uns ein ganz anderes Abenteuer bescherten. Wie es mit der Buchmesse wohl weitergeht? Es wurde viel über die Buchmesse gesprochen und diskutiert, mit ihr weniger. Meiner Ansicht nach sollte der Wechsel an der Spitze des Börsenvereins mit Karin Schmidt-Friderichs als Vorsteherin und Peter Kraus vom Cleff als Hauptgeschäftsführer auch einen an der Spitze der Buchmesse nach sich ziehen. Dem Börsenverein tut der Wechsel spürbar gut, der Ton ändert sich, wird wärmer und offener. Das macht Hoffnung. Es wäre so wichtig für die Buchbranche, wenn die für sie so wichtige Buchmesse nachzöge.
Vor der Buchmesse fanden zwei Bücher ihren Weg zu mir, die ich nicht mehr missen mag. Ich liebe die Gedichte von Ulrich Koch und so durfte auch sein neuer Band Dies ist nur der Auszug aus einem viel kürzeren Text nicht fehlen. Und ich stieß im Radio auf Trost. Vier Übungen von Hanna Engelmeier. Ende September sprachen wir im Podcast über Trost. Alles hing mit dem Buch von Louise Brown zusammen, mit dem ich mich im Rahmen einer Kooperation mit dem Diogenes Verlag intensiv beschäftigte: Was bleibt, wenn wir sterben. Noch etwas, das eine Fortsetzung finden wird.
November: Vom Eigenen fort ins Getümmel
Ein schillernder Monat! Das wundervolle GoetheMoMa von Damian Mallepree widmete den November ganz dem Geburtstagskind des Monats, Friedrich Schiller. Und ich stellte wieder mal fest, wie sehr ich mich Schiller verbunden fühle, inklusive Eskalationen der Liebe im Insta-Live.
Ich las Die Überlebenden von Alex Schulman. Gut erzählt, ja, aber irgendwas stimmt für mich an diesem Buch nicht. Wenn ich während des Lesens mehr auf die Konstruktion der Geschichte starre, als mich der Geschichte und ihren Figuren hinzugeben, stört mich das. Geschickt gemacht, aber ich mag es nicht, wenn ich mich kühl kalkulierend durch ein Buch bugsiert fühle. Von der Sorte las ich in diesem Jahr noch ein, zwei andere Bücher, was mich anhaltend fuchsig macht. Da las ich doch lieber in Brotjobs & Literatur aus dem Verbrecher Verlag – für mich als Verlag das, was der Suhrkamp Verlag mal in den 1970er und 1980er Jahren war: Ein Programm von hoher gesellschaftlicher Relevanz, vielschichtig, kantig und die Bücher durchweg auch noch gut gestaltet. Bücher, nicht Produkte.
Häfen und Bahnhöfe, sie sind meine Leidenschaft. Stundenlang kann ich vor ihnen stehen und warten, bis eine neue heranbrausende Welle mit Menschen und Waren die schon zerflutete überrollt.
Schon wieder ein Buch aus dem Jung & Jung Verlag, das ich sehr mochte. Reiseberichte und Texte von Stefan Zweig, bekanntere und solche, „die an entlegenen Orten erschienen sind. Sie alle führen uns vom Eigenen fort in die Ferne.“
Im November stand der neunte Digital Education Day an, das Bildungscamp der Stadt Köln, das ich seit 2013 mit Philipp Wartenberg moderiere. Auch in diesem Jahr digital. Nachdem 2020 das Interesse enorm war und fast 4.000 Leute weltweit teilnahmen, hatte sich der Leidensdruck 2021 deutlich ins nicht-digitale Leben verlagert. Es nahmen zwar weniger Menschen teil, aber was da Jahr für Jahr qualitativ in Sachen Digitaler Bildung an Schulen und Hochschulen gezeigt und diskutiert wird, ist enorm beeindruckend.
Außerdem fand das Blogsofa statt, das von mir moderierte Talkformat der Stadtbüchereien Düsseldorf, und feierte sein 5-jähriges Jubiläum.
Dezember: Buchladenliebe!
Ich unterstützte auch in diesem Jahr als Digitalfee den Buchladen Neusser Straße in Köln-Nippes. Unter anderem verfilmten wir den Weihnachtsprospekt, in dem jede*r vom Buchladenteam über seine Empfehlungen für den Gabentisch sprach: Nippflix war geboren. Ich las, was Angelika Overath über Krautwelten schrieb und Cord Riechelmann über Krähen. Und nachdem ich schon Alle, außer mir von Francesca Melandri so überragend fand, war für mich ihr Eva schläft ebenfalls einfach grandios. Melandri ist eine wahrhaft große Erzählerin, sowohl was die Schilderung politischer und historischer Ereignisse betrifft, als auch die inneren und äußeren Bedingungen zwischenmenschlicher Beziehungen.
Wer sich übrigens fragt, was der #Lesemittwoch ist: Bitteschön. Demnächst werde ich das Buchladenblog wiederbeleben und es wird eine Aktualisierung des Beitrags geben.
Mein Jahr steht in vielerlei Hinsicht in einem krassen Kontrast zur Weltlage und zu den Ereignissen, für die dieses Jahr vermutlich einst stehen wird. Ich erfuhr sehr viel Gutes, man tat mir Gutes, ich erreichte Gutes. Aber all das erzeugte in all seiner Vielschichtigkeit zu strapaziösen Spannungen. Am Ende des Jahres fiel ich einfach in mich zusammen wie ein ausgeleierter Sitzsack.
Nicht nur lesen, sondern auch hören: Radioliebe
Es gibt Jahre, in denen habe ich mehr gelesen. Wobei, gelesen habe ich viel. Aber nicht sehr viele Bücher, sondern häufig in Büchern, die mir in kürzeren Texten oder Geschichten Zuflucht und Denkräume boten. Oft war Hören leichter. Ich hörte mir viele Podcasts und Radiosendungen an. Neben den Büchern ist es das Radio, das mich in Breite und Tiefe immer wieder überrascht und mich mit Geschichten und Informationen erreicht.
Lob und Preis dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk abseits des egalen Dudelfunks. Die Audiotheken der ARD und des DLF sind wahre Schatzkisten. Meine Hoffnung ist, dass die Entscheider*innen in den Rundfunkanstalten verstehen, dass Podcasts auch deshalb so fantastisch sein können, weil sie sich ZEIT nehmen für Gespräche und Themen. Die Welt kann und muss nicht in anderthalb Minuten erklärt werden. Umso wichtiger ist der Raum, sich mit Fragen auseinanderzusetzen und sie einzuordnen.
Besonders schätze ich die Denkfabrik des Deutschlandfunk. Der DLF fragt regelmäßig die Hörer*innen nach einem übergeordneten Thema, dem sich dann viele Sendungen aus verschiedenen Blickwinkeln widmen werden. Seit 2019 stimme ich bei der Auswahl ab. Auch wenn das Jahresthema 2020, Dekolonisiert euch, wegen der Pandemie etwas unterging, habe ich enorm viel daraus mitgenommen. 2021 war das Thema Auf der Suche nach dem ,Wir‘, das im Vergleich ein wenig an mir vorbeiging. Womöglich lag es daran, dass ich das ,Wir‘ in diesem Jahr als besonders ernüchternd empfand.
Thema der Denkfabrik 2022 ist Arbeit in Deutschland. Vielleicht nehme ich es zum Anlass, einiges zu diesem Thema zu lesen und darüber in Form von Texten nachzudenken. Meine Selbstständigkeit jährt sich in diesen Tagen zum zwölften Mal. Zwölf Jahre. In den ersten zwölf Jahren meines Lebens habe ich Sprechen und Laufen gelernt. Es war eine Zeit voller erster Male, die mich geprägt haben. Was haben zwölf Jahre Selbstständigkeit mit mir gemacht, wie hat sich Arbeiten, wie hat sich mein Leben verändert?
Ändern. Kein Jahr ohne Vorsätze. Immerhin haben damit meine Gänge ins Heimbüro begonnen. Vielleicht ist der Trick, dass man sich etwas Gutes und Schönes vornehmen sollte. Ich bin nun endlich Fördermitglied bei den Krautreportern und versuche, fortan meine Lesegewohnheiten zu ändern. Weniger abwetzendes Doomscrolling in Social Media: Neben Radio will ich auch wieder mehr vertiefende journalistische Texte lesen. Der nächste Schritt ist, dasselbe auch bei den Riffreportern zu tun. Guten Journalismus abseits von der Jagd nach Klicks und heuchlerischen Pseudo-Fragen wie „Soll man Menschen retten oder es lieber lassen?” gibt es.
Nun.
Vollständig ist das alles nicht. Viele Bücher blieben unerwähnt. Aber es muss genügen. Die ersten Tage des Januar sind bereits vergangen. Während ringsum im Land Schnee fällt, zwitschert in Köln morgens schon ein Vogel in der Frühe.
Die Tage werden wieder heller. Wohlan!
*Es zog übrigens ein Wörter-Kühlschrankmagneten-Dingsi ein und diese Wörter fielen mir als beinahe erste zufällig in die Hände. Zufall? Oder Schicksal? Das Einhorn wird es wissen. Oder der Wald.
P.S. Was außerdem schön war und schön sein wird
Auch in diesem Jahr gibt es am letzten Montag im Monat abends ab 19 Uhr ein Insta-Live beim Hädecke-Verlag, wo die Heimbürokantine zu Gast ist. Wir werden kochen und schwatzen, vielleicht auch wieder mit Gästen. Und am letzten Freitag im Monat gibt es vormittags um halb zehn ein Insta-Live mit Mira Scholz vom Buchladen Neusser Straße, wo wir eine halbe Stunde lang unsere Buchtipps des Monats durchsprechen. Sind dann auch immer in den Videos des Buchladens nachzugucken.
Ich habe es genossen, nochmal in komprimierter Form über dein Jahr zu lesen – auch wenn wir uns ja eh täglich lesen. 😉 Ich habe mir auch gleich noch ein paar Buchtitel notiert.
Liebe Ute, wie schön, ich freue mich. Da bin ich gespannt, welche Buchtitel bei Dir auftauchen werden!
Mit am liebsten mag ich Deine Alltagsbeobachtungen beim Gang ins Heimbüro. Wahrscheinlich, weil ich so Rituale schön finde. Ah, so sieht es heute am Anleger aus. Guck mal, hier sind wieder Leute am Büdchen. So was. Und: Schiller war wirklich richtig schön. :))
Oh ja! Schiller! Das hat mich so mit Glückseligkeit erfüllt! Quasi ein Schiller-Booster. Die Gänge ins Heimbüro werden nun auch wieder stattfinden – gut zu wissen, dass ich Dir damit eine Freude machen kann.
So ein schöner Rückblick. Hat mir Spaß gemacht und meine Buchliste ist länger geworden. Auch ich habe in diesem Jahr 3 Bücher nicht zu Ende gelesen – und mich darüber gewundert. Ein Wörter – Kühlschrankmagneten -Dingsi hätte ich auch gerne.