Ich trete vor die Tür, der Himmel grellgrau, die Bäume schon septemberdunkel. Die Straßen sind noch feucht vom Nachtregen. Schmatzend die Autos und die Fahrräder, gedämpft die Schritte der Passantinnen. Der Weg bis zum Rhein hängt voller Gedanken. Ich werfe meinen rosaleuchtenden Wahlbrief in den gelben Briefkasten. Tor!
Jacke an. Jacke zu. Jacke auf. Jacke aus. Ich krempele die Ärmel meines Pullis auf, während ich die nächsten Regenwolken heranrücken sehe. Ich erreiche den Rhein. Am Anleger ist was los: Ein Flusskreuzfahrtschiff liegt vor Anker. Taxis davor. Nicht weit weg stehen drei Busse. Alle haben ihren Motor an. Dieseldämpfe liegen in der Luft. Schnell weiter, vorbei an den Bäumchen voller gelb leuchtender Zieräpfel.
Ich streife die Baustelle. Auf eine etwas unangenehm sensationslüsterne Weise fasziniert mich das Ausmaß: Ein Häuserblock wurde in den vergangenen Monaten abgerissen und nun ist dort ein gigantisches Loch, wo vorher Menschen wohnten und arbeiteten. Da, wo vor noch kurzer Zeit ein grüner See war, ist nur noch eine Lache. Darin ein Bagger. Weiterhinten wird gebohrt. Es rattert und rummst. Lastwagen voller Schutt und Erde fahren vom Gelände. Bei aller Geschäftigkeit vermittelt sich mir auch eine gewisse stoische Unbeirrtheit. Es sieht aus wie ein großes Durcheinander, aber alle scheinen zu wissen, was sie tun. Alle sehen, was sie tun. Gut, und alle drumherum hören, was sie tun …
Auf der Hundewiese dreht ein rotbrauner Hund mit einem gelben Ball im Maul seine Runden. Er ist nicht zu stoppen. Zwei andere Hunde werden an der Leine um die Wiese herumgeführt. Ihre Blicke sind nicht zu deuten. Der Rotbraune rennt. Das Bändchen seines gelben Balls flattert im Wind, ebenso die Ohren des Rotbraunen.
Gymnastik, ruft mir die Kunstlitfaßsäule entgegen. Kunst in einfachen Bildern und in einfacher Sprache von Andreas Maus: »Die Olympischen Spiele sind gut, wenn die Olympischen Spiele gerecht sind. Und wenn alle mitmachen können. „Sport für alle“ ist besser als Profi-Sport.« Ich denke an den rotbraunen Hund, der vielleicht immer noch rennt.
Ich gehe weiter in den Hilde-Domin-Park, am Fort X vorbei. Die Wiesen sind ungewöhnlich grün für den letzten Tag im August, die Sträucher und Stauden sprießen üppig. Zeugnis eines Sommers mit viel Regen und eher gemäßigten Temperaturen. In den letzten drei Dürresommern waren die Wiesen gelbbraun und trocken. Irgendetwas dazwischen wäre so schön. Die Wetterfrösche prophezeien noch einige sommerliche Tage. Möge es so kommen.
Dort, wo lange Zeit meine Schneiderin mit ihrer Reinigung residierte, wird nun bald ein thailändischer Imbiss eröffnet. Ich hoffe sehr, dass es ein guter sein wird. Ich habe mir oft gewünscht, dass es im Viertel keine thailändischen Suppen und Kokosmilch-Currys gibt. Ich drücke meine Nase an die Scheibe. Es sieht so aus, als ginge es nun bald los. Im Geiste bestelle ich schon mal Tom Yam Gai und Gaeng Massaman.
An einer der Bänke vor der Agneskirche entdecke ich einen formidablen Aschenbecher: Jemand hat eine Konservendose umfunktioniert. Sie ist nun ein Kippenfresser und hilft hoffentlich dabei, dass ein paar Zigarettenkippen weniger auf dem Platz landen. Am jungen Baum neben der ehemaligen Reinigung hebe ich den Blick und entdecke überrascht eine neue Maske. Jemand im Viertel setzt sie hier und da aus.
Ich schaue noch im Bücherschrank nach dem Rechten. Eigentlich haben wir immer eine feine Sammlung von Büchern darin. Am Wochenende wurde jedoch ein ganzer Schwung altes Zeug eingestellt. Eine Haushaltsauflösung? Nun ja. Ich ordne sie. Hoffentlich finden die leicht müffelnden Bücher dennoch ihre Leser*innen.
Ich erreiche die Haustür. Die Jacke fällt mir herunter, während ich nach dem Schlüssel krame. Jemand auf der anderen Staßenseite ruft. Ah, guten Morgen, Frau Nachbarin! Ja, ebenso, schönen Tag, gute Woche.