Gestern Abend war ich im Museum.
Ich habe Kunst gesehen, in leuchtenden Farben, war in lichten Museumsräumen – und ich habe mit Menschen über Kunst gesprochen. Verrückt. Und natürlich digital. Das Museum Wiesbaden lud zur einer Online-Führung durch die Ausstellung mit Werken von August Macke: Paradies! Paradies? Im Anschluss fand ein Gespräch via Zoom mit dem Kurator Dr. Roman Zieglgänsberger statt. Das war ein Event für alle, die sich in digitalen Räumen wie etwa Blogs oder Instagram für Kunst und Kultur einsetzen. Schön war, viele vertraute und auch neue Gesichter zu sehen. Schlussendlich bauten wir im Beisein von Kunstvermittler Daniel Altzweig unsere höchsteigenen Vorstellungen vom Paradies. Hierfür hatte uns das Team des Museum Wiesbaden vorab einen Karton mit Materialien, Klebestift, Schere und Proviant zugesendet. Unter #ComMuWity finden sich einige Exemplare unserer Machwerke.
„… bei mir ist Arbeiten ein Durchfreuen der Natur, der Sonnenglut und der Bäume, Sträucher, Menschen, Tiere, Blumen und Töpfe, Tische und Stühle, Berge, Wasser beschienenen Werdens …“
August Macke an Hans Thuar, 1910
Was ich festgestellt habe: Wie wenig weiß ich doch über August Macke. Der Blick ist verstellt durch die Bekanntheit seiner Bilder, die Bekanntheit seines Namens, Macke, aha, ja, weiß ich, weiter. So war es wohl bisher. Mir war in der Tat nicht bewusst, dass er nur 27 Jahre alt wurde. 1914 starb er bei Perthes-lès-Hurlus, einem Ort in der Champagne zwischen Verdun und Reims. 27 Jahre. Und er hinterließ ein erstaunlich umfangreiches Werk. Ich hörte gestern, was für ein einnehmender und freundlicher Mensch er gewesen sein muss. Das Zitat oben steht auf der Seite zur Ausstellung, wo man neben ausgewählten Werken auch einen Einblick in Mackes Leben erhält (unter den Bildungsangeboten für pädagogische Gruppen – sowas schätze ich immer sehr. Prima wären noch Texte in Leichter Sprache, Stichwort Inklusion).
August Macke malte viele Bilder seiner Frau und seiner Familie, Bilder voller Warmherzigkeit und Zuneigung. Aus heutiger Sicht wirken sie zunächst recht gefällig, aber damals riefen sie helle Empörung hervor. Davon läse ich gern mehr, auch, um meinen eigenen Blick auf Mackes Kunst zu erneuern.
Nach dem Krieg wurde von seiner Frau Elisabeth, um einem schnellen Vergessen sogleich entgegenzuwirken, aus dem Nachlass des Künstlers eine „August Macke Gedächtnis-Ausstellung“ mit über 160 Werken organisiert, die im Herbst 1920 auch im Museum Wiesbaden gastierte. Anlässlich dieser vor exakt 100 Jahren durchgeführten umfassenden Retrospektive präsentiert das Museum Wiesbaden in enger Kooperation mit dem Kunstmuseum Bonn August Macke in all seiner Vielfältigkeit.
Das schreibt das Museum Wiesbaden zu seiner Ausstellung, von der es auch im Digitalen einiges zu sehen gibt. Neben der Museumswebsite gibt es auch eine wirklich gute Seite der Freunde des Museum Wiesbaden, wo man ein schönes Interview mit dem Kurator findet. Auch ohne Farbe paradiesisch.
Von sich selbst sagt das Museumteam, dass die digitalen Aktivitäten für sie noch Neuland sind, doch hatten sie sich mit Anke von Heyl gestern eine souveräne Moderatorin, digitale Dompteuse und Kunstfachfrau zur Seite geholt. Daher war das alles eine runde Sache und machte offenkundig allen Lust auf mehr.
Das Interesse ist groß: Nur drei Tage lang war die Ausstellung vor Ort zu sehen, bevor das Museum coronabedingt seine Räume für Besucher:innen schließen musste. An diesen drei Tagen waren mehr als tausend Menschen dort. An der Online-Führung gestern nahmen zweitweise über 900 Menschen teil, darunter auch viele, die die Ausstellung vor Ort schon aus Gründen der Entfernung vielleicht gar nicht hätten besuchen können.
Die Online-Führung indes könnte ich mir gut auch als dialogisches Format vorstellen. Der Kurator wirkte insbesondere zu Anfang etwas alleingelassen in den Räumen der Ausstellung. In eine Kamera zu sprechen ist nicht ohne, wenn man das nicht gewöhnt ist. Ein menschliches Gegenüber oder jemand, der oder die ihn (mit Abstand) begleitet, könnte dem Ganzen gut tun. Aber unter den gegenwärtigen Bedingungen war das einladend und gut. Momentan ist aus Rechtegründen noch nicht ganz klar, ob die Online-Führung dauerhaft zu sehen sein wird. Hier gibt es aber den Trailer, der an sich schon eine kleine Fürhung durch die Ausstellung ist.
Ich erfuhr auch, dass das Musuem Wiesbaden nicht nur eine Kunstsammlung hat, sondern eine Naturhistorische Sammlung. Das macht mich gleich noch ein wenig neugieriger auf einen Besuch in der Zukunft. Zumal manche Ausstellungen dann zusammen geplant werden. (Liest man in die Geschichte des Museums rein, taucht natürlich wie Kai aus der Kiste Goethe auf. Natürlich.)
Die Sehnsucht nach Kunst ist groß.
Denn die spüre ich gerade, immer dann, wenn ich im Stadtraum die Plakate aktueller Ausstellungen sehe: Andy Warhol, Art Déco und Max Beckmann grüßen von den fast weißen, weil leeren Litfaßsäulen. Museen, Künstler:innen, plakatiert mit Kunst die Litfaßsäulen Eurer Städte! Es tut so gut, Kunst im öffentlichen Raum zu begegnen.
Nochmal zu August Macke: Der Name fiel schon früher, denn Michael Stacheder, Theaterregisseur, ein sehr geschätzter Nachbar in meinem digitalen Dorf, befasst sich seit einer Weile mit Maria und Franz Marc. Auch hier bin ich froh, dass er darüber spricht und darüber schreibt, denn auch der digitale öffentliche Raum bedarf unbedingt der Kunst und der Literatur. Blauer Reiter. Mit der Brücke eine der bedeutendsten Künstlergruppen der Klassischen Moderne.
August Macke beteiligte sich an den Ausstellungen des Blauen Reiter und, so hörte ich es gestern, ist Franz Marc ohne August Macke eigentlich kaum denkbar. Paradies, für Franz Marc, nur denkbar ohne den Menschen, während für August Macke das Paradies mit dem Menschen darin malte. Ich weiß: Ich möchte mehr darüber erfahren.
Der blaue Reiter ist gefallen, ein Großbiblischer, an dem der Duft Edens hing. Über die Landschaft warf er einen blauen Schatten. Er war der, welcher die Tiere noch reden hörte; und er verklärte ihre unverstandenen Seelen. Immer erinnerte mich der blaue Reiter aus dem Kriege daran: es genügt nicht alleine, zu den Menschen gütig zu sein und was du namentlich an den Pferden, da sie unbeschreiblich auf dem Schlachtfeld leiden müssen, gutes tust, tust du mir.
Er ist gefallen. Seinen Riesenkörper tragen große Engel zu Gott, der hält seine blaue Seele, eine leuchtende Fahne, in seiner Hand. Ich denke an eine Geschichte im Talmud, die mir ein Priester erzählte: wie Gott mit den Menschen vor dem zerstörten Tempel stand und weinte. Denn wo der blaue Reiter ging, schenkte er Himmel. So viele Vögel fliegen durch die Nacht, sie können noch Wind und Atem spielen, aber wir wissen nichts mehr hier unten davon, wir können uns nur noch zerhacken oder gleichgültig aneinander vorbeigehen. In dieser Nüchternheit erhebt sich drohend eine unermeßliche Blutmühle, und wir Völker alle werden bald zermahlen sein. Schreiten immerfort über wartende Erde. Der blaue Reiter ist angelangt; er war noch zu jung zu sterben. (Else Lasker-Schüler)
Nachdem ich vor einer Weile einen der Texte von Michael über Maria Marc las, kramte ich das Buch mit dem privaten Briefwechsel zwischen Else Lasker-Schüler und Franz Marc hervor, las in den Briefen, in denen auch von Maria Marc die Rede ist. Mein lieber, wundervoller blauer Reiter. Ich griff nach dem Buch mit den Gedichten von Else Lasker-Schüler. Ich liebe ihre Gedichte sehr. Sie gaben mir vor Jahren eine Sprache, öffneten mir die Tür (nicht nur) zur Lyrik. Blätterte. Las wieder einmal ihren Nachruf auf Franz Marc. Er starb 1916, im Alter von 36 Jahren, auch in diesem fürchterlichen Krieg, auch unweit von Verdun. Was für ein Verlust.
Die Sehnsucht nach Begegnungen ist groß.
Nach solchen Gesprächen, auch Gesprächen über Sätze. Glücklicherweise haben ein Freund und Nachbar und ich seit einer Weile einen Podcast, in dem wir auch über Kunst und Lesen und Lyrik sprechen. Oder über Hosentaschen. Oder Regen. Gestern traf ich Menschen auf der Straße, freunschaftlich verbundene Nachbarn. Wir sprachen miteinander. Mich wühlte das regelrecht auf, weil ich dieser Tage nur so selten mit Menschen spreche, einfach so.
Doch nun streife ich noch ein wenig durch August Mackes Bilder. Die Farben. Das Leuchten. Während draußen der Regen fällt und schon ein wenig nach dem frühen rheinländischen Frühling duftet.
Und für Euch lasse ich ein wenig Else, Maria und Franz da.