Ich trete vor die Tür.
Hm. Um bei der Wahrheit zu bleiben: Ich ziehe mich selbst am Haarschopf vor die Tür. Denn die Gemütslage ist eher auf Zuhause einrollen und auf bessere Zeiten hoffen eingestellt. Es kam noch Wetter hinzu und mir einstweilen die Freude am Draußensein abhanden. Kein Gehen. Kein Rad fahren. Kein Reiten. Auf die eigene Schaffenskraft wirkt sich all das nicht förderlich aus. Aber egal, mit wem man spricht: Es scheinen alle abgewetzt und müde zu sein. Nun, so geht es nicht weiter. Also Winterjacke an und raus vor die Tür.
Mutter Natur geht angenehm unbeeindruckt ihren Geschäften nach: Die Bäume puscheln, allerlei Gräser entwachsen dem Boden, hier und da blüht es und die Vögel zwitschern sich die Seele aus dem ob der Kälte aufgeplusterten Federleib. Und schon hängen manche Kastanien ihre ersten Blätter wie nasse Putzlappen in die Welt. Aber im Vergleich zum letzten, schon sehr früh zu warmen Jahr prescht Mutter Natur nicht ganz so hurtig voran.
Am Wegesrand baumelt ein verlassenes Hemd.
Ich habe meine Zweifel, dass es jemand schlicht zum Trocknen aufgehängt hat. Auch wenn ich bei mir denke, dass sich der Laufstall des Jungbaumes durchaus gut als Wäschespinne eignet. Nun ja, aber bevor ich nach Hause renne, um vielleicht etwas dazuzuhängen, denke ich lieber darüber nach, was es mit dem Oberhemd auf sich haben könnte. Befand sich doch bis Jahresende gleich hinter mir eine Wäscherei. Ob das Hemd eigentlich zum Säubern gebracht werden sollte und dann war es vielleicht doch nicht so wichtig? Das Kleidungsstück indes schweigt sich aus und baumelt im Wind.
Ein technisches Gerät auf einer Bank gibt mir Rätsel auf. Es wirkt wichtig, aber seine Wichtigkeit erschließt sich mir nicht. Das verschmutzte und durchnässte Schaf um die Ecke hingegen ist selbsterklärend, auch wenn es offenkundig ausgesetzt wurde. Wie herzlos!
Der Karneval von vor zehn Jahren lässt grüßen.
Zwei Ecken weiter schreitet die Baustelle voran. Ein ganzes Arreal wird abgerissen und neu bebaut. Seltsam riecht es, modrig, verfallen. Auf der Zunge ein mehliger Geschmack. Einige Minuten lang sehe ich einem Bagger zu, wie er Erdreich und Steine auf einen LKW läd. Womöglich ist das eine befriedigende Arbeit: Man sieht, was man tut und kann am Abend erzählen, wieviel man (weg-)geschafft hat.
Auf der Hundwiese bietet sich ein anderes Bild: Eifriges Gewedel. In diesem Jahr sind viele neue Hunde hinzugekommen. Corona-Hunde. Wieviele werden wohl übrigbleiben, wenn die Inhaber:innen eines Tages wieder in ihre Büros und auf ihre Geschäftsreisen müssen? Aber ich möchte niemandem vorauseilend Unrecht tun. Heute wirken alle entspannt und glücklich, die auf zwei Beinen mit viel Abstand zueinander, die auf vier Beinen eher ohne, übereinander kugelnd und dabei aufgeregt jappend.
Dieser Tage ist das Agnesviertel wieder filmreif. Ein Filmteam filmt in Etappen das halbe Veedel ab. An vielen Ecken finden sich die Absperrungen, zu allem bereit. Wohl mal nicht die siebenhundertzwölfte Folge einer Revolverpistole, sondern was Ordentliches, hörte ich. Komisch nur, wenn der Ökomarkt fürs Fernsehen an einem falschen Tag aufgebaut wird und sich dort Szenen abspielen, die die Verfremdung durch die Kunstform Film besonders deutlich machen. Die Kinder zu fröhlich, die Stimme der Mutter zu glockenhell, der Mann am Gemüsestand zu jovial. Wirklichkeit lässt sich nicht imitieren.
Das Gehen tut gut.
Auch wenn sich die Frühlingskühle nach wie vor wie eine persönliche Beleidigung anfühlt: Ich habe nichts gegen kalte Tage. Doch nicht um diese Zeit! Vielleicht hätte ich Bäuerin oder Gärtnerin werden sollen. Dann hätte ich immerhin gute Gründe, mit dem Wetter zu hadern. Egal, mit welchem Wetter. So ist es müßig. Vielleicht ist es einfacher, sich über das Wetter zu empören als über die Diskrepanz zwischen dem Tun der Politik und den Empfehlungen der Wissenschaft angesichts einer sich täglich verschärfenden Pandemie-Lage.
Am Bücherschrank sortiere und räume ich. Mir kommt es vor, als sei da ein ganzer Schwung alter Schätzchen entsorgt worden. Das muss man im Blick behalten, bevor der Inhalt allzu müffelig wird – auch inhaltlich. Entzückt bin ich jedoch von einer sehr abgeliebten Ausgabe von Goethes Faust. Kurz bin ich versucht, sie mitzunehmen und den Anstreichungen und Bleistiftnotizen darin nachzugehen.
Stattdessen erinnere ich mich gerade noch rechtzeitig daran, dass ich selbst noch zwei große Tüten mit aussortierten Büchern zuhause habe. Acht Bücher landen gleich mal im Schrank. Nach und nach werde ich meine Fontane-Sammlung in den Bücherschrank auflösen. Ich habe beschlossen, dass ich den Regalplatz für ständige Sammlungen bestimmter Autor:innen freigebe. Immerhin bin ich keine Wissenschaftlerin, sondern einfach Leserin. Ich verabschiede mich also von jeglichem Anspruch an mich selbst, irgendwelche Bücher da haben zu müssen. Deshalb darf etwa auch Don Quijote nun andernorts gegen Windmühlen kämpfen.
Eigene Ansprüche loslassen. Darüber werde ich nachdenken. Mir kommt es so vor, als habe der Mangel am Loslassen viel damit zu tun, warum ich diverse Vorhaben gerade nicht umsetze.
An der Haustür lande ich also heute gleich zweimal, weil ich zwischendurch noch rasch die Bücher für den Bücherschrank holte. Gleich zweimal begegne ich demselben Nachbarn, der reingeht, als ich rausgehe, und rausgeht, als ich reingehe. Wir lachen uns kaputt. Man ist ja auch nichts Aufregendes mehr gewöhnt, da genügen dann solche Vorkommnisse. Gelüftet und merklich aufgeheitert schwinge ich mich an den Schreibtisch.
Zu guter Letzt noch zwei weiterführende Links: Nicola Wessinghage betreibt den sehr schönen Podcast Lob des Gehens, über das Glück, zu Fuß weiter zu kommen. Es ist mir eine Ehre, dass ich zu Gast war. Es ging auch um die Gänge ins Heimbüro. Mit Peter Otten ging ich nicht nur zur Schule – eine Tatsache, die wir selbst erst entdeckten, als wir uns hier im Agnesviertel kennengelernt hatten -, sondern wir nehmen seit einem Jahr ebenfalls einen Podcast auf, ziemlich regelmäßig sogar. Zuletzt über Müdigkeit. Thema der Stunde.
Liebe Wibke, eigentlich könntest du Stadtschreiberin vom Agnesviertel sein. Mir gefallen deine Beobachtungen immer. Nicht nur wegen Faust.
LG
Das ist ein sehr schöner Gedanke, Damian. Dankeschön!
Ganz besonders gern gelesen.
Und weil ich es drüben vergass: Eine gute Reise wünsche ich Dir! #Liste