Ich trete vor die Tür.
Schlagartig wird mir bewusst, dass es ein Dienstag Anfang Mai ist. Mai! Seit nunmehr sechs Wochen arbeitet der Mann im Homeoffice. Eine friedliche Heimbürogemeinschaft. Auch mal ganz schön, wenn jemand nebenan im Zimmer vor sich hinkramt. Mittags schmeiße ich die Heimbürokantine – gut für die Nerven, einmal am Tag zu kochen und uns gleichzeitig damit etwas Gutes zu tun.
Ansonsten ist meine Stimmung eher mau. Ich habe den Bezug zu Zeit und Raum verloren. Mai? Mai. Nebenbei drücken die verdrängten Existenzsorgen wieder schwerer aufs Gemüt. Vieles, was in den letzten Jahren ein wesentlicher Teil meiner Arbeit war, wird schlicht auf absehbare Zeit nicht möglich sein, zumindest nicht in der Form, die mir immer am sinnvollsten erschien: Vor Ort und fürs Digitale sehr nicht-digital mit den Händen zu denken. Vielleicht ist es mal wieder Zeit für eine berufliche Häutung?
Raus ins Grüne, das hilft.
In den letzten Tagen wanderten wir so einiges ab: Die #CoronaWanderreisen führten uns wieder in benachbarte Stadtteile und auf den Kölnpfad. Mit dem Rad ging es eine Runde in den Süden Kölns. Aber immer noch alles in der Nähe, immer noch Kontakte vermeidend, immer noch im Sinne von #stayhome. Denn das Gefühl von Normalität ist trügerisch. Ich gehe meinen Gang ins Heimbüro und es fühlt sich unwirklich an.
Mit der Öffnung der Geschäfte und der Rückkehr vieler in ihre Büros sind wieder mehr Menschen auf der Straße. Auch der motorisierte Verkehr hat deutlich zugenommen. Sieht man von wenigen ab, die Maske tragen, ob über Mund und Nase oder unterm Kinn klebend, ließe ein flüchtiger Blick nicht darauf schließen, dass wir noch inmitten einer Pandemie sind. Die Lockerungsübungen haben offenbar nur dazu geführt, dass nun aber auch immer mehr wieder tun wollen, was andere schon dürfen: öffnen, dem gewohnten Betrieb nachgehen. Ob im Sport, ja, oder in der Familie. Da versteht man nicht, warum ich meiner Frau Mutter in dieser Zeit lieber fernbleibe. Nach den Gründen fragt aber niemand, tja. Wer nicht fragt, dem kann man nicht helfen.
Lockerungen, ja, auch in mir ambivalente Gefühle: Jeder Supermarktbesuch endet in Schweiß und Stress, vor den Möbelmärkten drängen sich die Leute, aber mit dem Zelt in die frische Luft darf man nicht. Über allem dräut ohnehin die Ahnung, vielleicht auch einfach die Angst, dass die aktuelle Situation böse schiefgehen könnte.
Im Viertel ist was los
Mit diesen Gedanken lenke ich meine Schritte auf den Weg durchs Agnesviertel. Am Anleger ist was los: Die Wasserschutzpolizei inspiziert etwas daran. Die Polizistin mit knatschgelber Rettungsweste operiert am Anleger herum. Das Dorfkind in mir ist stark. Ich kann mich gerade noch zurückhalten, rüberzurufen, zu fragen, was denn los sei.
Am Rheinufer lege ich eine Pause vom Gang ins Heimbüro ein, um dem #GoetheMoMa, dem Morgenmagazin mit dem Goethemuseum beizuwohnen. Dazu schrieb ich kürzlich hier was. Nach einer kurzen gedanklichen Reise in das Land, wo die Zitronen blüh’n und zur Wortmagie der Romantik ziehe ich weiter. Es mag nicht das beste Jahr für die Menschen sein, aber für die Gänseblümchen scheint es gut zu sein. Selten sah ich in einem Frühling so viele Gänseblümchen, die in großen Herden auf Wiesen und an Wegesrändern zusammenstehen und ihre freundlichen kleinen Gesichter zur Sonne hin aufklappen.
Anki hat Geburtstag.
Die Kreidezeit verrät es. Alles Gute unbekannterweise! Außerdem scheinen Außerirdische unter uns zu sein, die geheimnisvolle Zeichen auf den Wegplatten hinterlassen.
Die Plakate haben sich verändert. Zwar hängen immer noch viele Plakate aus einer anderen Zeit in der Stadt, manche Litfaßsäule wird immer weißer, doch es tauchen auch neue auf: Das Schauspiel Köln wibrt mit DRAMAZON PRIME für Podcast und Streaming. Sommerblut, das Festival für Multipolarkultur, hat sich so einiges für den digitalen Theaterraum überlegt. Ich werde mir das ansehen.
Miau?
Ich erreiche die Haustür, kein Miau mehr, sie öffnet sich klaglos. Angekommen in der Wohnung eröffnet der Mann die Perspektive auf frische Reibekuchen bei Reibekuchen Heinz auf dem dienstäglichen Markt. Das sind doch gute Aussichten. Immerhin eine Konstante. Der Gang ins Heimbüro hat die schwermütigen Gedanken überdies wieder leichter gemacht.
Mir kam vorhin Else Lasker-Schüler in den Sinn und ich teile ein sehr gemochtes Gedicht von ihr mit Euch:
Weltschmerz
Ich, der brennende Wüstenwind,
Erkaltete und nahm Gestalt an.
Wo ist die Sonne, die mich auflösen kann,
Oder der Blitz, der mich zerschmettern kann!
Blick nun, ein steinernes Sphinxhaupt,
Zürnend zu allen Himmeln auf.