Ich trete vor die Tür.
Ich weiche vom üblichen Gang ins Heimbüro ab und begebe mich zum Bürgertest an den Eigelstein. Trotz Impfung und Boostern hatte ich das Bedürfnis. Ich fühlte mich nicht so und man weiß ja nicht. Herz und Seele hängen mitsamt allen Gedanken auf Halbmast. Als gäbe es mit Pandemie und Klimakatastrophe nicht schon hinreichend Unbill, will Putin in die Grenzen von Irgendwann zurück und bedroht den Frieden. Was für ein Irrsinn.
Ein Kormoran!
Am Tümpel im Park zwischen Ebertplatz und Bastei sichte ich einen Kormoran. Ich kann es zunächst kaum glauben, aber der Vergleich meiner Fotos mit dem Internet bestätigt es. Das Sensationelle ist, dass er auf dem Entenhaus inmitten eines Teiches unweit eines der am stärksten befahrenen Plätze Köln hockte. Aber gut, ein Nutria wohnte auch schon hier. Und der Tümpel enthält Kormoranfutter: Fische. Ziemlich bald auch Eier der ansässigen Enten und Gänse. Expeditionen ins Tierreich mitten in Köln.
Am Rhein blicke ich auf die runden Nupsis mit Kreismuster zu meinen Füßen. Mein Hirn strengt einen etwas kruden Vergleich zum Leben an sich an, das auch auf Kreisbahnen zu laufen scheint und jeder Mensch muss rauskriegen, welche Geschwindigkeit am besten ist, um nicht aus der Kurve zu fliegen. Das klingt alles etwas bemüht, aber auch ein Hirn tut nur, was es kann.
Noch während ich etwas unzufrieden auf den Boden starre, erreicht mich ein Gruß von schräg vorn: Dort spaziert eine sehr geschätzte Nachbarin mit prächtiger Pudelmütze auf dem Kopf und einem schwarzlockigen Cockerpudelwusel bei Fuß. Ein schöner Schwatz und die Stimmung hebt sich sogleich, zumal das kleingelockte Wuseltier seine Nase auf mein Handgelenk presst und auch ein Hosenbein abriecht. Ich fühle mich sehr geehrt und Tierkontakt ist stets das reine Glück.
Vorbei an der Baustelle, über die Straße, in den Park, an der verwaisten Hundewiese entlang, einen gefällten Lieblingsbaum registrieren, ringsum blüht und knospet es, das blaue Band, da, nun ist es hingeschrieben. Zur Agneskirche hochwinken, noch sieht man sie gut durch die blätterlosen Winterzweige. Über Frau Agnes dickbäuchige Schafwolken. Und schon stehe ich am Bücherschrank.
Innendrin verhältnismäßig wüstes Durcheinander.
Da wurde gekramt und gesucht, hoffentlich auch gefunden. Ich ordne. Ich finde. Ich ziehe ein schmales Bändchen mit Briefen von Gustave Flaubert an die Damenwelt heraus. Das springt mich an und muss mit. Und dann sehe ich es: Zur Nacht. Autoren im Westdeutschen Fernsehen. Ein in gebrochenem Weiß gehaltener Leinenband in feiner Fadenheftung, der Titel in violetter Schrift in bescheiden großer oder vielmehr kleiner Schrift. Was mag das sein? Älter, ganz sicher, schon das fehlende Gendern mutet für mich inzwischen altbacken an. (Eines Tages werden vielleicht unsere Versuche einer gleichberechtigteren Sprache ebenso verstaubt anmuten und eine andere Lösung wurde gefunden, wer weiß.) Ich blättere, schön griffiges und hochwertiges Papier, mir fallen Namen wie Hilde Domin und Ilse Aichinger ins Auge, Wolfgang Hildesheimer, H.C. Artmann – es muss mit. Zuhause werde ich in Ruhe herausfinden, was es mit dem Buch auf sich hat.
Wieder im Heimbüro angekommen.
Ich sehe mir dieses geheimnisvolle Buch genauer an. »Dieses Buch wurde hergestellt von der Bauerschen Gießerei in Franfurt am Main«. Satz und Druck Heidelberger Gutenberg-Druckerei, Bindearbeit Hollmann KG, Darmstadt, Gesamtausstattung Willy Fleckhaus. Fleckhaus, die Gestalterlegende! Kein Wunder, das mir das Buch quasi aus dem Bücherschrank in die Hände wuchs. Herausgegeben ist es von der Pressestelle des Westdeutschen Rundfunks unter Leitung von Josef Rick. Es gibt ein Vorwort von Werner Koch. Ganz hinten im Buch lese ich, dass er der »Abteilung Kultur« zuzuordnen ist, Intendant war zum Zeitpunkt des Erscheinens Klaus von Bismarck, Programmdirekter war Werner Höfer und Hans-Geert Falkenberg wird für die Hauptabteilung Kultur und Unterhaltung genannt. Was für ein Männerladen (nicht nur) der WDR damals war. Nein, damals schrieb man ihn noch klein, also wdr.
Damals. Wann genau das Buch erschienen ist, bleibt mir verborgen. Im Vorwort heißt es: »Bis zum 1. Dezember 1969 haben für die Sendereihe »Zur Nacht« 135 Autoren 412 Texte gelesen.« Die Sendetermine sind weiter hinten im Buch genannt und liegen alle zwischen 1967 und 1970.
Das Buch ist also eine Sammlung von Texten, die in einer Sendereihe namens »Zur Nacht« von den Autoren und Autorinnen gelesen wurden. Ich finde nur eine knappe Notiz dazu bei fernsehserien.de:
Zum Programmabschluss des 3. Fernsehprogramms des WDR bot die Serie täglich noch 5–10 Minuten Unterhaltung. Meist trugen Prominente (auch ihre eigenen) Gedichte und Erzählungen vor, klassische Sänger*innen schmetterten mit kleiner Begleitung noch eine Arie oder ältere Kurzfilme aus dem In- und Ausland wurden als Betthupferl dargeboten. (Text: Gregor Overzier)
Wie wunderbar ist das!
Und was war der wdr doch mal für ein mutiger Sender mit einem großen Herz für Kultur, Begegnungen und Experimenten. Und was für ein Jammer ist es, dass man nun in sich selbst festhängt, auf Quoten fixiert und ängstlich geduckt vor einem angenommenen Publikumsgeschmack, ein Publikum, dem man sich nicht mehr, dem man nichts mehr zumuten will. Übrigens gab es auch mal die famose Diskussionssendung zu meist kulturpolitischen Themen ohne feste Länge. Ihr Titel: »Ende offen«. In die Fernsehgeschichte ging die Sendung ein, weil Nikel Pallat, damals Manager von Ton Steine Scherben, ein Beil mitgebacht hatte, mit dem er in einem vorgeblichen oder tatsächlichen Wutausbruch auf einen Studiotisch einschlug. Der Tisch überlebte die Attacke, die Sendung auch. Sie lief von 1967 bis 1979.
Ich blättere in dem Buch »Zur Nacht«, entdecke bekannte und weniger bekannte Texte und Autor*innen. Wer da noch alles lebte und schrieb. Ich werde wehmütig, denn wie fantastisch wäre ein solches Format heute noch, wie dringend nötig, gerade in Krisenzeiten – und doch, ginge das noch? Alle, auch die Verlage, die Autoren, die Autorinnen und natürlich die Fernsehleute, sind im Marketingdauerlauf unterwegs. Würde da wirklich noch jemand einen Text aus dem laufenden Prozess lesen, würde man ihn oder sie lesen lassen, ohne vorher zu proben, alles abzusprechen, abzunicken, bloß keine Fehler, kein Wagnis und bitte auch nicht der kleinste Faux-pas. Vielleicht findet man solche Formate nun eher in Social Media, auf Instagram, TikTok oder YouTube. Es könnte aber auch eine Sendereihe bei ARTE sein und vielleicht dort in der Mediathek auf die warten, die kommen, um zu finden, wonach sie nicht suchten.
So ist dieses Buch nun gefunden und mit nach Hause gekommen, um zu bleiben. Zum Blättern, zum Lesen und eine Erinnerung an glücklichere Fernsehzeiten, als Kultur nichts war, wovor man sich wegduckte.
Hier ein Auszug aus dem Vorwort von Werner Koch:
»»Zur Nacht« ist der Titel einer Sendereihe, mit der das Westdeutsche Fernsehen sein tägliches Programm beschließt. Es sind zumeist kurze Beiträge von wenigen Minuten: aus dem Bereich der Musik, des Films, der Kunst oder der Literatur. Die hier vorgelegte Auswahl beschränkt sich auf die Texte lebender Autoren.
Alle Texte sind von den Autoren selber gelesen worden. Wir haben sie mit Mikrophonen und Kamera aufgesucht in ihrer Wohnung, in ihrer Stammkneipe, bei ihrer Freundin; manchmal sind sie auch zu uns ins Studio gekommen. Natürlich haben wir den Autoren Vorschläge gemacht, welche Texte sie lesen sollten, doch nur ganz selten kongruierten wir. Fast immer wollten die Autoren aus Werken lesen, an denen sie gerade arbeiteten, und insofern waren viele Texte zum Zeitpunkt der Aufnahme oder gar der Sendung noch unbekannt.
Bis zum 1. Dezember 1969 haben für die Sendereihe »Zur Nacht« 135 Autoren 412 Texte gelesen. In der hier vorgelegten Auswahl fehlen wichtige Namen: Friedrich Dürrenmatt etwa, aber auch Heinrich Böll oder Peter Huchel. Warum fehlen sie?
Dürrenmatt hatte keine Lust.
[…] Peter Huchel fehlt, weil wir in der DDR nicht filmen dürfen. Wir bemühen uns seit Jahren, eine absolut unpolemische und also unbeirrbar wahrhaftige Darstellung zu geben über die Literatur der DDR. Wir warten. Wir warten ganz einfach darauf, daß ein Autor, ein Kameramann und ein Toningenieur die Genehmigung bekommen, sich mit Peter Huchel oder mit Wolf Biermann bei einem Whisky oder bei einem Wodka unzensiert und unkontrolliert zu unterhalten. […]«
Und zur Textauswahl bemerkt Werner Koch: »Es ging uns um Gegenwartsnähe, nicht um den Ewigkeitszug. Die Texte sprechen für sich selbst.«
Ich mag das alles sehr. Ich vermisse diese Sendereihe, ohne sie vorher gekannt zu haben. Sie wurde eingestellt, bevor ich geboren wurde.
Alle Tage
Und was in diesen Tagen gesendet werden müsste, ist Alle Tage von Ingeborg Bachmann. Zur besten Sendezeit für alle, die finden müssen, weil sie nicht ahnen, was sie suchen sollten. Oder warum und es erst im Moment des Hörens und Lesens begriffen.
Alle Tage
Der Krieg wird nicht mehr erklärt,
sondern fortgesetzt. Das Unerhörte
ist alltäglich geworden. Der Held
bleibt den Kämpfen fern. Der Schwache
ist in die Feuerzonen gerückt.
Die Uniform des Tages ist die Geduld,
die Auszeichnung der armselige Stern
der Hoffnung über dem Herzen.Er wird verliehen,
wenn nichts mehr geschieht,
wenn das Trommelfeuer verstummt,
wenn der Feind unsichtbar geworden ist
und der Schatten ewiger Rüstung
den Himmel bedeckt.Er wird verliehen
für die Flucht von den Fahnen,
für die Tapferkeit vor dem Freund,
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse
und die Nichtachtung
jeglichen Befehls.